Die Traglasten der Frauen
Von K. v. Sp…e.
Zahllos sind die Gegenstände der socialen Frage; aber ihr Feld ist so verschieden, wie die Staaten, worin sie spielt. Das Leben im Staate vernünftig, bequem und angenehm zu machen, den Menschen mit sich und der Welt zu versöhnen, Körper-, Geistes- und Herzensbildung zu fördern, religiöse und sittliche Pflege, daneben Erwerb und Vertrieb der materiellen Güter und endlich Entwicklung [129] aller Anlagen im Menschen, die alle diese Schätze zu erwerben, zu vertheilen und zu verwerthen vermögen – das ist ihre schöne Aufgabe.
Das Feld ist also ein unbegrenztes, und wenn wir hier nur einen einzigen Gegenstand auf ihrem materiellen Gebiete berühren wollen, so soll dies blos Anleitung geben, ähnliche Fragen, die bisher kaum der Beachtung werth gefunden wurden, dem Nachdenken und der Besprechung zu unterwerfen.
Verdienstlich ist es unstreitig, wenn z. B. dem Volke eine Last abgenommen wird, deren es schon so viele trägt, und die es aus Unverstand sich selbst auflud, sie sei groß oder klein. Groß ist sie immer, wenn sie tief hinabreicht in die täglichen, ja stündlichen Lebensverrichtungen, Verhältnisse und Gewohnheiten, wenn Viele, sehr Viele an dieser Last tragen, wenn die niederen Classen mehr als nöthig sich krümmen müssen, um uns Genüsse zu verschaffen. Der Werth der Abhülfe nimmt dann zu in dem Verhältniß, als Meinung und Gewohnheit für das Hergebrachte allgemein geworden.
In einer Berliner Zeitung von 1858 hat man gelesen, daß das Problem, Lasten mit geringerer Kraftanstrengung als bisher fortzubewegen, gelöst sei. Man habe nämlich eine Vorrichtung an den Lastwagen erfunden, welche nur den dritten Theil der Kraft zu deren Fortschaffung erfordere und die Kosten der Vorrichtung und Instandhaltung seien unbedeutend gegen die dadurch bewirkte Ersparniß. Ein Lastwagen, welcher jetzt zur Fortbewegung dreier Pferde bedürfe, werde künftig von einem Pferde gezogen werden. – Wir glauben nicht an diesen Artikel. Aber wäre es möglich, die Reibung dergestalt zu überwinden, so wäre diese Erfindung ein unschätzbarer Gewinn für das Leben, das um so bequemer wird, je wohlfeiler es herzustellen ist.
Und so lassen sich viele Gegenstände und Gewohnheiten in den verschiedenen Gegenden und Ländern betrachten, die alle mehr oder weniger tief eingreifen in den Haushalt des Volks, die alle das sociale Leben verschiedenartig gestalten. Wie z. B. eine körperliche Last von einem Menschen getragen, bewegt, fortgeschoben oder gezogen wird, wie die Zugthiere gebraucht und angeschirrt werden, wie überhaupt die Kraft zur Last in vielen Stücken vertheilt wird, wie die Pumpenwerke, die Kindeln auf die Straße ausgehen, wie die Oefen, die Feuerheerde, die Geschirre des täglichen Gebrauchs in Haus und Hof beschaffen sind - das Alles ist fast in allen Gegenden verschieden. Gleichwohl kann es nach Maßgabe der Localität und der eigenthümlichen Verhältnisse nur eine Zweckmäßigkeit geben, wie es nur eine Wahrheit geben kann. Was ist nun das Richtige, das Beste? Ist es z. B. besser, daß die Frauenspersonen ihre Lasten auf dem Kopfe tragen, oder an den Händen, oder auf dem Rücken, entweder in langen Gefäßen von Holz oder Flechtwerk, wie die rheinischen Winzer mit ihren langen Böcken, [130] oder wie die thüringer Frauen in langen Kiepen, oder aber wie die Frauen in Kurhessen in ihren plumpen Kötzen, oder in der Dresdener Gegend mit ihren kurzen, weiten, fern abstehenden Tragkörben? – wie Figuren zeigen.
Eins muß doch das Richtige sein, nachdem der Arzt die Sanitätsrücksicht festgestellt hat.
Man kann in unserer Zeit als zuverlässig annehmen, daß Einrichtungen für den Militairstand als das Zweckmäßigste, Wohlfeilste und der Gesundheit am wenigsten Schädliche zur allgemeinen Geltung gekommen sind, und darum auch für das bürgerliche Leben manche Nachahmung verdienen. Denn bei der Masse der Heere hat der Kriegsherr das größte Interesse, daß seine Soldaten so wenig als möglich Last tragen, daß sie dabei gesund und kräftig bleiben, um stets mobil und kriegstüchtig zu sein. Er hat daher das Bestmögliche für die Soldaten herausgefunden. Dahin gehört denn auch, daß die alten, dicken, schweren, vom Rücken weit abstehenden Tornister, wie sie vor 1806 bei allen Heeren in Gebrauch waren, abgeschafft und durch andere längere und leichtere, platt und dicht an den Rücken sich anschließende Tornister ersetzt wurden, wie sie noch jetzt überall beim Militair gebräuchlich sind, dem sie eine mehr gerade Haltung und Mobilität verschaffen.
Dasselbe ist bei den Tragkörben der Dresdner Frauen der Fall. Auch jene sind ganz ähnlich den alten Soldatentornistern. Sie concentriren die Last auf einen Seitenpunkt des Körpers, schließen sich diesem nur insofern an, als sie auf dem Rücken weniger hängen als liegen, diesen nach vorwärts beugen, um den Schwerpunkt und dessen Unterstützung zu suchen. Solche Träger gehen daher stets gebeugt, und keuchen unter der Last. Ihr Körper beschreibt eine um so größere Curve, je schwerer die Last ist. Die Gesetze der Physik zeigen, daß, sobald der Schwerpunkt eines Körpers unterstützt ist, derselbe nicht fallen kann, und daß er um so fester steht, je mehr er in der Nähe der Grundfläche liegt. Thiere und Menschen, deren Theile sich bewegen, ändern dadurch jeden Augenblick die Lage ihres Schwerpunkts, und suchen diesen durch ihre Stellung. Der schwer tragende Körper (die Kraft) muß sich so lange krümmen, bis der Schwerpunkt in die Grundfläche fällt. Bei den rheinischen Mädchen, die ihre Last auf dem Kopfe tragen, fällt der Schwerpunkt in gerader Linie zwischen ihre beiden Füße. Nicht so bei den Soldaten alten Styls, noch weniger bei den hessischen und Dresdner Frauen, die stets eine Ausgleichung suchen und von der natürlichen Stellung sich entfernen müssen. Wie diese armen Geschöpfe unter ihrer Last keuchen, ist ersichtlich, aber wie das Rückgrat und die Muskeln der Brust und des Unterleibes mehr als nöthig gedrückt werden – das wird nur gefühlt, nicht gesehen.
Es ist zu wünschen, daß die Aerzte des Landes sich dieser und ähnlicher Fragen des socialen Lebens bemächtigen und mit den Regierungen zu Rathe gehen möchten, wie so manche schädliche Gewohnheit des Landvolks abzustellen und in ein Besseres zu verkehren sei. Denn das eben ist das nobile officium des Arztes, daß er durch Rath und That Krankheiten, Körpermißhandlungen und weit verbreiteten Uebelständen vorbeuge, daß er überall in socialen Verhältnissen aufspüre, wo etwas durch seine Hülfe gebessert, Gemeinwohl gefördert werden könne. Der Arzt soll sein wie der Blitzableiter, nicht blos wie die Feuerspritze. Warnt doch schon der Hahn seine Hühner, wenn der Raubvogel sich in der Luft zeigt, warum nicht auch ein verständiger Mensch die Unverständigen? – Keine Gesetzgebung, keine das Gemeinwesen betreffende Verordnung, die Leben und Gesundheit möglicherweise gefährden könnte, wie z. B. im Zollwesen, sollte ohne ärztlichen Beirath zu Stande kommen. Aber alle Staatsweisheit ist Monopol anderer Classen, die das Leben des Menschen wie ein Schemen ansehen, die auf das Naturwissen und die Erfahrung des Arztes, an den das sociale Leben so nahe herantritt, tief herabblicken.
Die Frage, wie solchen Mißständen abzuhelfen sei, wenn sie einmal erkannt sind, ist leichter zu beantworten, als durchzuführen. Gewohnheiten, die seit vielen Menschenaltern in verjährter Uebung sind, die durch Ansicht und Oertlichkeit eine besondere Beschönigung finden, werden schwer, sehr schwer abgeschafft. Das Sicherste ist wohl, eine andere Gewohnheit an die Stelle zu setzen, durch Beispiel zu wirken und so nach und nach auf die Ueberzeugung hinzuarbeiten, daß das Neue doch Vorzüge habe und darum nachzuahmen sei. Ist dann einmal aus einflußreichen Kreisen Bresche geschossen, dann wird auch der gemeine Troß, der nicht nachdenkt, nur nachzuahmen pflegt, nachfolgen.
Man wähne doch nicht, daß diese und ähnliche Volksgewohnheiten als unbedeutend anzusehen sind. Wenn von jeder Haushaltung in einem Staate nur einige Pfund Kraft in verschiedener Weise täglich erspart werden, welche Ziffer macht das nicht bei den Millionen, die von so viel Lasten befreit werden! Und ein Pfund Kraftersparung wiegt mehr als ein Pfund Last auf.
Werden diese Worte günstig aufgenommen, so findet sich wohl Gelegenheit, einen andern Gegenstand des socialen Lebens herauszugreifen und zu besprechen.