Die Singtyrannen der Gegenwart
„Wo man singt, da laß dich ruhig nieder!“ – heißt der Anfang eines ebenso alten wie schönen, aber auf die Gegenwart nur mit größter Vorsicht anzuwendenden Sprüchworts. Wie kann man sich da ruhig niederlassen, wo Jemand mit kolossalem Aufwande von Athem, mit aus den Höhlen quellenden Augen und anschwellenden Adern Attentate auf das Trommelfell seiner Zuhörer verübt, welche der gemeine Menschenverstand mit „Singen“ zu bezeichnen pflegt?! Nun giebt es zwar unleugbar Stimmen, welche schon von der Natur mit einem reichen Tonumfang ausgerüstet sind und einer soeben beschriebenen besonderen Erregung der Tonerzeugungsorgane zur geeigneten Wirkung nicht bedürfen. Aber sie bilden heutzutage die bedeutende Minderheit unter den sogenannten starken Stimmen, da geistreiche Gesanglehrer Mittel gefunden haben, jede Stimme, wenn solche auch von Natur klein, durch gewaltsames Hinaufschrauben der einzelnen Register über deren natürliche Grenzen zu einer sogenannten „starken“ heranzubilden; denn „stark“ muß die Stimme sein; das ist im Gebiete des Gesanges die Losung unserer Zeit.
Die menschliche Gesellschaft bemühte sich von jeher, allem Gemeinschädlichen nachzuforschen und, wenn möglich, Abhülfe eintreten zu lassen. Vereine geselliger oder fachmännischer Natur schossen stets wie Pilze aus der Erde. Zur Abwechselung gedachte man auch des lieben Viehes, und damit dasselbe nicht ganz auf den Hund komme, gründete man Schutzvereine gegen Thierquälerei. Oeffentliche Blätter gingen mit diesen letzteren Bestrebungen Hand in Hand. Wer von den Lesern dieses Blattes würde sich beispielsweise nicht mit rührender Wehmuth der bildlich dargestellten zusammengekoppelten Ochsen beim Transport auf der Eisenbahn entsinnen?! Auch Sanitätspflege hat besonders in der „Gartenlaube“ von hervorragend kundiger Seite reiche Beachtung gefunden. Ebenso aber, wie bis jetzt noch nicht ein Verein gegen Vergewaltigung menschlicher Organe (vulgo Menschenquälerei) sich bemerkbar machte, so hat, meines Wissens, auch noch kein öffentliches Blatt sich der so oft auf grausame Weise mißhandelten Singorgane des Menschen angenommen. Das große Publicum kümmert sich nicht darum, auf welche oft fast unmenschliche Art ihm die vielbegehrte starke Stimme zurecht gestutzt wird – es applaudirt bei jedem möglichst herausgeschrieenen Tone aus Leibeskräften und spricht überhaupt gelegentlich nicht von einem schönen Gesange, wie das sonst üblich war und wie solches dem innersten Wesen der Kunst entspräche, sondern nur von der starken Stimme dieses und jenes Sängers. (Eigentlich sollte man demnach in solchem Falle überhaupt gar nicht mehr das Wort „Gesang“ in Mitleidenschaft ziehen, sondern die Sänger einfach in Lungeninhaber mit stärkerer oder schwächerer Explosionsfähigkeit eintheilen.)
Die Kunstkritik eifert im Ganzen wenig gegen das überhandnehmende Loslegen gewisser Sänger, besonders im Theater, ja sie verlangt sogar in nicht seltenen Fällen zur Ausführung des colorirten (das heißt verzierten) Gesanges einen ebenso vollen Gesangston, wie solcher nur für den getragenen Gesang sich eignet: als ob sich eine Kegelkugel mit derselben Leichtigkeit, wie ein Federball dirigiren ließe.
Die Capellmeister der meisten Theater lassen die Sache gehen, wie sie eben geht; brauchen sie doch für die Ausführung vieler Opern Stimmen, die ihren Platz überhaupt nur musikalisch auszufüllen haben und denen so viel Kraft innewohnt, um durch die in der Regel massige Instrumentation durchzudringen. Die eigentliche Pflege des Kunstgesanges hat sich sonach im Allgemeinen in den Concertsaal geflüchtet und existirt dort in aristokratischer Abgeschlossenheit. Eine Jenny Lind, Henriette Sontag, Marie von Marra, ein Roger, Stockhausen und viele Andere entzückten die Welt, trotz nicht hervorragend starker Stimme, theils durch den sinnlich bestrickenden Zauber ihres schönen Gesangstones, theils durch die unnachahmliche Grazie ihres seelisch bewegten Vortrags.
Betrafen nun diese Betrachtungen mehr die ästhetische Seite des Vorhandenseins starker und künstlich stark gemachter Stimmen, so mag das Folgende die hieraus entstandenen Auswüchse und das sich wiederum aus dem Vorhandensein der letzteren ergebende Gemeingefährliche für denjenigen Theil der menschlichen Gesellschaft, welcher sich überhaupt mit der Gesangskunst beschäftigt, darstellen. Zunächst tragen die mit natürlich starken Stimmen begabten und in der Oeffentlichkeit wirkenden Sänger die unbewußte Schuld an dem in Mode gekommenen unnatürlichen Hange, um jeden Preis eine starke Stimme zu erzielen; man will ihnen eben, so viel wie irgend möglich, nachahmen.
Eine große Anzahl von Leuten, welche nicht einmal annähernd einen Begriff von der Behandlung der zarten Stimmorgane des Menschen hat, ist der Meinung, daß, wer ein wenig Clavier klimpert, die Geige zum Tanze streicht oder zur Noth einen Choral auf der Orgel spielen kann, dadurch befähigt genug sei, Gesangunterricht zu ertheilen. Diese Sorte von Singtyrannen giebt nun niemals Pardon, wenn sie eine menschliche Stimme in ihre Gewalt bekommt. Ein junges frisches Mädchen, deren Stimme nach Eintritt der Pubertät, gleich einem jungen Kinde, erst, so zu sagen, das Licht der Welt erblickte, muß alle Uebungen, welche der Singtyrann für nothwendig hält, vor allen Dingen mit starkem Tone ausführen, damit die Stimme, einer beliebten Redensart dieser Species zufolge, „herauskommt“.
Daß eine junge Stimme, gleich einem jungen Kinde, mit höchster Zartheit zu behandeln ist, wird von dem Singtyrannen gänzlich außer Acht gelassen. Rücksichten auf die einzelnen Stimmregister (das sind hörbare Einschnitte in der Stimme, die etwa mit den sichtbaren Gelenken der Finger zu vergleichen wären), welche, je nach ihrer Lage, mit mehr oder weniger Athem, oder mit einer dem Tone je nachdem zu gebenden verschiedenen Richtung zu behandeln wären, kennt der Singtyrann nicht. Wozu auch? er wünscht ja nur, daß der Ton so klinge, wie er ihn auf dem Instrumente angiebt, und seine Unersättlichkeit erstreckt sich höchstens auf die Stärke desselben, welche ihm nie genügt. Zu welchen Mitteln der Schüler greift, um diese seine Begierde zu stillen, ist dem Singtyrannen ganz gleich.
Das junge Mädchen klagt über Drücken im Halse, über Brustschmerz, wenn es ein Weilchen gesungen hat; das Zäpfchen erscheint nachgerade purpurrot in Folge der übernatürlichen Anstrengungen – Alles vergebens: „Sie müssen sich gewöhnen, meine Liebe,“ so beschwichtigt der Singtyrann das junge Mädchen. Das junge Mädchen gehorcht; es singt (vulgo schreit) mit angespanntester Anstrengung der Lungen nach dem Befehle des Singtyrannen, denn die Eltern finden ja auch, daß die Stimme schon hübsch stark klingt, und – der Herr Cantor ist doch ein großer Musikus, der Sonntags in der Kirche so schön die Orgel spielt; er muß das also verstehen.
Es treten aber bereits Symptome bei dem jungen Mädchen ein, welche die Befragung des Arztes nöthig machen. Der Arzt setzt den Kehlkopfspiegel an. Er findet die Stimmbänder in Folge der heftigen Singarbeit maßlos überangestrengt und ausgeweitet, [871] den Kehlkopf entzündet, die Lungen stark angegriffen. Er läßt dem Singen sofort Einhalt thun, aber vielleicht in einzelnen Fällen zu spät, denn die betreffenden Organe sind in einem Grade afficirt, daß, wenn nicht gar ein Siechthum eintritt, eine jahrelange Ruhe und unter Umständen gänzliches Aufhören des Singens eintreten muß. Es ist nur zu beklagen, daß diese Singtyrannen nicht den Egoismus besitzen, derartige Herculessingarbeit mit fünfzig Pferdekraft zuerst an sich auszuprobiren. –
Eine andere Gattung von Singtyrannen präsentirt sich in Gestalt jüngerer Damen, welche die Gesangskunst durch Entnahme von zehn bis zwölf Stunden bei einem, wie natürlich, berühmten Lehrer an sich bringen und nun beispielsweise unter der Firma „Fräulein N N, Schülerin des berühmten Gesanglehrers N N“, ein eigenes Gesangunterrichtsertheilungsgeschäft in Scene setzen. In der Regel beginnt Fräulein N N damit, auf zeitungsinseratem Wege eine „soeben freigewordene Stunde“ um den billigen Preis von fünfzig Pfennigen wieder besetzen zu wollen. Da sie ihren Lehrer bei der Kürze der Lehrzeit und sehr oft ohne genügende Basis für den empfangenen Unterricht theils falsch, theils gar nicht verstanden hat, so sucht sie ihr erstes Debut dadurch günstig zu gestalten, daß ihre Schülerin zum allgemeinen Staunen schon beim nächsten großen Familienkaffee das hinlänglich eingepaukte Lied von Mendelssohn: „Leise zieht durch mein Gemüth“ mit dem üblichen Fortezug (wahrscheinlich um das „leise“ zu charakterisiren) stimmlich von sich giebt. Der Gesang ist zwar falsch und unrein, die Textaussprache incorrect und undeutlich, – – „aber die Stimme! – nein, diese Stimme, ist die in der kurzen Zeit stark geworden!“ – so tönt es aus Aller Munde. (In der That! Wozu Mutter Natur bei ruhigem Wachsen der Stimme zwei bis drei Jahre gebraucht hätte, das hat Fräulein N N in sechs Wochen zu Stande gebracht. Die Stimme hat zwar den jugendlichen Schmelz und den sinnlich reizvollen Klang eingebüßt, gleichwie der Schmetterling, dem man die Farbe vom Flügel wischt, zwar immer noch ein Schmetterling bleibt, aber seinen eigentlichen Reiz verloren hat, aber sie ist doch stark – das ist die Hauptsache. Und was gehörte dazu? Nur ein energisches Bestreben von Seiten der hochbegabten Lehrerin, jeden Ton mit höchstem Athemaufwand, mit gewaltigem Druck des Kehlkopfes singen, d. h. schreien oder quetschen zu lassen – sonst nichts.) Das Lied ist zu Ende. Die junge Sängerin wird allgemein umhalst, geküßt und beglückwünscht. Fräulein N N schraubt ihr Gesangunterrichtsertheilungshonorar in Folge dieses kolossalen Erfolges bis auf fünfundsiebenzig Pfennige. Die junge Schülerin munkelt zwar nach und nach immer mehr von Hals- und Brustschmerz etc. nach dem Singen, was aber in der Regel von der Lehrerin mit „ach, dummes Zeug!“ beantwortet wird und so lange fortgeht, bis der Arzt sein „bis hierher und nicht weiter!“ ausspricht.
Eine dritte Kategorie absoluter Stimmenverstärker oder Singtyrannen, welche unter Umständen sogar eine respectable Gesangsbildung erhalten hat, geht von dem Grundsatze aus, daß jede Stimme, von unten bis oben, einen egal-starken Ton produciren müsse. Wie falsch dieser Grundsatz ist, beweist hinlänglich die Thatsache, daß, wenn man ruhig gehaltene Töne in Absätzen mit egalem Athemverbrauch und in egaler Ansprache, ohne zu forciren, von unten aufwärts in Secundenschritten angiebt, die tiefere Lage der Stimme sich stets in einer gewissen Tonbreite und Fülle ergeht. Je mehr man nach der Höhe zu kommt, verliert sich diese Breite und macht dafür einer gewissen Tonhelle Platz, welche den Klang mehr und mehr dünner und lichter erscheinen läßt. Daß dies ein tief aus dem innersten Wesen des musikalischen Tones entsprungenes Resultat und als solches seit Jahrhunderten anerkannt ist, beweist die Thatsache, daß kein Streichinstrument, kein Pianoforte mit egalen Saiten bezogen ist, daß keine Flöte, Oboe, Clarinette etc. und kein Blechinstrument, möge es einen Namen tragen, welchen es wolle, so construirt ist, daß es möglich wäre, auf demselben von der untern bis zur obern Tonlage egal-starke Töne produciren zu können. Von einem leicht ansprechenden Tone der Mittellage aus nimmt nun die Minirarbeit ihren Anfang. Im Ganzen waltet hier bis zu einem gewissen Punkte mehr Vorsicht, als in den früher erwähnten Fällen. Man steigt vermittelst kleiner Uebungen in halben Stufen nach der Höhe, später auch nach unten zu, natürlich immer mit voller Stimme. Endlich hat der Schüler einen Punkt in der Höhe erstiegen, von welchem ab das Hinaufdrängen, auch selbst eines halben Tones, nur noch mit größter Gewalt seinerseits geschehen kann. Die Töne schlagen um; die Stimmbänder wirken nur noch mit größtem Athemaufwand; der Schüler verzagt, nur der muthige Lehrer nicht, denn er hat ja Nichts zu riskiren. Endlich kommt der Schüler an den Punkt, wo nach Ausspruch eines bekannten Hofcapellmeisters „die Stimme biegen oder brechen muß“, oder wo eine sehr bekannte einstmalige Hamburger Gesanglehrerin ihrer Schülerin zurief: „Halten Sie sich an dem Tische und schreien Sie den hohen Ton mit Gewalt heraus, denn wir müssen ihn stark haben.“ Die Folge einer solchen Methode ist im günstigsten Falle, wenn nämlich die Stimme während des Studiums überhaupt aushält, ein kurzes Aufleuchten und ein baldiges Abnehmen der Stimmmittel.
Die Früchte dieser letzteren Species sind leider nur zu häufig an den deutschen Theatern vertreten und bieten dem kunstverständigen Beobachter hinlänglich Gelegenheit, den widernatürlich geschraubten Gesangston (besonders in der Höhe) vernehmen zu können. Von einem natürlichen Wachsthum der Stimmmittel, wie sich solches überhaupt bei normal gebildeten Stimmen bis in die Mitte der dreißiger Jahre eines Menschen beobachten läßt, ist bei ihnen keine Rede. Der Lehrer hat bereits, gleichwie bei einer Citrone, Alles herausgepreßt, was an Saft und Kraft in der Stimme keimte; dieselbe kommt demnach fix und fertig als Treibhauspflanze aus dem Atelier des Lehrers hervor und hat nur eine Zukunft: die des allmählichen Hinschwindens. Die dehnbaren Organe eines jungen Menschen fügen sich willig so mancher Ungeheuerlichkeit in der Behandlung, und eine solche liegt in der oben geschilderten Methode. Ist aber das Jünglingsalter überschritten, fängt der Körper an, an seiner Elasticität einzubüßen, so rächt sich die Natur durch schnellen Rückgang der forcirten Organe zur Schlaffheit und Unwirksamkeit. Wird auch die Gesundheit der so Behandelten in der Regel seltener gefährdet, als in den früher vorgeführten beiden Fällen, so werden dadurch doch zweifelsohne unzählige Hoffnungen, welche durch regen Fleiß und edles Streben zu Tage treten, vernichtet.
Ein junger Mensch (männlichen oder weiblichen Geschlechts), der sich beispielsweise der Oper widmet, hat nach vorhergegangenem Gesangsstudium einige Lehrjahre am Theater selbst erst durchzumachen, ehe man bei ihm von künstlerischen Leistungen sprechen kann. Sind diese Jahre nun überstanden, steht der junge Sänger nun nicht mehr unter, sondern über seiner Aufgabe und tragen seine Leistungen künstlerisches Gepräge – welche Errungenschaften sich kaum vor Beginn der dreißiger Jahre geltend machen können – so würde ihm vielleicht eine glänzende Zukunft bevorstehen, wenn nicht die Natur käme und ihren Tribut auf eine grausame Weise durch schnelles Sinken der Stimmmittel einforderte.
Auf die nun vollständig gerechtfertigte Frage des geehrten Lesers: „Wie soll den aber eigentlich der Gesangsunterricht gehandhabt werden, um eine Stimme zu bewahren und um keine gesundheitsgefährlichen Symptome an den betreffenden Singorganen des menschlichen Körpers aufkommen zu lassen, und auf welche Basis haben sich Eltern, Vormünder und Gesangsschüler zu stellen, um sich ein wenigstens annähernd richtiges Urtheil über den betreffenden Unterricht zu bilden?“ – diene Folgendes als Antwort, welches freilich, der Tendenz dieses Blattes gemäß, nur kurz und in allgemeinen Umrissen – gleichsam als eine Art Präservativ gegen falsche und gesundheitsgefährliche Behandlung der Stimmorgane – gehalten sein kann.
Die Grundregel eines guten Gesangsunterrichtes ist, daß der Gesangston sich vor Allem aus dem Sprechton entwickele, und daß, ebenso wie jeder Mensch das Wort nicht hinten im Gaumen bildet, sondern vorn auf den Lippen entstehen läßt, auch der Gesangston von hier (von den Lippen) seinen Ausgangspunkt zu nehmen hat. Es ist daher gut, wenn man den Schüler, ehe er zum eigentlichen Gesangston übergeht, Silben in einer bestimmten Tonhöhe kurz abgebrochen sprechen läßt. Wenn dann der Sington, gleichsam als die Verlängerung einer solchen Silbe, sich aus derselben heraus entwickelt, so wird er keine falsche Richtung nehmen und die inneren Singorgane in keiner Weise schädigen. Man bemühe sich ferner, dem Gesicht beim Singen seinen natürlichen Ausdruck zu erhalten und die inneren Theile des Mundes mit der Zunge nur in schlaffer Haltung zu verwenden.
[872] Weicht man von diesen Hauptregeln nicht ab, so wird alles Gesundheitsgefährliche von selbst schwinden. Vor Allem ist es ferner nothwendig, daß der Schüler die ersten Gesangsübungen mit wenig Stimme mache und daß er dann erst sehr allmählich zu kleineren Steigerungen der Stärkegrade übergehe. Das wirklich starke Einsetzen des Tones, welches nach dem Vorhergegangenen nun auch hin und wieder studirt werden muß, darf dem Schüler weder Unbequemlichkeiten, noch gar Schmerzen im Halse oder dergleichen verursachen, sonst liegt hier der Beweis vor, daß man von dem oben bezeichneten Wege abgewichen ist.
Viel gesündigt wird in den Gesangsclassen der Schulen gegen aufkeimende Stimmen und nicht blos dadurch, daß der Lehrer, der nur in seltenen Fällen gesangstechnisch gebildet, oft nicht im Klaren darüber ist, was er seinen Zöglingen überhaupt zumuthen darf, sondern auch dadurch, daß er sich zu selten über die augenblickliche Verfassung dieser jungen Stimmen unterrichtet. Junge Mädchen oder Knaben, in der Zeit des Ueberganges zur Pubertät, also etwa zwischen dem dreizehnten und sechszehnten Lebensjahre, sollten mindestens alle vier bis sechs Wochen einzeln stimmlich geprüft werden. Man nehme Töne aus der bequemen Mittellage und lasse sie ruhig aushalten. Macht sich ein Schwanken oder Zittern des Tones gegen früher bemerkbar, so ist der oder die Betreffende sofort aus dem Unterrichte zu entlassen.
Eigentlich wäre es Sache des Staates, in den Schulen nur wirklich gebildeten Singlehrern den Unterricht zu übergeben, ebenso wie der Staat es sich zur Aufgabe machen müßte, eigentliche Singschulen für den Kunstgesang zu gründen, in welchen wie bei den Alt-Italienern eine bestimmte, gleichartige Behandlung der Singstimme auf naturgemäßer Basis eingeführt und von hier aus auf den Privatunterricht verpflanzt würde.[1]
Wenn ich nun meine Skizze mit der Versicherung schließe, dem geehrten Leser nur Bilder vorgeführt zu haben, welche sich mir in meiner eigenen längeren Gesangslehrerpraxis darstellten, und außerdem ausdrücklich bemerke, daß ich hier keineswegs mit zu grellen Farben gemalt, so darf ich wohl hoffen, daß derselbe die Defensive bei Gelegenheit auch da ergreife, wo ich die Offensive ergriffen, nämlich im Kampfe gegen die „Singtyrannen der Gegenwart“.
Dresden.
- ↑ Derartige Bestrebungen sollen, wie versichert wird, im preußischen Cultusministerium Erwägung gefunden und Aussicht auf Verwirklichung haben.