Die Seelöcher
An der Mittagsseite des Harzgebirges, in der Grafschaft Hohnstein, giebt es eine Menge von Erdfällen. Die beiden größten sind beim Dorfe Haffrungen auf einer beträchtlichen Anhöhe dicht bei einander. Sie heißen: die Seelöcher, haben eine steile mit Rasen bewachsene Abdachung, und sind unten mit tiefem klaren Wasser angefüllt. Der Umfang des größeren mag wohl 600 Schritt betragen. Beide liefern Fische und Krebse in großer Menge, und sind mit einer Pflanze bewachsen, deren Blätter die Größe und Form eines Pferdehufs haben, welche an langen strickförmigen, fingerdicken Stielen aus der Tiefe heraufwachsen und auf dem Wasser schwimmen. Die Blume ist weiß oder gelb, und hat viel Aehnlichkeit mit gefüllten Tulpen.
Von allen Erdfällen der Gegend ist kein einziger bei Menschen Gedenken entstanden. Da es nun auch aus ihrer Entstehungsperiode keine Nachrichten darüber giebt, so erzählt man sich Legenden über ihren Ursprung, welche den Mangel an Urkunden ersetzen sollen. Von den Haffrung’schen Seelöchern giebt es folgende:
An dem Orte, wo sie jetzt sind, weideten immer zwei Bauerjungen ihre Pferde. Gegen Abend setzten sie sich gewöhnlich vertraulich beisammen, ihr Abendbrot zu essen, und zu kosen. Einst, als das auch geschah, bemerkte der eine, daß der andere viel weißeres und besseres Brot habe, als er. Er bat, ihm etwas davon mitzutheilen. Jener weigerte sich aber, und sagte:
„Nein, kriegst nichts, ess’ selber gern!“
Darüber wurde dieser sehr erbittert, aß nicht mehr, sondern nahm sein Stück schwarzes Brot, band es an eine Weide, und hieb mit der Peitsche so lange darnach, bis es allmählich in kleinen Krumen auf die Erde gefallen war.
Während dem hatten sich am Horizonte dicke finstere Wolken aufgethürmt. Es blitzte und donnerte, und mit großer Schnelle wälzte sich das heftigste Gewitter herauf und nach der Gegend hin, wo die Knaben waren. Ein alter Mann, der vorüberging, rief ihnen zu, daß sie nach Haus gehen möchten, das Gewitter sey ein sehr schweres. Da koppelte der eine Knabe auch sehr schnell seine Pferde zusammen, schwang sich darauf, und jagte dem Dörfchen zu. Der andere, der Verächter des schwarzen Brotes, wollte es auch thun, konnte aber, so sehr er sich auch tummelte, mit dem Aufzäumen seiner Pferde gar nicht fertig werden. Als er’s endlich war, und sich nun aufsetzen wollte, da entfiel ihm bald ein Schuh, bald die Peitsche, oder der Wind nahm ihm den Hut vom Kopfe, kurz, immer neue Hindernisse hielten ihn auf, und er kam nicht von der Stelle. Donner und Blitz krachte und leuchtete indessen fürchterlich zischend dicht um ihn her. Er zitterte und bebte. Jetzt hatte er endlich alles wieder beisammen, saß auf, und wollte nun im vollen Gallop davon jagen, da fuhr ein Blitz in einem zweifachen Strahle, von einem schrecklichen Donner begleitet, herab, und schlug den Knaben in den einen und die Pferde in den andern Abgrund.
So entstanden diese beiden Seelöcher, und seitdem schwimmen auf beiden in den Pflanzenblättern die Hufe der erschlagenen Pferde herum.
Sollte nicht in dieser Legende das Wahre liegen, daß diese beiden Erdfälle bei einem starken Gewitter und einer vielleicht damit verknüpft gewesenen heftigen Erschütterung der Erde entstanden sind?
Die Unzufriedenheit mit dem, was da ist, und die Geringschätzung der schlechten Nahrungsmittel ist aber auch ein bedeutender Umstand, und weist vielleicht darauf hin, daß die Einwohner der Gegend ihr dürftiges Loos oder ihren eben nicht ergiebigen Boden verachtet hatten.
Behrens Hercynia curiosa S. 85, und mit ihm Büsching S. 317, erzählen dieß Mährchen etwas anders. Die hier gegebene Erzählung ist aus den Halberstädter gemeinnützigen Blättern 1785.