Die Steppe

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Autor: Wilhelm von Hamm
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Titel: Wanderungen im südlichen Rußland 2. Die Steppe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11–12, S. 158–160, 174–176
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Wanderungen im südlichen Rußland.

Von Dr. Wilhelm Hamm.
2. Die Steppe.

Sie dehnt sich aus von Meer zu Meere;
Wer sie durchritten hat, dem graust.
Sie liegt vor Gott in ihrer Leere,
Wie eine leere Bettlerfaust.
Die Ströme, die sie jach durchrinnen,
Die ausgefahrnen Gleise, drinnen
Des Colonisten Rad sich wand;
Die Spur, in der die Büffel traben,
Das sind, vom Himmel selbst gegraben,
Die Furchen dieser Riesenhand.

Wenige Minuten vor Thorschluß war es, als unser Reisewagen an der Chersoner Tamoschna, dem nordöstlichen Thore der Stadt Odessa, hielt. Bekanntlich hat dieselbe zur Zeit noch einen Freihafen, es darf demnach Niemand die Stadt verlassen, ohne sich einer Visitation nach zollpflichtigen Gegenständen unterworfen zu haben, und Punkt acht Uhr des Abends im Sommer fällt der Schlagbaum, der jeden Ausgang überhaupt verbietet, es sei denn in Kronangelegenheiten oder mit einer Specialerlaubniß des Gouverneurs. Wir ergaben uns gehorsam der Untersuchung, die Koffer, welche unter dem Schutz des leibeignen Dieners Ilia in einem besondern offenen Wagen, einem der berüchtigten Perekladnoi, folgten, mußten geöffnet, der Paß und Passagierschein vorgewiesen werden – Alles dies ging rasch und zu völliger Zufriedenstellung beider Theile vor sich. Wir hatten vier Postpferde vor einem trefflichen Brougham aus dem berühmtesten Pariser Atelier von Bender, die Postillone kannten den Edelmann, welchen ich begleitete, und seine Trinkgelder sehr gut, und so hatten wir über die Beförderung keineswegs zu klagen. Auf allen Poststationen waren die Pferde im Augenblick bereit, und geschont wurden sie nirgends. Es war eine wunderschöne Julinacht; unvergeßlich ist mir insbesondere eine Strecke vor der ersten Station Staraja Dosinofka, wo wir so dicht am Ufer des brandenden Meeres hinfuhren, daß die Wellen bis unter die Räder spülten.

Die ersten Strahlen der Morgensonne beleuchteten eine weite, von Hügeln durchwellte Ebene, welche schon den Charakter der Steppe trug, aber deren noch engbegrenzter Horizont nicht das Gefühl der Unendlichkeit hervorrief, das die eigentliche Steppe sicher kennzeichnet. Einen Büchsenschuß weit von der einsamen Poststation erhoben sich wunderliche Steinkreuze aus dem Gestrüpp, hier war ein verlassener Friedhof. Ich hatte Muße, zwischen diesen Denkmälern eine Viertelstunde umherzuwandeln; die Gräber sind von einem ovalen, regelmäßig geschichteten Steinhaufen überragt, erst aus diesem erhebt sich das griechische Kreuz mit seinem doppelten Querbalken und seinen kreisrunden Enden. Ein quadratischer Platz war mit einer Brustmauer umgeben; hier, erklärte mein Reisegefährte, hat früher ein Kirchlein gestanden, und die Stätte des Altars ist auf ewige Zeiten hinaus geheiligt, daher sie sorgsam vor der Entweihung durch den Fuß unreiner Thiere geschützt wird.

Nachdem uns unterwegs der aus der Krim zurückkehrende Prinz Albrecht von Preußen begegnet war, erreichten wir bei guter Zeit des Morgens das Plateau, von dessen mäßiger Höhe ein wundervoller Blick verstattet ist über die silberne Riesenschlange des Bug und jenseits die große Kriegsstadt Nicolajeff, deren Halbinsel der mächtige Strom in weitem Bogen umgürtet. Eine merkwürdige, während des Krimkrieges von dem genialen General Tottleben construirte schwimmende Brücke aus lauter Baumstämmen führt über den Fluß, welcher hier breiter ist, als der Rhein an irgend einer Stelle. Schwerlich hat jemals ein Deutscher nach dem Erbauer Zeit und Gelegenheit gehabt, diesen Brückenbau so zu studiren, wie ich; ich muß jedoch die Erzählung des merkwürdigen Abenteuers, das mich einen ganzen Tag lang (15. Juli 1858) von früh neun Uhr bis Abends sieben Uhr auf und zum Theil halb unter demselben festhielt, auf ein andermal verschieben.

Das Unheil, welches uns betroffen, nöthigte zur Rast in Nicolajeff, wir waren auch viel zu erschöpft, um eine zweite Nacht im Wagen zubringen zu wollen. Erst um die Mittagszeit des nächsten Tages verließen wir die großartige Schöpfung des vorigen Kaisers, der hier binnen kürzester Frist eine Stadt von ungeheurer Ausdehnung aus dem Boden gezaubert hat, deren Arsenale und Marinevorräthe selbst dem Erstaunen abzwingen müssen, der Woolwich und Toulon gesehen hat. Aber still ist es geworden in den Straßen und in den Werkstätten, die hohen Essen dampfen spärlich oder nicht mehr, die ungeheueren Hämmer der Ankerschmiede rasten, und zwischen den Tausenden von eisernen Schiffskanonen, die hier in langen Gallerien friedlich lagern, sprossen Blumen hervor und Gras. Wer ein Stück von der großen Wunde sehen will, die der Pariser Frieden Rußland geschlagen hat, der braucht nur nach Nicolajeff zu reisen; aber welcher Politik er auch angehören mag, er wird trauern darüber, daß so tüchtige Männer – viele Tausende – und mit ihnen eine Stadt von mehr als hunderttausend Einwohnern plötzlich, durch ein einziges Machtwort, von der Höhe tüchtiger, gewerblicher Thätigkeit in den faulen Sumpf des Nichtsthuns, der Armuth und des Siechthums geschleudert worden sind.

Wolkenlos war der blaue Himmel, als wir abfuhren, aber kaum nach einer Stunde bedeckt mit schweren dunklen Massen, und aus ihnen entlud sich ein furchtbares Gewitter in einer Heftigkeit, von welcher der Nordländer gar keinen Begriff hat. Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag folgten einander fast ohne Unterbrechung, der Regen schoß herab nicht wie ein Regen, nein, gleich einem Wasserfall, in wenigen Augenblicken erschien weit und breit umher das Land als ein See, und der Weg als ein reißender Bergbach. [159] Daß wir bald nach dem Ausbruch des Unwetters die Station erreichten, half wenig zum Besten von Menschen und Thieren, denn bei diesem plötzlichen Klaffen der Wolkenschleuße genügten ein paar Secunden zu so vollständiger Durchträufung, daß alles Nachfolgende gar nicht mehr beachtet zu werden brauchte. Auf Postillone und Pferde wird nicht Rücksicht genommen, deshalb ging es mitten im furchtbarsten Ausbruch des Gewitters unaufhaltsam weiter, nur waren dem Viergespann noch zwei Vorpferde zugegeben worden, auf deren einem ein zwölfjähriger Junge saß und den Kantschu schwang wie ein Alter. Das war eine Fahrt! Der schwarze Boden des Weges war durch den Regen in einen weichen Brei verwandelt, in welchen die Räder des leichten Wagens einsanken bis an die Naben; da galt es nun, diesen und den Hufen des Gespanns gar keine Zeit zum Versinken zu gönnen, und so flogen wir denn dahin ventre à terre oder vielmehr à bourbe. In wenigen Augenblicken war für uns, die wir bei geschlossenen Fenstern im Innern saßen, die Außenwelt verschlossen durch einen Vorhang von zähem, braunem Schlamm, der den ganzen Wagen incrustirte; wie die Postillone ausgesehen haben, konnte sich blos die Phantasie vorbilden. Kaltblütig unterhielt mich mittlerweile mein Freund von den vielen Unglücksfällen, welche bei dergleichen Kirchthurmrennen vorzukommen pflegen. Besonders gefährlich ist die Position des Vorreiters. Stürzt sein Sattelpferd, so vermag das nachfolgende Gespann unmöglich in der wildesten Carriere plötzlich anzuhalten, es schießt mit dem Wagen und seinen Auf- und Insassen über das am Boden liegende Thier hinweg, und es entsteht ein furchtbarer Knäuel, bei dessen endlicher Lösung nicht Alles wieder auf die Beine kommt, was vorher darauf gewesen war; glücklich, wenn nur ein paar Pferde darauf gegangen sind; gewöhnlich bleibt aber der Vorreiter auf dem Wahlplatz als Opfer seines halsbrechenden Berufs; aber es ist nur ein Junge. Warum also viel darüber reden? Versuchen wir lieber, den schlimmen Weg zu verschlafen. Ich gestehe, mir war dies nicht möglich, und ich suchte unbemerkt einige gelinde Vorkehrungen gegen einen unvorhergesehenen Anprall zu treffen; mein Begleiter lächelte mit geschlossenen Augen. Ohne Rast, ohne Abwechslung in der Gangart, aber auch ohne Unfall ging es weiter. Von der Gegend war nichts zu sehen, die Gewöhnung stählte gegen die Furcht; spät in der Nacht erreichten wir endlich das Ziel.

Aus dem Wagen steigend, umringte uns sofort eine Meute knurrender Hunde, eine Alte mit einer Laterne verscheuchte die bösartigen Thiere, und küßte mit tiefer Verneigung wiederholt den Rockärmel ihres Herrn und Gebieters, dann öffnete sie die Thüre seines Palastes oder vielmehr Landsitzes. Ländlicher hatte ich allerdings bis dato nichts gesehen; ein großes Zimmer und ein Cabinet bildeten die gesammten Räumlichkeiten, sie waren einfach mit Kalk geweißt, d. h. wo noch der Bewurf hielt; das Mobiliar bestand aus einem Tisch, einem Stuhl, einer Feldbettstatt mit Matratze und einem Leuchter. Also einfach. Kerzen hatte mein Gefährte mitgebracht, einen wohlversehenen Flasckenkeller ebenfalls. In der dem Herrenhause gegenüber befindlichen Wohnung ward es lebendig, verzweiflungsvolles Hühnergeschrei und ein durch die offene Thüre sichtbares hoch aufloderndes Feuer eröffneten beruhigenden Trost. Jetzt kamen die Leibeigenen, den lang abwesend gewesenen Herrn zu begrüßen. Den Vornehmsten darunter, dem Verwalter und dem Schafmeister, ward die Ehre der Umarmung und des Kusses, die Andern begnügten sich mit Handschlag und Aermelküssen. Vieles hatte der Edelmann zu fragen und zu hören. Während dessen beschäftigte ich mich mit der Möblirung des großen für mich bestimmten Zimmers. Einige Koffer und ein Regenschirm machten in dieser Hinsicht allerdings keinen sonderlichen Effect, desto größeren aber das rasch aufgeschlagene Bett, welches die Hälfte des Raumes einnahm, und aus einigen gewaltigen Heubündeln ebenso einfach als zweckmäßig bereitet ward. Nicht lange und ein wahrhaft luxuriöses Mahl dampfte auf dem Unicum der Tische, darunter die köstlichen Pascharski-Cotelettes aus Hühnerfleisch, welche nur russische Köche zu bereiten wissen, und denen zu Ehren Kaiser Nicolaus manche Fahrt gemacht hat zu dem Postmeister Pascharski, der sie erfand in einer Stunde der Noth und Inspiration, als der Czar vor seinem Hause hielt, ein Mahl begehrte und nichts vorhanden war, wie einige lebensmüde Hühner. Aber nachdem die Begierde des Trankes und der Speise gestillt war – führte die Schaffnerin mich zu dem schön bereiteten Lager – um mit Homer zu reden.

Bald umfing mich der tiefe Schlaf der Ermüdung, allein er wich ab und zu dem Erscheinen allerlei kleiner Gespenster, welche wahrscheinlich den Fremden strafen wollten für sein unbefugtes Eindringen in ihr lang gehegtes Asyl. Von den Gästen im Heu gar nicht zu reden, an diese wird man im Süden bald gewöhnt, wenn sie es nur nicht so arg treiben, wie verschiedene Gattungen blutdürstiger Zecken, von welchen eine sogar nur den Ausländer anzapfen soll. Aber es flirrte und schwirrte sonderbar, stieß und trommelte an die Scheiben, rauschte und surrte so überlaut, daß ich endlich beschloß, auf die Ruhestörer Jagd zu machen. Mit einigem Gefühl von Schrecken und Ekel bekam ich große, lebhaft sich sträubende, wollig anzufühlende Geschöpfe in die Hand, welche sonderbar schrieen, als ich sie unbarmherzig todtquetschte – es waren prächtige Todtenköpfe, wie sich beim Morgenlichte ergab, die Sehnsucht und der Stolz junger deutscher Schmetterlingssammler, hier ganz ordinäre, überall verbreitete Abendfalter. Nach der Jagd wollte ich wiederum einschlafen, aber der erzwungene Waffenstillstand dauerte nicht lange; mit dem ersten Grauen des Morgens begannen die Fliegen munter zu werden, welche Decken und Wände betüpfelten, und ihre unverschämten Spaziergänge mit den kitzelnden Beinen erzürnten mich endlich so sehr, daß ich aufsprang und hinauseilte vor die Thüre des Hauses.

Welch’ ein Anblick! Der Sonne goldener Ball war eben am Horizont emporgestiegen und endlos, unermeßlich nach allen Richtungen breitete sich aus die Steppe. Derselbe Eindruck, großartig und doch herzbeklemmend, befiel mich, den ich empfunden, als ich einst zum ersten Male aus der Koje auf das Verdeck stieg und rings nur Himmel und Wasser erblickte. Wie damals das Schiff, so waren jetzt die paar dürftigen Häuslein hinter mir das Einzige, was an den Menschen erinnerte in der stillen, großen Oede, in welche das Auge sich verlor bis in meilenweite blaue Fernen. Das braune Grün, welches die Fläche überzog, ward hier und da vom Wind in leisen Wellen bewegt, da und dort erstieg aus einer Senkung ein Hügel, gleich einer stillstehenden Woge, und die funkelnden Thautropfen an den Fahnen der Halme glichen dem Schaume der rollenden Wasser. Statt der spitzbeschwingten Möven kreisten langsam Raubvögel über ihrem Jagdreviere, sonst kein lebendes Wesen weit und breit. Vergebens späht der Blick im ganzen Umkreise nach einem Gegenstande, an dem er haften könne; eintönig, ohne Unterbrechung dehnt sich das braune Gefilde, kein Strauch, kein Baum, kein Fels, kein Rauch aus einem wirthlichen Schornsteine, der des Menschen Nähe verkündet – nur Steppe, weiter nichts als Steppe. Wunderbar sind die gewaltigen, zerklüfteten Bergriesen der Schweiz mit dem diamantengekrönten Scheitel, prachtvoll und romantisch blicken die blauen Augen italienischer Seen aus dem Kranze ihrer Ufer zum Himmel auf, furchtbar und erdrückend in seiner Größe ist draußen das hohe, finstere Meer oder die an die Klippen donnernde Brandung – aber eben so mächtig ist der Eindruck, welchen die Steppe macht in ihrer nackten Leere, durch die Unermeßlichkeit und grauenvolle Einsamkeit, in deren Mitte sie den Menschen versetzt. Und derselbe schwindet nicht, man gewöhnt sich keineswegs daran – täglich erwacht er auf’s Neue und täglich gewinnt er an Tiefe. So wenigstens habe ich es empfunden, der ich viele Wochen lang gewohnt mitten in den Steppen, in dem kleinem Choutor – (tatarisches Wort für Sommerwohnung, Villa; allgemein gebräuchlich) – welchen ich beschrieben. Daß aber nicht allein in ihrer ungeheueren Ausdehnung, sondern auch in ihren Einzelnheiten die Steppe vielfach Interessantes bietet, davon hoffe und wünsche ich die werthen Leser zu überzeugen.

Aus meiner Betrachtung ward ich etwas prosaisch geweckt und geschreckt durch den plötzlichen wüthenden Anfall eines Hundes, zu welchem sich sofort die ganze Meute von gestern Abend gesellte. Die Köter sahen verzweifelt wild aus, ihr zottiges graubraunes Fell, die falschen Augen und riesigen Fangzähne, die sie mir höchst ungastfreundlich wiesen, unterschieden sie fast nicht von dem Wolfe, dessen Enkelkinder sie sicherlich sind und welcher dennoch ihr größter Feind ist. Mit strategischer Vorsicht und beständigem Bücken nach nicht vorhandenen Steinen bewerkstelligte ich meinen Rückzug bis zu einem an der Wand des Hauses lehnenden Knüttel, dessen Besitz mir sogleich die gehörige Autorität verschaffte. Durch den Höllenlärm der Hofwächter waren aber mittlerweile auch die übrigen Bewohner des Choutor erwacht; bald brodelte der Samowar und nach dem Frühstück begann die Besichtigung des Gehöftes. Sie war in wenigen Minuten beendet, denn zu sehen gab es eigentlich nichts, als die beiden strohgedeckten Wohnungen, einen ditto Schafstall und ein rohes, vernachlässigtes Gehege, welches den [160] übrigen Heerden nothdürftigen Schutz gegen die Winterstürme gewährte – aber nur von den Seiten, nicht von oben, denn es war nicht überdacht. Und doch besaß das Gut, in dessen Kern wir uns befanden, nicht weniger als 16,000 Morgen Flächeninhalt und gegen 10,000 Stück Vieh, vorzugsweise Schafe. Aber nur 100 Dessätinen[WS 1] (400 Morgen) davon waren mit Getreide bestellt, alles Uebrige freie Weide, jungfräuliches Land. Hier ist noch Raum für kommende Geschlechter, und Jahrhunderte wird es dauern, bis sich die Nachbarn mit den Ellnbogen stoßen, wie so häufig bei uns.

Zwei lebhafte Klepper der kleinen Steppenrace, die sich aus den kirgisischen und don’schen Pferdeschlägen gebildet hat, in Doppelpony-Größe, führten uns alsbald in rascher Spazierfahrt durch das weitläufige Besitzthum; sieben Werst hatten wir zu fahren, bis wir die Grenze erreichten, längs deren sich in verhältnißmäßig schmalem Streifen das cultivirte Land hinzog, wo der stattliche Ghirka-Weizen eben in voller Ernte befindlich war. Und hier durfte ich auch zum ersten Male erstaunen aber die wunderbare Fruchtbarkeit des Steppenbodens, denn ich vermochte den mitgebrachten Maßstab der Cultur der gepriesensten Länder anzulegen.

Das ganze Südrußland, vorzugsweise Neurußland geheißen, weil es zu den jüngsten Erwerbungen des großen Czarenreiches gehört, ist in der Urzeit unstreitig ein unermeßlicher See gewesen, dessen östliche und westliche Ufer in dem Hindukuschgebirge Asiens und in den Karpathen Ungarns emporstiegen. Als die gewaltige Wassermasse, Bahn brechend, ablief, ließ sie auf den Trillionen von Schalthieren des Untergrundes eine ungeheuere Masse von Schlamm zurück, gebildet aus verwesten Organismen und fein geschlämmten Erden in inniger Vermischung; dieser Urschlamm bildet jetzt den berühmten Tschernosem, die unerschöpfliche schwarze Ackererde des Landes, welche sich in der Mächtigkeit von wenigen Zollen bis zu 15 Fuß und darüber auf dem Muschelkalk abgelagert hat. Diesem Boden verdankt es der Landstrich, daß er, fast ohne alle jene künstliche Hülfe, welche bei uns die Pflanzenproduction erheischt, die noch lange Zeit ausreichende Quelle der Körnergewinnung für einen großen Theil der übrigen Welt ist. Freilich gehört noch ein wesentliches Agens zur völligen Entwickelung dieser Fruchtbarkeit, nämlich genügende Feuchtigkeit; denn hier brennt die Sonne mit heißestem Strahl und versengt in kurzer Frist die junge grüne Saat zu bleichen verschrumpften Greisenhalmen, wenn von den Niederschlägen des Frühjahres nicht ein genügender Ueberrest im Boden geblieben ist. Wenn aber dies der Fall oder der Vorsommer zeitweilig erfrischende Schauer bringt, dann entwickelt sich die Vegetation in fast unglaublicher Ueppigkeit. Die ganze Steppe überzieht ein dichter Teppich hochhalmiger Gräser, deren Aehren und Rispen sich manchmal bis zur Mannshöhe erheben; durchflochten ist er in saftigem Gewirr mit allerlei Kräutern, Ranken und Stauden, aus welchen prächtige Blumen bald einzeln die Köpfchen strecken, bald sich zu ganzen bunten Matten, Steppengärten, vereinen. Mit Verwunderung erblickt der fremde Wanderer da und dort Kinder der Flora wild und gedeihlich emporwachsen, die er daheim kümmerlich in Töpfen hegt; mit Entzücken pflückt er im engsten Umkreise einen Strauß, wie ihn zierlicher kein civilisirter Garten zu bieten vermag. Wie man inmitten der Alpengletscher zuweilen einen kahlen Fels mit Dammerde bedeckt und darin die prächtigsten Alpenblumen wuchern sieht – die sogenannten Gletschergärten – so schmücken sich auch in der Steppe vorzugsweise nur einzelne Stellen mit Farben und Düften, ohne daß man wüßte, wie und warum; vielleicht muß man wieder weit wandern, ehe man ein zweites, ähnliches Plätzchen findet.

Neben dem Nützlichen und dem Schönen erhebt sich aber auch das Widerwärtige und Schädliche; das ist der Burian, unter welchem Gesammtnamen man alle unnützen Stauden der Steppen begreift. Merkwürdige, geheimnißvolle Gewächse sind darunter: die Steppennadel, deren spitzer, mit Widerhaken gezähnter Samen den Thieren durch Haut und Muskeln dringt in ihr Herz und Eingeweide, so daß sie elendiglich erliegen müssen; das „betrunkene Kraut“, dessen Genuß die Pferde toll macht und lähmt, während es den Rindern nicht schadet; die Choleraklette, welche zum ersten Male mit der Seuche erschienen und ein specifisches Heilmittel gegen diese und die Hundswuth sein soll, und der Kurai. Letztere Pflanze, das gemeine Salzkraut, verdient besondere Erwähnung, da sie zu einem sonderbaren Phänomen Anlaß gibt, von dem ich mehr als einmal Augenzeuge gewesen bin.

[174] Wenn im Herbst die Winde schärfer über die Ebene zu pfeifen beginnen, dann fängt auf einmal da und dort die Steppe zu wandern an. In der That erscheint es dem Neuling, als löse sich die Rasendecke des Bodens freiwillig los, rolle sich zusammen und kugele nun in lustigen Sprüngen vor dem Winde her, schneller, als das schnellste Roß zu laufen vermag. Bald schreitet die räthselhafte Bewegung vor in langgestreckten, fast geradlinigen Kämmen, gleichsam in Ordnung gehalten von höherem Willen, bald bricht sie diese Linien und wirbelt im tollsten, ungeberdigsten Tanze umher, daß man glauben möchte, neckische Kobolde trieben da ihr Wesen. Manchmal stauen sich die rollenden Massen an irgend einem unsichtbaren Hinderniß, „auf des Vormanns Rumpf steigt der Hintermann,“ Gewicht hängt sich an Gewicht, Hügel erbauen sich, lustige Säulen und Thürme, wie von Spinnen gewebt, bis endlich das Ganze den Halt oder Schwerpunkt verliert, überkugelt und nunmehr, vom schadenfrohen Wind zerblasen, mit doppelter Eile wieder vor diesem dahinflieht. Die Russen nennen diese Erscheinung Perekatipole, d. i. Wandern des Feldes, und freuen sich ihrer, denn sie bringt ihnen willkommenen Brennstoff. Alle jene kugelnden Gebilde sind nämlich Stauden des Salzkrautes, deren Aeste beim Zusammendörren sich zu einem Ball zusammenwölben, und deren Stengel oberhalb der Wurzel abfault, worauf dann der Wind die merkwürdigen Pflanzenleichen schaarenweise über die Steppe jagt.

Oft scheint eine einzige Pflanzenart sich großer Regionen der Steppe vorzugsweise bemächtigt zu haben; so erblickt man häufig so weit das Auge reicht, völlig ebene dunkelgelbe Flächen, gebildet aus den breiten Dolden einer Gattung Wolfsmilch, welche kein Thier berührt. An besonders günstigen Stellen erheben sich wahre Gebüsche, Buriandickichte, gebildet von stacheligen Disteln und Kletten, die fast in Baumesstärke und Höhe emporwachsen, und ihre bewehrten Aeste malerisch ausbreiten, gleich riesenhaften Armleuchtern. Schlanke, blüthenvolle Königskerzen schießen dazwischen empor wie gelbe Lanzen; große Flockblumen, graue Wermuthbüsche und wuchernde Amaranten verschränken sich zu einem fast undurchdringlichen Urwald im Kleinen. Solch ein Versteck ist das Sommerlager der Wölfin, wohin sie sich behutsam flüchtet, um ihre Jungen zu bergen vor den vielen Feinden, an deren Spitze der Herr Gemahl und Vater steht; hier wohnt der unheimliche Scheltopusik, eine harm- und fußlose Eidechse, deren Größe und Schlangengestalt den Wanderer, der sie im Sonnengenuß aufstört, oft jählings erschreckt, so daß er mit entsetztem Sprunge zurückfährt, denn er hat erzählen hören von fabelhaften Giftschlangen der Wüste; aber mehr noch erschrickt das Thier und wie ein Blitz ist es im Dickicht verschwunden. So leer und öde die Steppe auch dem Hinblick darüber erscheint – wie eine leere Bettlerhand, sagt der Dichter – ein so mannichfaltiges, wimmelndes Leben birgt sie doch in ihrem Schooße. Lange Heerzüge von Ameisen durchkreuzen nach allen Richtungen hin den Halmenwald, prächtige Schmetterlinge, zahllose Fliegen und Bienen tanzen und summen über den Blumen, während große Spinnen arglistige Brücken bauen von Stengeln zu Stengeln, so daß oft eine ganze Strecke mit ihrem Gewebe übersponnen ist. Heuschrecken und Grillen zahlreicher Arten hüpfen und fliegen durch [175] das Grün; Blindmolle und Zieselmäuse sonnen sich vor ihren unterirdischen Bauten; hoppelnd kommt Meister Lampe daher, cavalierement jede Gefahr verachtend; Zwergtrappen fahren auf aus dem Buriannest, kreischende Falken und Weihen streichen niedrig dahin, mit scharfem Auge nach Beute spähend.

Alles dies und noch viel mehr hat mir die Steppe gezeigt auf der täglichen Wanderung, die ich, theils in Begleitung meines Gastfreundes, theils allein und ziellos, regelmäßig unternahm im Wagen, zu Pferd und zu Fuß. Einen vollen Monat verbrachten wir in der Einöde; dann und wann wurden die Nachbarn besucht – der nächste blos etwa 120 Werst weit! – aber auch die Nachbarn wohnten mitten in der Steppe. Jagdzüge und ritterliche Uebungen verkürzten die Zeit, welche übrig blieb nach einer oft anstrengenden Thätigkeit, und die wiederholte Besichtigung des weitläufigen Gebietes und seines Zubehörs hielt uns stets in Athem. Zu dem letzteren rechne ich vorzugsweise die großen Heerden, welche es einzig ermöglichen, der Steppe genügenden Nutzen abzuringen.

Es gehört wenig Phantasie dazu, sich urplötzlich in die südamerikanischen Pampas versetzt zu wähnen, wenn ein Tabun halbwilder Steppenpferde mit donnerndem Hufschlag daherbraust, der Tränke zu, hinter ihnen drein wilde, dunkelhäutige Tataren oder Zigeuner in der malerischsten Tracht der Zerrissenheit; voran der führende Hengst, den Kopf hoch, die Ohren gespitzt, mit weit aufgeblasenen Nüstern, als suche er herausfordernd die Gefahr; rechts und links in der bräunlichen Staubwolke lustig springende Füllen, zuweilen von ihrer Mutter mit strafendem Biß genöthigt, sich nicht zu weit von dem Trupp zu entfernen. Die wilden Augen, die langen, gewellten Mähnen, welche oft bis herab zu den Knieen reichen, die schweren, verworrenen Schweife, die den Boden fegen, und die große Verschiedenheit in der Färbung der Thiere – obwohl das Fahle immer vorherrscht – vervollständigen den Eindruck, welchen die oft gelesene Beschreibung und die Catlin’schen Abbildungen der Mustangheerden hinterlassen haben. Und merkwürdig ist die Aehnlichkeit der Gebräuche, welche so weit von einander entfernte Völker sich zu einem und demselben Zwecke angeeignet haben. Wie der Gaucho oder Comanche den Lasso, so führt der Tatare und Kirgise den Arkan, die gefürchtete Riemenschlinge, die er mit unfehlbarer Sicherheit wirft und damit ein bestimmtes Pferd aus der Mitte des Tabuns herausholt. Dann aber muß man die Thiere sehen, wenn der Arkan über ihren Häuptern schwirrt! Mit verzweifelnder Hast drängen sie hinweg von dem Opfer, bäumen sich, schlagen, um Raum zu gewinnen, Wiehern und Angstgeschrei erfüllt ohrzerreißend die Luft, bis der zusammengeballte Knäuel sich gelöst hat, und nunmehr die Pferde nach allen Richtungen der Windrose auseinander stieben. Allein die Rufe der Leithengste locken die Gescheuchten bald wieder in die eifersüchtig gehüteten Trupps zusammen, und nicht lange, so ist die Gefahr vergessen, während sie in der Gestalt der gut berittenen Hirten schon wieder ganz nahe ist. Es gibt kein aufregenderes Schauspiel, als solches Pferdejagen.

Aber dabei muß man auch die Tataren sehen. Die verschiedenen Völkerschaften der russischen Steppen, Kosaken, Baschkiren, Tschuwaschen, Mordwinen und Zigeuner sind sammt und sonders vortreffliche Reiter und von frühester Jugend an auf dem Pferde, so daß sie vollständig mit ihm zusammenwachsen. Allen voran aber ist der Tatar als verwegenster Reiter, kühner Rossebändiger und gewiegter Pferdekenner; daneben hat er in seiner ganzen Haltung wie in den Gesichtszügen etwas Nobles und Ritterliches, welches den übrigen genannten Racen abgeht. Jedoch der Schein trügt; wer dies erfahren will, braucht sich mit ihm nur in irgend einen Handel einzulassen, am liebsten in einen Pferdehandel. Mit dem Arkan in der Hand, zeigt er sich aber durchaus nur von der vortheilhaften Seite. Das auserkorene Thier, meistens ein dreijähriges Fohlen, das noch niemals des Menschen Hand und Macht erprobt hat, macht erschreckt verzweiflungsvolle Anstrengungen, um der Schlinge zu entgehen, aber dadurch zieht sich diese nur immer enger zusammen und schnürt ihm dermaßen den Hals zu, daß es röchelnd hinstürzt. Wie eine Katze arbeitet sich nun der vom eigenen Pferde gesprungene Tatar, Hand um Hand vorgreifend, an dem Arkan hin, bis zu dem zappelnden, bewußtlosen Wildling; in einem Augenblick ist demselben ein Zaum über den Kopf gestreift, ein Gebiß in das Maul geschoben; dann wird die furchtbare Schlinge gelöst. Zu sich kommend, liegt das Fohlen einen Augenblick da in stillem Staunen, auf einmal wird ihm das Bewußtsein seiner Lage, wie der Blitz springt es auf die Beine – aber umsonst, eben so rasch sitzt schon sein Bändiger auf seinem Rücken. Mag dann das entsetzte Roß thun und versuchen, was es nur will, es gelingt ihm nicht mehr, seine alte Unabhängigkeit zurückzuerobern. Freilich schießt es kreischend, schlagend, schüttelnd, um sich beißend, in tollen Sätzen hinaus in die Steppe, aber in wenigen Stunden kommt es zurück, gebändigt und gelehrig; es ist der Civilisation gewonnen und läßt sich den Sattel auflegen. Oder auch muß man die Tataren sehen bei einem Wettrennen, ihrer größten Belustigung, namentlich wenn es ihnen gelungen ist, einige Theilnehmer nicht aus ihrem Stamme, einen kecken Muschik oder einen selbstgenügsamen Colonisten, dafür zu gewinnen. Mit diesen spielen sie im Anfang, wie die Katze mit der Maus, und so vollendet sind ihre Reiterkünste, daß sie auf’s Haar genau zu berechnen wissen, wenn es Zeit ist, alle Kraft zu entfalten. Darin trügen sie sich nie, und bei allen Steppenrennen sind stets nur die Tataren die Sieger; ihre ausgezeichneten Pferde – größer wie diejenigen der eigentlichen Steppenrace – haben sogar schon manches Vollblut geschlagen, das Jahre lang auf dem Turf den Preis da- von getragen hatte.

Dann wiederum besuchten wir die Rinderheerden, die in großen Trupps von mehreren hundert Stück da und dort weideten. Es sind prächtige Thiere, von der im ganzen Südosten Europa’s verbreiteten sogenannten podolischen Race, von weißgrauer Farbe und mit großen, nach einwärts gekrümmten Hörnern. Das stete freie Leben Jahr aus Jahr ein in der Steppe hat ihnen den dummstieren Ausdruck genommen, der sie da kennzeichnet, wo sie nur im Stalle gehalten werden; mit großen klugen Augen blicken sie umher, muthig schnaubend senken sie die Hörner und scharren mit den Füßen, wenn sie Gefahr wittern, etwa ein unbekannter Hund naht; aber plötzlich ergreift sie doch eine Furcht, und schlank und leicht fliegen sie dahin über das Blachfeld, wie Hirsche, die Schweife hoch in der Luft, brüllend und den Boden stampfend. Leider decimirt eine furchtbare Seuche, die Rinderpest, alljährlich die Heerden dieser nützlichen Thiere in erschreckender Weise. Dieselbe kommt immer aus dem Osten, aber Niemand weiß bis heute, wo sie zuerst auftritt und wie sie entsteht. Der über allen Begriff abergläubische Bauer der Steppen identificirt die Seuche einem geheimnißvollen überirdischen Wesen, der Pestjungfrau, Morr genannt, die auf weißen Fittigen schauerlich über die Länder schwebt, und die Orte aufsucht, welchen sie Opfer auferlegen will, wobei sie in höchst irregulärer Weise vom geraden Wege abweicht und oft viele Werste überspringt, um plötzlich in einem Bezirk aufzutauchen, wo man gar nicht an sie gedacht hat. Die Ceremonien, welche die Landleute, oft mit dem Beistand ihrer Popen, gegen das Gespenst vornehmen, sind höchst sonderbar. Sobald die Seuche ausgebrochen ist, eilt, was von Menschen Leben und Bewegung hat, nach der Kirche, worin eine feierliche Messe celebrirt wird. Nach derselben schreitet Kind und Kegel in langem Zug hinaus vor das Dorf, auf einen geeigneten Platz; gewählt wird zu der Proccdur am liebsten eines der kreisrunden Tatarengräber oder ein anderer schmaler Hügel. Mitten durch denselben ist ein schmaler Stollen gegraben, so daß eben zwei Menschen sich neben einander hindurchdrängen können. Vor dem jenseitigen Ausgange ist ein ungeheurer Haufen Burian aufgethürmt. Mittlerweile sind die gesammten Rinderheerden des Dorfes herbeigetrieben worden und werden von berittenen Hirten auf dem Platze gehalten. Die ältesten und angesehensten Einwohner schreiten zuerst durch den Höhlengang, sie sind bewaffnet mit zwei Stäben von verschiedenem Holz; durch rasches, fortgesetztes Drehen des härteren in dem weichen müssen sie ein Feuer entzünden, um den Burian anzubrennen; auf andere Weise ist dies nicht erlaubt, es müssen sogar währenddem die Feuer in allen Behausungen sorgfältig gelöscht sein. Durch das brennende Geniste eilen die Aeltesten; sobald der Rauch emporwirbelt, werden auch die Heerden stückweise in den Gang und durch das Feuer getrieben; ihnen folgen zuletzt alle Männer des Dorfes; Weiber und Kinder bleiben nur Zuschauer. Ist dieser Exorcismus vorüber, dann geschieht sorglos nicht das Mindeste mehr gegen die Seuche; es braucht kaum gesagt zu werden, wie wenig er hilft.

Das werthvollste Product der Steppen ist die Wolle ihrer Schafheerden, die sich von Jahr zu Jahr in erstaunlichem Maße vermehren, da die Gutsbesitzer eingesehen haben, wie wenig Stutereien und Rindviehzucht da einbringen, wo es an genügendem Absatz fehlt. Um einen Begriff von der Ausdehnung dortiger Schäfereien zu geben, führe ich an, daß ein deutscher Colonist in der Molotschna, Friedrich Fein, ein schlichter würtembergischer Bauer, [176] welcher mit nichts begonnen hat, als seiner Hände und seines Kopfes Kraft, gegenwärtig 700,000, sage siebenmalhunderttausend Merinos besitzt! Im großen Durchschnitt nur 5 Pfund Wolle – ungewaschen wegen Wassermangel! – auf das Haupt gerechnet, während man sonst stets 7–9 Pfd. annimmt, und das Pud zu 6 Rubel, dem jetzigen Preis, so hat der Mann ein jährliches Einkommen von 525,000 Rubel Silber blos von seinen Schafen, Verkauf von Zucht- und Schlachtvieh gar nicht gerechnet. Da darf es auch nicht wundern, daß er vor einigen Jahren dem Herzog von Anhalt seine großen Besitzungen in Neurußland abgekauft und den Betrag dafür baar auf den Tisch gelegt hat. Seine einzige Tochter hat er an seinen Schafmeister verheirathet.

Das eingeborne Schaf der Steppe ist das mit dem Fettschwanz, ein Abkömmling der syrischen Race, von welcher man fabelt, daß sie die schweren Fettschwänze auf kleinen Rollwagen hinter sich her schleppen müsse. Leider hat die Schafzucht hier mit mancherlei Gefahren zu kämpfen, von welchen man im übrigen Europa wenig weiß. Die furchtbarste darunter sind die Schneestürme im Winter. Ohne daß der erfahrene Schafmeister – beiläufig gesagt, fast immer ein Deutscher und gewöhnlich ein Sachse – aus seiner praktischen Meteorologie im Voraus davon Kunde hat, bricht plötzlich ein furchtbarer Sturm daher aus Norden oder Nordosten. In einem Augenblick ist die ganze Luft erfüllt von zusammengefrorenen, halb consistenten Schneekörpern, oft von bedeutender Größe, welche mit betäubendem Geprassel herniederschlagen und selbst dem Muthigsten alle Besinnung zu benehmen vermögen. Wer von einem solchen Sturm inmitten der Steppe überrascht wird, dem bleibt nichts übrig, als sich niederzusetzen, den Mantel über den Kopf zu ziehen und zu warten, während ihn der Himmel unbarmherzig bis auf’s Blut peitscht. Die armen Schafe besitzen nicht die Geduld, deren Sinnbild sie sind; das schmerzhafte Auftreffen des Hagels, der pfeifende Wind, die schneidende Kälte, die er mit sich bringt, regen sie nach und nach auf bis zur Raserei; dazu kommt noch, daß die fallenden, breiigen Flocken auf ihrem Körper haften bleiben und fest frieren, wobei namentlich die Augen dermaßen incrustirt werden, daß sie völlig blind sind. Dann ist aber auch kein Halt mehr – Schäfer und Hunde, selbst wenn sie im Stande wären, sich frei zu bewegen, verlieren die alte Gewalt – unaufhaltsam stürzt die ganze Heerde davon in dichtgedrängter Schaar, immer gerade aus, über Hügel und Thal, durch Sumpf und Liman – oft ist es geschehen, daß auf diese Weise Tausende von Schafe auf einmal in den Gewässern umgekommen, und gar häufig ist der Ingul von den Dämmen ihrer Leiber bis zur Gefahr geschwellt worden. Auch wenn ein besserer Stern die rasenden Thiere an die Wand eines jähen Absturzes oder an eine Mauer führt, wo die ersten erschöpft zusammenbrechen und alle andern dann, wie gebannt, laut keuchend und die Köpfe unter die Leiber drängend, unbeweglich stehen bleiben, sind sie noch nicht gerettet, wenn der Schneesturm anhält, und oft dauert er mehrere Tage lang. Denn gelingt es dem pflichtgetreuen Schäfer auch, der Heerde nachzufolgen und sie endlich zu entdecken, so gibt es gar kein Mittel, die Thiere wegzubringen, als sie einzeln fortzutragen. Vielleicht ist aber das nächste Gehöft meilenweit, und es sind mehrere Tausend Schafe! Auch der Wolf holt manches schöne Stück, trotz aller Aufmerksamkeit der Hirten und Hunde. Die letzteren begnügen sich gewöhnlich damit, den wilden Feind durch Bellen abzuwehren; daß sie ihn angreifen, kommt sehr selten vor.

Noch eines wunderbaren Schauspiels will ich gedenken. Wer hat nicht gelesen oder gehört von den Steppenbränden in Amerika? Auch die europäische Steppe brennt häufig, ja alljährlich, denn nicht anders weiß der Bauer den überhand genommenen Burian zu bewältigen und Raum zu schaffen für süßes Gras, als durch des Feuers Macht. Ohne große Vorsicht geht er dabei zu Werke, höchstens daß er die Windrichtung so wählt, um seine Wohnung und seine Schober nicht in Gefahr zu bringen. Das Abbrennen der Steppen geschieht im Herbst, öfter noch im zeitigen Frühjahr. Aus Erfahrung kennt der Landmann im Voraus ziemlich genau die Grenzen, welche der Brand innehalten, die Hemmnisse, vor welchen er erlöschen wird; darnach richtet er sich, und hat dann weiter nichts zu thun, als an gelegener Stelle anzuzünden. Mit leisem Zischen schießt nun plötzlich die Feuerschlange durch das dürre Gras, aber man erblickt nicht sie selbst, nur ihre Wirkung, die schwarzverbrannten oder aschweißen Reste auf dem Boden; eine Zeit lang gewahrt man darauf fast gar nichts mehr und glaubt den Brand erloschen; plötzlich flammt prasselnd mit heller Lohe ein gewaltiger Burianbusch empor, im Nu erfaßt die Gluth seine Nachbarn, die hohen, ästigen Stengel drehen und winden sich wie in Schmerzen, laut knistert und knallt es, eine gewaltige Feuersäule steigt himmelan, nur einen Augenblick sichtbar, dann sinkt nach der erbarmungslosen Vernichtuug der höherstehenden Gewächse das Element wiederum wie beruhigt herab in das niedere Gras und frißt darin weiter. Es gebehrdet sich dabei fast wie ein lebendes, höchst capriciöses Wesen, einige Zeit lang scheint es unbeweglich zu stehen, auf einmal aber läuft es mit Pfeilesschnelle, gleichsam dem Winde voraus, eine lange Zeile vorwärts und läßt einen ganzen Streifen völlig unberührt, welchen man nunmehr für verschont hält; plötzlich aber steht auch dieser in Brand, man weiß nicht wie; der Luftzug scheint fast keinen Einfluß auf die Flamme zu haben, so zickzackartig, schlangengleich fährt sie einher. Nach und nach beginnt eine immer dichter werdende rothe Rauchwolke sich über den Boden zu lagern, seltsam wogt und wälzt sie hin und her, vorwärts und rückwärts; bald hebt sie sich empor und verstattet völlig freien Durchblick, bald rollt sie sich in dichte Ballen zusammen und streicht vor den züngelnden Flammen dahin, ähnlich den langen Wogenkämmen des unruhigen Meeres.

Jeder heftigere Windstoß schleudert den Brand weit hinaus in die Steppe, so daß er einem entfesselten Strom ähnlich dahin und dorthin sich ergießt, bisweilen Inseln bildend, die er aber später gleichfalls überfluthet, und der unheimliche Anblick wird erhöht durch die Unsichtbarkeit der Flammen im hellen Tageslicht, die sich nur zeigen, wenn besonders dichte Massen auflodern. Ein brenzlicher Geruch, dem des erstickenden Torffeuers ähnlich, erfüllt weit und breit die Luft, in welcher Milliarden von schwarzen Stäubchen und Fäserchen umhertanzen und in einem Augenblick den Zuschauer überpudern; die Wärme des Bodens, welchen die Flamme verlassen hat, ist sehr fühlbar. Das großartige Schauspiel fliehender Heerden von Büffeln oder Antilopen, dazwischen Puma’s oder Leoparden, wie in den Prairien und Pampas der neuen Welt und in den Savannen des Caplandes, fehlt hier gänzlich und ich bedaure sehr, einem solchen drastischen, obgleich etwas abgenutzten Motiv der Schilderung entsagen zu müssen; hier wird es höchst kärglich repräsentirt durch arme Nager und Haidevögel, die aus ihren Schlupfwinkeln vertrieben werden, durch einige flüchtige Hasen und durch Raubvögelschwärme, welche dem Qualm von ferne folgen, um nach gerösteten Leckerbissen zu spähen. Nur sehr selten mag es stattfinden, daß Heerden oder einzelne Weidethiere von einem Steppenbrand überrascht werden; von dabei vorkommenden Unglücksfällen hört man niemals erzählen.

Eigenthümlich erscheint das Aussehen der abgebrannten Steppe mit ihrer leichten, dünnen Aschendecke und den schwarzen Pflanzenresten, welche bald ihre Form verlieren, denn der Regen wäscht Alles durcheinander und hinab in den von tausend feinen Rissen klaffenden gleich einem Schwamm porösen Boden. Kaum sendet aber die Frühlingssonne die ersten intensiv warmen Strahlen, so verwandelt sich auf einmal, wie durch einen Zauber, daß schmutzige Grau der Fläche in ein hellgoldiges Grün; Millionen feiner Blattspitzen keimen[WS 2] daraus empor und bilden in wenigen Tagen einen dichten Teppich, welcher ebenso sehr das Auge erfreut, wie Gaumen und Magen der in der langen Winterhaft elend heruntergekommenen Nutzthiere. Das Behagen muß man sehen, mit welchem sie der langentbehrten Weide zueilen, und die Schnelligkeit, mit der sie im Ueberflusse die verlorenen Kräfte und die Körperfülle wiedergewinnen, um den fabelhaften Reichthum dieses jungfräulichen Bodens kennen und würdigen zu lernen.

Noch Vieles könnte ich erzählen aus den russischen Steppen: von dem Nomadenleben der Hirten, von den sonderbaren Völkerstämmen, die sie bewohnen, von den Wagenkarawanen, deren endlose Reihen dem Markte von Odessa oft weit, weit her die goldenen Körner der Ceres zuführen, von den Lagern ihrer Führer und der Jagd nach den während der Nacht entlaufenen Zugthieren, von den Schenken und Ansiedelungen, von den Brunnen mit Wasserhandel und den Arbusenverkäufern an den breiten Wegen, wo jeder Wagen eine neue Spur nimmt, wie es ihm beliebt, und gar Manches über die großen und kleinen Leiden, welchen der Wanderer in jenen Regionen nicht entgeht. Aber ich fürchte, die Geduld des Lesers schon zu lange in Anspruch genommen zu haben, und darf ihn kaum mehr ersuchen, mich zu begleiten auf einer abenteuerlichen Steppenfahrt in der Richtung von Balta nach Odessa, auf deren letzter Station, von Kasapontska ab, etwa 48 Werst weit, mich ein deutscher Stellmacher, Bischofberger heißt der Gute, fuhr oder vielmehr nicht fuhr; denn zwei Stunden nach der Abfahrt war er dermaßen in Schnaps betrunken, daß er sich zurückwarf auf meinen schmalen Strohsitz und mir die Lenkung des armseligen Einspänners überließ. Da hatte ich denn Gelegenheit, die Steppe in allen möglichen Hinsichten und Beleuchtungen kennen zu lernen, denn statt um 8 Uhr Abends anzulangen, fuhr ich bis 3 Uhr Morgens meinen branntweintodten Kutscher in der Irre herum spazieren. An diesen Abschied von der Steppe will ich gedenken mein Leben lang!

Sonderbar, daß gerade den Bewohnern der dürftigsten Regionen der Erde die Liebe zu ihrer kargen Heimath so tief in das Herz gewachsen ist! Auch der Sohn der Steppe fühlt sich nirgends wohl, als in ihrer Mitte, und daraus versetzt, erfaßt ihn unbezähmbares Heimweh, Ueberschleicht doch auch mich, der ich im Ganzen nur kurze Zeit mich ihrem Reize hingegeben, trotz aller reichlich genossenen Entbehrungen und kleinen Miseren, zeitweise eine Sehnsucht nach dem weiten, unbeschränkten, freien Gebiete der Steppe.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist das russische Flächenmaß Dessjatine. 100 Dessjatinen entsprechen ca. 1100 ha.
  2. Vorlage: keinem