Die Volkstribunen von Hamburg

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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Die Volkstribunen von Hamburg
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 856, 858–860, 861–866
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Volkstribunen von Hamburg.

Ein Bild aus deutscher Geschichte.
Von Rudolf von Gottschall.

Es war im März 1685 – eine fieberhafte Unruhe hatte sich aller Bewohner der Elbe- und Alsterstadt bemächtigt, ein unerhörter Vorgang die Gemüter aufs tiefste erregt: einer der angesehensten Bürger der Stadt, der Kaufmann Hieronymus Snitger, ein eifriger Vorkämpfer für die Rechte des Volkes, war von lüneburgischen Reitern in Hamm vor den Thoren der Stadt aufgegriffen und fortgeschleppt worden.

Das war ein Hinundherwogen in den Straßen; Meister und Gesellen kamen frisch von der Arbeit, in Haus- und Arbeitskleidern, mit dem Schurzfell, ihre Werkzeuge in der Hand, manche nicht bloß mit Hammer und Schlägel, sondern auch mit Waffen gerüstet. Frauen lugten aus allen Fenstern, rufend und fragend, oder drängten sich in das Getümmel. Galt doch Snitger für den „Vater des Vaterlandes“, und es war, als ob der Stadt Hamburg die tüchtigste Wehr und Waffe entrissen worden wäre.

Vor dem Rathause versammelte sich das Volk. Mochten seine Bilder, Wappen und Statuen, seine gemalten Fenster im Sonnenschein des Vorfrühlings blitzen – die Stimmung des Volkes war trübe, gedrückt, verbittert.

Mit freudigem Zurufe wurde nur ein Mann begrüßt, der mit einem großen Gefolge erregter, lärmender Anhänger auf dem Marktplatze erschien, ein hochgewachsener Mann, hager, düstern Blickes, mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen.

„Da kommt ja Koordt Jastram,“ sagte der Oberalte Möller zu seinem Nachbar, dem greisen Mohrmann, dessen glühendes Gesicht infolge der Aufregung einen Schlagfluß anzudrohen schien und der mit Fragen auf ihn einstürmte, „das ist ja Snitgers bester Freund, und da werden wir leicht erfahren, wie die Sachen stehen.“

Und er wandte sich mit einer Anfrage an Jastram, der im Ausschuß der Bürgerschaft das Amt des Kriegskommissars bekleidete.

Hastig und ungeduldig wie seine Art war, erwiderte Zastram: „In Hamm, dicht bei seinem Besitztum, haben sie Snitger in dem Wagen überfallen, worin er mit seiner jungen Frau saß, den Kutscher vom Bock geworfen, beide mit der Pistole bedroht, wenn sie sich regen und um Hilfe rufen würden. Und dann ging’s wahrscheinlich an die Elbe, um hinüber ins Lüneburgische zu gelangen. Die Schurken – doch wir kennen sie! Der Kutscher, der zur Stadt zurückfloh, hat sie uns beschrieben, Soldatengesindel, aus dem Dienst entlassene Offiziere, Kornetts, Sergeanten – und dahinter steckt der Resident des Kaisers, von Rondeck. Ich gehe aufs Rathaus, um dessen Verhaftung zu beantragen: der abgesetzte und flüchtige Bürgermeister Meurer hat die Hand mit im Spiel. Mir wollen sie ja auch an den Kragen: Snitger und ich – wir gelten für die Urheber aller Bosheit in dieser Stadt, weil wir getreulich die Gerechtsame derselben wahren; doch man muß aufräumen mit den langfingerigen Hansen, die Stunde dazu hat geschlagen.“

„Aber Snitger, unser Snitger,“ rief der Oberalte, und die Bürger, die mit besorgten Mienen umherstanden, stimmten ein, „wird er denn bald wieder freikommen?“

„Das laßt meine Sorge sein – schon sind die reitenden Diener aus dem Steinthor galoppiert, mit ihnen Schweder von Brüllen, Snitgers Neffe. Ein Preis von tausend Thalern ist der Mannschaft ausgesetzt, welche Snitger lebendig wiederbringt. Die Elbübergänge werden bewacht – unsere Musketiere patrouillieren die Elbe entlang. Wir werden den Raubgesellen ihre Beute abjagen – zweifelt nicht!“

Darauf begab sich Jastram in den Ratssaal, um dort im Namen der Dreißiger zu sprechen, eines Ausschusses aus der Bürgerschaft und den Oberalten, dessen Macht in den jetzigen bedrohlichen Zeitläufen dem Rat über den Kopf zu wachsen drohte. Die Ratsherren waren einstimmig in der Verurteilung der schnöden Gewaltthat; mancher hegte Furcht, des stillen Einverständnisses mit den Thätern beschuldigt zu werden, und schrie um so lauter gegen sie. Der Anhang des vertriebenen Bürgermeisters Meurer war noch groß im Rat und daß Snitger niemals nach Hamburg zurückkehren möge, das gehörte zu den frommen Wünschen, die unter dem Beichtsiegel nicht verhehlt worden wären.

„Dahin ist es gekommen,“ rief Jastram, mit der nervigen Faust auf den Ratstisch schlagend, „niemand ist mehr seines Lebens sicher – gedungene Banditen verbergen sich in unsern Mauern und kriechen hervor zu schurkischer That. Warum das alles? Weil der Rat hier zwei Gesichter hat, mit dem einen den Bürgern zulächelt, wenn sie die Freiheit der Stadt vertreten, mit dem andern nach dem Kaiser und dem Lüneburger schielt! Da war der Bürgermeister Meurer doch noch ein ganzer Mann. Festnageln wollt’ er dies Hamburg an Kaiser und Reich; er glaubte an diese Herrlichkeit, die von den Franzosen und Türken in Fetzen zerrissen wird, während die Fürsten sich in selbständigen Bündnissen von dem Reiche loslösen; er glaubte daran, und wenn ein güldenes Gnadenkettlein für ihn abfiel, er hätte sich damit nicht erdrosselt. Doch er wußte, was er wollte – er hat es geduldet, daß des Kaisers Strafmandate an Rathaus und Börse angeschlagen wurden, er hat den Receß mit dem Fürsten Windischgrätz, der sich hier als prunkvoller kaiserlicher Satrap aufspielte, mit all den 71 Punkten durchgesetzt – und die Bürger ließen sich über das Ohr hauen; er hat insgeheim mit den Kaiserlichen sich verschworen – die Briefe sind ja in unsere Hände gefallen! Wir haben ihn abgesetzt, er ist flüchtig geworden und hat seinen Eid gebrochen. Das mag ihm der Himmel anschreiben und wir werden’s thun, wenn wir ihn einmal packen; aber solche Eide bricht man, solange die Welt steht – und kann dabei ein ganzer und großer Mann sein!“

Ein Murren über die Gottlosigkeit des Volksmannes ging durch die Ratsversammlung; doch Jastram fuhr unbeirrt fort: „Ich weiß, Meurers Geist spukt noch bei euch!“

Abermaliges Murren – einige sprangen mit drohenden Gebärden gegen den verwegenen Sprecher auf, doch Jastram sagte mit verächtlicher Handbewegung: „Laßt es gut sein, würdige Herren! Ihr wachst doch nicht, wenn ihr euch auch auf die Zehen stellt! Der Meurer sitzt im Lüneburgischen, daher der ganze Jammer; der Herzog ist entrüstet, weil wir seine Räte bei der letzten Gesandtschaft nicht mit dem nötigen Respekt behandelt haben; er hat unsere Waren mit Beschlag belegt, unsere Briefe erbrechen, unsere durchreisenden Kaufleute verhaften lassen – und jetzt – ein räuberischer Anfall vor den Thoren unserer Stadt! Da gilt es, mit dem eisernen Besen alle fortzufegen, die unsere Gerechtsame kränken. Was Kaiser und Reich – wir sind eine freie Stadt – zum Teufel mit allen Abmachungen und Recessen, die uns die Hände binden! Kein Kaiser soll den Verbrecher schützen, der sich an unsern Bürgern vergreift – auch den Rondeck nicht! Ihr ruft: ‚ein Gesandter‘, ihr schreit: ‚Völkerrecht!‘ Das Recht des Volkes ist heiliger als alles Völkerrecht.“

Doch auch der gemäßigte Bürgermeister Schlüter widersprach:

„Und wenn wir uns auch vor des Kaisers Zorn nicht fürchteten, wir würden verurteilt werden in deutschen Landen von allen, welche das gute Recht kennen und achten. Gesandte sind unantastbar.“

„Nun,“ rief Jastram aufbrausend, „wenn ihr denn glaubt, man könne Politik treiben wie weißgekleidete Mädchen, die nirgends anstoßen wollen vor Furcht, es könne ein böser Fleck hängen bleiben – meinetwegen! Doch dann stellt dem Residenten wenigstens eine Wache vor die Thüre, damit er nicht entkommt. Kann man ihn nicht packen als den Hauptschuldigen: er ist wenigstens der Hauptzeuge – und den dürfen wir nicht freigeben!“

Darüber entspann sich lebhafte Beratung. Die Mehrzahl der Ratsherren war geneigt, dem Vorschlag Jastrams beizutretcn.

Da trat ein Dragonerkapitän säbelklirrend in den Saal und flüsterte dem Bürgermeister etwas ins Ohr.

[858] Resident Rondeck hat die Stadt verlassen!

Der Bürgermeister teilte es der Versammlung mit.

„Während wir beraten, handeln die andern“, rief Jastram vorwurfsvoll, „nun seht zu, wie ihr das aufgeregte Volk beruhigt! Hätten wir den Rondeck festgehalten – man hätte wenigstens unsern guten Willen gesehen. Jetzt geht’s euch an die Perücken, würdige Herren!“

Der Abend glomm indes durch die bunten Fensterscheiben des Rathauses; bei der drohenden äußeren und inneren Gefahr beschloß der Rat, die Nacht hindurch Sitzung zu halten – und bald fielen die Lichter der angezündeten Lampen auf die bekümmerten, faltenreichen Gesichter.

Ganz Hamburg war nun im Fieber und schlummerlos; heftige Windstöße fuhren durch die Luft, rüttelten an den alten Patrizierhäusern und schaukelten die kupfernen Laternen mit den erst seit kurzem eingeführten Straßenleuchtern; der Mond warf durch zerrissenes Gewölk seinen rasch wieder verdunkelten Lichtstreifen auf das breite Alsterbecken und die masten- und flaggenreiche Elbe. In den Hafengassen drängten sich die Schiffsleute, die Barken- und Schonerführer und sprachen tapfer in den Matrosenschenken dem Branntwein zu; dann zeterten sie auf der Straße gegen den Rat; in den Brauhäusern saßen die zünftigen Bürger beratend beisammen und mancher Faustschlag erdröhnte auf den Tischen. Spät am Abend noch waren Trommler durch die Straßen gezogen, begleitet von einer bunten, lärmenden Volksmenge; sie trommelten den Rittmeister Hertwig aus, einen der Entführer Snitgers, auf dessen Haupt ein Preis von hundert Thalern gesetzt war. Lichter brannten in allen Häusern und wanderten hin und her. Die Soldaten der Nachtwache mit ihren siebzehn Schuh langen Spießen, in ihren „unsträflich gemachten“ Rüstungen hatten diesmal das Zusehen und beteiligten sich an den erregten Gesprächen der Bürger, die in Gruppen beisammen standen, statt für die Nachtruhe zu sorgen und die Störenfriede in die Häuser zu jagen. Ueber die Wälle aber, vom Millernthor zum Dammthor, vom Dammthor zum Steinthor eilte der Kriegskommissar Koordt Jastram, sprach bei den Wachen vor und musterte sorgsam ihren Stand, denn es lag viel Unheil und Kriegsgefahr in der Luft.

Der anbrechende Morgen zeigte ein freundlich Gesicht – und schon in der Dämmerung hatten sich die Straßen gefüllt. Noch keine Nachricht von Snitger – die Erbitterung wuchs; man zeigte schon auf die Häuser der Landesfeinde, die man niederreißen müsse. Große Massen wälzten sich nach dem Steinthor. Dorthin mußte die erste Kunde gelangen, ob es den Nachreitenden gelungen war, die Räuber einzuholen.

Die Thore aber blieben geschlossen – und Jastram hatte Mühe, die ungestüme Volksmenge am Steinthor im Zaum zu halten. Die Sonne stieg höher, die Ungeduld der Menge wuchs – schon mußte Jastram fürchten, daß sie, in die Stadt zurückstauend, Verwüstung anrichten und Unheil bringen würde über alle, an deren Schuld sie glaubte.

Da dröhnte Hufschlag draußen vor der Brücke; man kannte den Reiter, der auf atemlosem Roß angesprengt kam, und öffnete ihm das Thor: es war Schweder von Brüllen.

„Snitger ist befreit,“ rief er, sich den Schweiß abtrocknend – und das hallte mit tausendfachem Echo weit stadteinwärts. Die aber am nächsten standen, erfuhren die Kunde, welche der Reiter noch stockend mit sparsamem Atem vorbrachte: „Sturmschnell ging’s auf die wilde Jagd, wir hatten uns mit den Reitern verstärkt, welche der Hammer Vogt uns stellte – wir konnten die Spuren der Räuber verfolgen auf allen ihren Zickzacklinien. Sie hatten inzwischen den Landungsplatz der Artlenburger Fähre an der Elbe erreicht – da hofften sie, bald ihren Raub auf einer Lüneburger Festung zu verbergen, wo es Herrn Snitger gegangen wäre wie einst dem Lübecker Wullenweber – man hätte ihm auf der Folter Geständnisse abgepreßt, ihn gemartert und gerichtet; doch der Himmel hatte ein Einsehen. Die Artlenburger Fähre, die am jenseitigen Ufer der Elbe lag, ging nicht bei Nacht und regte sich nicht, trotz aller Zurufe. In einem naheliegenden Armenhäuschen wurden die Gefangenen untergebracht. Fluchend und schimpfend ging der Rittmeister hin und her, der Kornett von Gehlen, ein sauberer Bursche, verhöhnte Snitger und führte unziemliche Reden gegenüber seiner Frau, so daß sie Thränen vergoß und ihr die Schamröte in die Wangen stieg. Mit dem ersten Morgengrauen kam die Fähre herüber; der Rittmeister mahnte, die Pferde zu besteigen; der Wagen rasselte eben schwer über die Bohlen – da wie der Blitz kamen wir den Berg herunter – Knall auf Knall, der Rittmeister verfehlte mich – ich schlug ihm mit der Pistole ins Gesicht und meine Reiter faßten ihn. Nach kurzem Kampfe wurden alle bewältigt – Snitger ist frei, er weilt noch mit seiner Frau in Bergedorf; doch in einigen Stunden kommt er nach der Stadt.“

Das war ein grenzenloser Jubel, der sich von Straße zu Straße fortpflanzte; nun regte sich alles, den Heimkehrenden einen festlichen Empfang zu bereiten. Könige und Fürsten hatten Hamburg besucht im Laufe des Jahrhunderts, aber noch keinem war solcher Empfang zu teil geworden.

Von dem Rathausplatz bis zur Grenze des Hamburger Gebietes Kopf an Kopf, alt und jung, Weiber und Männer, Vornehme und Geringe, bis hinauf zu den Firsten der Dächer, den Zinnen der Mauern, den Wipfeln der Bäume. Aus den Turmluken und Fenstern wehten Gewerks- und Schiffsflaggen; Freudenschüsse ertönten und alle Glocken läuteten. Mit lautem Jubelruf wurden die Geretteten begrüßt, Zuckerwerk und Südfrüchte, Lorber- und Myrtenkränze ihnen in den Wagen geworfen, Wimpel und seidene Bänder daran geheftet, und ringsum ertönte der Ruf: „Heil dem Vater des Vaterlandes!“

Jeronimo Snitger winkte abwehrend zur Rechten und zur Linken; er hatte solchen Triumph nicht ersehnt; zu unverdient erschien ihm diese Huldigung; im stillen fürchtete er, daß auf so maßloses Glück ein böser Rückschlag folgen werde. Er hatte etwas freundlich Leutseliges, Gewinnendes in seinem ganzen Wesen; seine Herzlichkeit entzückte das Volk, für dessen Rechte er stets mit Wärme eingetreten war. Er war in Spanien geboren, wo sein Vater längere Zeit seßhaft gewesen, und hatte auch dort seinen Vornamen Jeronimo erhalten; in der Welt war er viel herumgekommen auf Geschäftsreisen, als ein angesehener Kaufmann mit weitreichenden Verbindungen; selbst wohlhabend, ja vermögend, hatte er doch nie die Partei der Reichen genommen, sondern war stets ein Anwalt der armen Leute gewesen. Sein großes, sanftes Auge wandte er bisweilen seiner jungen Frau zu und drückte ihr herzlich die Hand – ihr gönnte er alle die Ehren, den schönen Triumph nach überstandenem Herzeleid. Und die strahlend hübsche Katharina war heute ganz Sonnenschein; sie dankte mit Kußhand und Kopfnicken. Solch ein Glück hatte sie nicht geträumt, als sie vor kurzem ihre Hand dem braven stattlichen Manne reichte.

Der Rat empfing Snitger und seine Frau feierlich mit herzlichem Glückwunsch; das Volk geleitete sie nach Hause, ihnen Schutz gelobend bei künftigen Fährlichkeiten. Hohe Freudenfeuer durchleuchteten des Nachts die Gassen; das Volk tanzte fröhlich um dieselben beim Klange der Musik; alle Fenster waren erleuchtet; ganz Hamburg schwamm in einem Lichtmeer: es war ein seltenes Freudenfest.

*  *  *

Einige Zeit nach diesem Triumphzug war Snitger in seinem Garten in Hamm mit Hacke und Spaten beschäftigt, die Erde für neue Anpflanzungen aufzugraben. Seine Gattin trat hinzu, als er gerade eine Ruhepause machte; beide erfreuten sich an dem üppigen Tulpenflor, den Snitger durch seine Handelsverbindungen mit Holland erhalten hatte. Katharina schmiegte sich liebkosend an ihn und sagte dann mit der Herzenswärme, die in ihrem Wesen lag:

„Sieh, lieber Mann – wie schön ist’s bei unseren Blumen, so friedvoll alles, und im Schatten dieser Linden ist ein freundlich Ruheplätzchen, wie sich’s schöner nicht denken läßt! O zieh’ dich doch hier aufs Land zurück, laß das ganze städtische Treiben im Stich! Dort im Armenhäuschen an der Elbe haben wir ja in jener entsetzlichen Nacht darüber nachdenken können, wohin es führt!“

„Es ist unmöglich! Ich bin Mitglied der Dreißiger, ich muß für das Wohl der Stadt sorgen; man glaubt an mich, man vertraut mir in diesen schwierigen Zeiten. Ich habe vieles begonnen, was ich zu Ende führen muß.“

„Ueberlaß doch das dem Jastram! Dem ist nur wohl, wenn alles drunter und drüber geht; glaube mir’s, das ist kein Mann [859] für dich! Und wenn etwas mir unsere junge Ehe verbittert, so ist es diese Freundschaft. Er ist wild und grausam und hat es durchgesetzt, daß unsere Entführer ihr Haupt auf den Block legen mußten. So häßliche Leute diese Soldknechte waren – man hätte doch mit ihnen ein christlich Erbarmen haben müssen. Und auch sonst hetzt er fortwährend zum Krieg drinnen und draußen; er kommt mir vor wie der Klöppel einer Sturmglocke, ich aber höre noch immer unsere Hochzeitsglocken läuten, die uns ein friedlich Glück versprachen.“

Snitger, auf den Spaten gestützt, sah auf sein Weib mit fast andächtigem Blick, als wäre sie in der That eine Botin des Friedens in dieser von Kämpfen arg zerrütteten Welt.

„Ich wäre am liebsten,“ sagte er, „ein unter Blumen wandelnder Weiser, wie jene frommen Männer von Hindostan, welche in den Kelchen der Lotosblumen die Wiege ihrer Götter sehn; oft scheint es mir sündhaft, zu zerstören, was lebt und atmet, und ich gönne jedem Wesen seine Art und sein Recht; doch hier ist nichts als Kampf und Notwehr ringsum und wer das Gute will, muß zertreten, was ihm feindlich ist; und unser friedliches Heim, wo wir so glücklich sein könnten, wird umspannt von einem andern größeren Heim, der Vaterstadt; da gilt’s zu sorgen für die vielen, die Hilflosen zu schirmen, dem Unrecht zu wehren; da sind die Stürme zu Hause und die Unwetter und da muß der Mann seine Kraft bewähren und den tödlichen Blitz nicht fürchten. Ja, liebe Käthe – glücklich bin ich, daß ich bei dir eine Zufluchtstätte finde, wo ich rasten kann, wenn ich müde und zerschlagen und oft lahm in meiner Lieb’ und meinem Glauben an den Herd des eignen Hauses flüchte.“

Eine Thräne glänzte im Auge der Hausfrau: sie wollte ja nichts als sein Glück! So lebte sie stets still zu Hause, mit Nähen und Spitzenanfertigen beschäftigt, besuchte nicht die Lustbarkeiten, die damals im Schwang waren, putzte sich nicht aus wie die üppigen Ratsdamen mit Sammet und Taft, Gold und Silber. Und wie einfach war nicht ihre Hochzeit gewesen, auf ihren Wunsch, obschon Snitger reicher war als die Graduierten, die mit ihren Aemtern und Würden protzten, und auch sie eine stattliche Mitgift hatte. Nur ein kleiner Kreis von Gästen war zur Hochzeit versammelt, obschon eine Verordnung des Rates doch 240 erlaubte, eine Zahl, die sonst von den prahlerischen Hansen oft überschritten worden war.

Ehe Käthe noch einmal ihrem Gatten sagen konnte, was sie auf dem Herzen hatte, knirschte der Kies unter den Tritten eines Gastes und das düstere Gesicht Jastrams zeigte sich hinter den Taxusbüschen. Frau Snitger ging seiner Begrüßung aus dem Wege; sie konnte ihm jetzt kein freundlich Gesicht zeigen; er war ihr gerade jetzt zuwider wie kein zweiter, und heucheln konnte sie nicht.

Koordt Jastram kam in gewohnter Hast; ihn kümmerte es nicht, daß er den Blumenflor auf den Beeten niedertrat, um rascher zu Snitger zu gelangen. „Die Lüneburger haben gesiegt – Gott verdamme sie! Seitdem wir ihnen den Fang abgejagt haben, ist der Herzog ungnädiger als je, und weil wir seine Gesandten damals despektierlich behandelt, weil wir den Meurer abgesetzt haben, der drüben in ihrem Lager spukt, weil wir die Räuber gerichtet, die zu seinem Nutz und Frommen geraubt, schickt er seine Truppen in die Vierlande und auf die Elbinsel und deckt den Friedensbruch mit des Kaisers Majestät, die zu allem herhalten muß! Das weißt du ja, aber man muß dir’s ins Gedächtnis zurückrufen; denn du bist sanft wie ein Lämmlein, wo es gilt, den Feinden wie ein brüllender Löwe entgegenzutreten. Doch was du nicht weißt: die Lüneburger haben den Moorwerder erobert; Oberst Meinecke hat sich überraschen lassen! Vors Kriegsgericht mit ihm!“

„Ein Fehler in der Kriegsführung –“

„Ist ein Verbrechen!“ rief Jastram, dem Freunde ins Wort fallend; „mit dem Schrecken müssen wir herrschen; denn überall lauert der Verrat; wir sind in einem verzweifelten Kampfe begriffen.“

„Das hab’ ich mir anders gedacht,“ sagte Snitger nachdenklich, „ich wollte der freie Bürger einer stolzen Stadt sein, in deren Ratschlüsse sie nicht alle hineinreden, nach der sie nicht alle die Hände ausstrecken dürfen. Und Meurer wollte unser freies Hamburg dem Kaiser in die Tasche praktizieren! Deshalb stand ich gegen ihn auf. Denn was hilft uns Kaiser und Reich? Was sind sie den Fremden draußen jenseit der Meere? Sie kennen nur Hamburg und seine Flagge. Kein Kaiser schützt uns vor den Piraten; wir selber säubern die Meere. Fest ragt die dreitürmige Burg in unserem Wappen, und das wilde Getier in dem Wappen der Fürsten mag in seinen Käfigen bleiben. Stolz wehn die Wimpel und Segel unserer Seeherrschaft in allen Meeren; sturmfest und wetterfest sind unsere Seeleute – was soll uns das seekranke deutsche Reich? Wir wollen selber bestimmen, was uns notthut, uns selbst regieren nach eigenem Gewissen, ohne Vermerk und Verbesserung von draußen und freche Strafandrohung – eine freie Stadt, unantastbar, ein Hort des Handels im Norden, jeder Bürger ein König! Und daß sie alle uns das neiden und hindern sollten, die Nahen und die Fernen – das hätt’ ich nicht geglaubt!“

„Weil dies aber so ist,“ versetzte Jastram, „so gilt es, jeden Vorteil zu nützen und gelegentlich den einen Bedränger gegen den andern auszuspielen. Wir brauchen einen Rückhalt gegen Kaiser und Reich und die Lüneburger. Der Kurfürst von Brandenburg ist ein wackerer und hochgesinnter Herr; aber er will sein Land und seinen Namen groß und herrlich machen. Seine Diplomaten vermitteln zu unsern Gunsten; doch er will’s mit den andern Reichsfürsten und auch mit dem Kaiser nicht verderben; darum ist er zaghaft und vorsichtig und dabei auch auf seinen Vorteil bedacht; denn er hofft auf einen günstigen Handelsvertrag. Es giebt nur eine Macht, die unsere Rechte energisch schützen will –“

„Du meinst – den dänischen König?“

„Ja, unsere Unabhängigkeit wäre ihm willkommen; er würde in einer freien Stadt Hamburg einen sehr erwünschten Bundesgenossen sehn; da hörten des deutschen Reichs Chikanen auf und blühen würde Handel und Verkehr zwischen Sund und Belt und unserer Elbe. Ich habe eben wieder mit dem Residenten Paulli verhandelt und ihn gebeten, zu dir herauszukommen – natürlich durchs Seitenpförtchen; denn solche Besuche dürfen nicht an die große Glocke gehängt werden.“

„Jastram,“ sagte Snitger, den warnenden Finger erhebend, „daß du nicht Staatsangelegenheiten und Herzenssachen vermengst! Die schöne Jngeborg, des Residenten Tochter, hat dir es angethan.“

„Sie liebt mich, den älteren Mann, und ich bin glücklich durch diese Liebe; sie ist ein feurig Mädchen, für Großes empfänglich, und sie glaubt an den Sieg unserer guten Sache.“

„Wir müssen genau prüfen und erwägen,“ versetzte Snitger, „ich um so mehr, als Dänemark bei dir einen zu wichtigen Stein im Brette hat: eine Dame, eine Königin! Doch auch mir erscheint es vorteilhaft, mit den Dänen Hand in Hand zu gehn.“

Inzwischen regte sich das im Laubwerk versteckte Gartenpförtchen und gleich darauf erschien der dänische Resident Paulli bei den Hamburgern.

Paulli war ein feiner Herr mit höfischen Manieren, einer Denkerstirn und einem scharf ausgeprägten Profil. Er nahm mit Jastram in der Laube Platz, und Snitger sorgte für feurigen spanischen Wein; ein reiches Lager von Malaga, das Erbe seines Vaters, füllte seinen Keller.

„Solch ein trautes Plätzchen im Grünen,“ sagte Paulli, sich behaglich die Hände reibend, „das fehlt uns in der Stadt, und wir Diplomaten können nicht aufs Land gehen; denn die königlichen Ordres können uns nicht nachlaufen und verlangen rasche Erledigung, zumal in so bewegten Zeitläufen. Die Lüneburger regen sich ja, wie ich höre.“

„Und haben,“ rief Jastram, „leider! einen kriegerischen Erfolg gehabt.“

„Und wenn sie weiter vorrücken, da geht’s der guten Stadt Hamburg an Hals und Kragen,“ sagte Paulli, „und auch den Dreißigern, denn die haben vor allem das Heft in Händen, und besonders auch hier meinen guten Freunden, auf deren Wohl ich jetzt trinke.“ Und über das Glas hinüber den beiden mit freundlichem Augengruß zuwinkend, fuhr er fort: „Mein König hat stets das Wohl eurer Stadt im Auge; wir wollen nicht, daß ihre Gerechtsamen gekränkt werden; die Meurerischen wollen die Gewalt einigen wenigen in die Hände spielen, die Bürgerschaft und ihre Aemter auflösen, eine dem Kaiser und dem Reichshofrat dienstbare Behörde schaffen. Wir aber halten’s mit der Bürgerfreiheit; Wir wünschen nicht, daß Fremde nach ihrem Gefallen die Commercia [860] der Stadt hemmen, der Bürgerschaft wohlhergebrachte Freiheiten kränken und sich zu ihren Obern und Richtern aufwerfen.“

„In der That,“ sagte Snitger, „Hamburg hat sich nie besser gestanden als in Freundschaft mit dem Hause Holstein; der Kaiser aber strebt nach dem Umsturz der Verfassung und der Privilegien.“

„Der dänische König,“ fügte Jastram hinzu, „ist der natürliche Schiedsrichter des Nordens; er hat uns im Pinneberger Vergleich unsere Neutralität, unseren Kommerz, unsere hergebrachten Rechte und Freiheiten gewährleistet.“

„Und steht dafür ein zu jeder Zeit,“ versetzte Paulli, und die Gläser klangen wieder fröhlich zusammen.

Jetzt nahm der dänische Geschäftsträger eine besonders wohlwollende Miene an, wie ein Preisrichter, der eine Prämie oder eine Belobigung erteilt, und zog zwei wohlversiegelte Dokumente aus der Tasche.

„Ich freue mich, für des Königs Freundschaft und guten Willen einen greifbaren Beweis erbringen zu können. Bei den bösen Anzettelungen gegen die besten Bürger Hamburgs stellt ihnen unser Herr und König hiermit zwei Schutzbriefe aus und hält damit seine mächtige Hand über sie.“

Paulli sah die beiden Volksführer prüfend an, doch sie griffen nicht freudig zu, wie er hoffte: sie zögerten und ihre Mienen verdüsterten sich.

„Viel Dank dem König für seine Gnade,“ sagte dann Snitger, „doch zunächst schützt Hamburg seine Bürger selbst und wir würden in große Fährlichkeiten kommen und man würde sagen, daß uns des Königs Gunst mehr gezeichnet als ausgezeichnet hat.“

„Viel Dank,“ sagte auch Jastram in seiner kurz angebundenen Weise, „doch wir sind noch nicht bankerott.“

„Für später dann,“ sagte Paulli mißmutig, indem er die Dokumente zusammenrollte, „doch daß ihr von den Lüneburgern arger Dinge gewärtig sein müßt, das habt ihr ja wohl erfahren; ich glaube, Herrn Snitger wird es nicht wohl zu mute gewesen sein, als er da gefangen im Armenhäuschen an der Fähre saß.“

Dann aber leerte Paulli wohlgefällig sein Glas und sagte mit schadenfrohem Lächeln: „Und auch die Herren Diplomaten von Celle-Lüneburg gehen nicht gerade fein säuberlich zu Werke – haha, davon wissen ja eure Herren Deputierten zu erzählen, die nach Wien gegangen sind, um die Sache beim Kaiser ins reine zu bringen. Mein liebwerter Kollege Mahrenholz, der beim Reichshofrat den Lüneburger Herzog vertritt, hatte ja kaum vernommen, daß eure Deputierten in Wien eintreffen würden, als er ihnen in Leopoldstadt entgegenritt mit vier Dienern, welche alle spanische Rohre trugen, und dann durch die Fenster der Karosse auf eure Abgesandten losschlug, während seine Diener die Bedienten derselben durchprügelten. Kaum mit dem blauen Auge sind die Herren davongekommen, und es wäre noch schlimmer abgelaufen, wenn das Volk sich nicht dazwischen gedrängt hätte. Das müssen wir Auswärtigen allerdings sagen, kunterbunt genug geht es im deutschen Reiche zu, und wir Diplomaten könnten etwas lernen, wie man seine Sache mit schlagenden Beweisen führt.“

Rat Paulli rieb sich vergnügt die Hände, dann nahm er wieder den Faden der Verhandlung auf:

„Seht, Freunde, das beste Mittel, die Ruhe der Stadt gegen schädliches Parteiwesen und fremde Intriguen zu sichern und ihr unnütze Ausgaben für Befestigung und Rüstung zu sparen, bleibt doch immer, das gute Vernehmen mit Dänemark zu unterhalten und dessen Gefallen zu suchen. Wir delogieren euch die Lüneburger aus dem Moorwerder und aus den Vierlanden!“

„Wenn Ihr das thut,“ sagte Snitger, „seid Ihr unseres Dankes gewiß, noch mehr: wenn Ihr die früheren Privilegien wegen des Sundzolles, wie sie jetzt Schweden und Holland haben, unserer Stadt einräumen wollet!“

„Da läßt sich viel thun, wenn wir überhaupt Hand in Hand gehn, ich habe ja schon den Hamburger Kaufleuten beim König die Befreiung vom Glückstädter Zoll erwirkt!“

„Doch wir müssen erst bei den Dreißigern fragen,“ sagte Snitger, „wir sind nicht allein die Herren, wenn auch der Rat jetzt nach unserer Pfeife tanzen muß: wir müssen sorgfältig die Gemüter stimmen und vorbereiten, denn das Volk ist mißtrauisch auch gegen Dänemark.“

„Da seid ihr Herren ja die besten Bürgen unserer wohlmeinenden Gesinnung,“ versetzte Paulli, indem er aufbrach, „aber zögert nicht zu lang’, bis euch das Messer an der Kehle sitzt. Ihr würdet mir ein hochwillkommener Gast sein, Herr Snitger, auch setzt mein Weinkeller mich in die Lage, mich für Euren Malaga zu revanchieren. Freund Jastram ist schon lange heimisch bei mir und mein Hauswesen läßt nichts zu wünschen übrig – dafür sorgt meine Jngeborg – nicht wahr, mein alter Freund? Mein Wagen hält weitab von hier; ich muß mich zwischen den Gartenmauern dahinschleichen. Wir müssen eben auf Schleichwegen gehn, wir Diplomaten, denn das ist unseres Amtes.“

Und Paulli verabschiedete sich mit dem überlegenen Lächeln des Weltmannes, der gelegentlich auch sich selbst zu verspotten weiß – er steht ja zu hoch, als daß dies bei anderen verfangen könnte.

Zu Hause angekommen, fand er sein Mädchen, die hochgewachsene, blondgelockte Jngeborg, in peinlicher Besorgnis um den Erfolg seiner Bemühungen; sie hatte etwas von einer Walküre und erschrak nicht vor Kampf und Schlachtentod; aber wenn ein Zerwürfnis eintrat zwischen dem Vater und den Hamburgern – was sollte dann aus ihrer Liebe zu Jastram werden? Und sie liebte ihn heiß, diesen Volksmann; er hatte es ihr angethan mit seinem unerschrockenen Sinn, seinem wilden Feuer, seiner ganzen trotzigen unerbittlichen Männlichkeit. In seinem Wesen war leidenschaftliche Glut, und mit feuriger Erwiderung gab sie seinen Küssen und Umarmungen sich hin. Ihre Mutter war längst gestorben, dem Vater war ihre stürmische Neigung nicht fremd; doch er sprach kein Wort der Mißbilligung. Wenig gelegen wäre dem königlichen Rat zwar an einem Schwiegersohn wie Jastram gewesen, der aus den Kreisen des Hamburger Gewerbes hervorgegangen war. Ein Färber seines Zeichens, der früher mit Indigo, Blauholz und Cochenille, den damals aus den anderen Weltteilen herübergekommenen Farbstoffen, hantierte, war Jastram neuerdings durch Erbschaft ein vermögender Schiffsreeder geworden; doch Paulli sah ihm noch immer auf die Finger, ob dort nicht blaue und gelbe Farbstoffe haften geblieben. Für die Zukunft hoffte er den Emporkömmling schon zu beseitigen und auch von seiner Tochter wegzudrängen; jetzt war ihm die Liebe willkommen, die den Volksführer an sein Haus band. Er sah in seiner Tochter eine Delila und kümmerte sich nicht darum, was sie dabei empfand; sie war edlen und stolzen Sinnes und würde sich nicht wohlfühlen im Dunstkreis des gewöhnlichen Bürgertums. Selbst auf ein Verlobungsringlein wäre es ihm nicht angekommen, wenn man nur Fäden hindurchziehen konnte, die Hamburg und Dänemark verknüpften. Jastram stand überdies auf einem sehr gefährdeten Posten und war nichts weniger als ein feuersicherer Bräutigam – da konnte man blinder Lieb’ etwas zu gute halten und getrost das Ende abwarten.

Er beruhigte die Tochter, alles gehe aufs beste und sie würden bald einig werden. Doch Jngeborg harrte tagelang auf Jastrams Besuch; er hatte draußen in den Vierlanden zu thun oder vor dem Moorwerder und Billwerder nach dem Rechten zu sehn. Ihrer Ungeduld konnte sie nicht Herr werden: sie eilte oft mit ihrer Magd auf die Straße und fragte diesen oder jenen, besonders die bewaffneten Bürgerführer, nach dem Stand der Dinge. Was sie da hörte, war zerstreute Kunde, und sie mußte sich’s mühsam zusammensetzen; sie wagte sich sogar in die neu eingerichtete Kaffeeschenke an der Zollerbrücke, wo die Avise des Herrn Thomas von Wieringen auslagen; aber die waren so vorsichtig redigiert, daß das Neueste nur schüchtern kundgethan war. Ueber die Scharmützel mit den Lüneburgern schwiegen sie sich aus, und vergeblich suchte Jngeborg Jastrams Namen. Dann aber, wenn der Mond über das Alsterbecken sein Licht ergoß, glitt sie über die Silberfläche im Kahn dahin: das Rudern war ihre Lust, und wie schön träumte es sich nicht von dem Geliebten, wenn sie in den Duft der Ferne sah, der über den Waldwipfeln der Außenalster schwebte.

Endlich, eines Tages erschien Jastram wilderregt, wie fast immer in dieser Zeit, wo ein so gewagtes Würfelspiel um Hamburgs Glück und Ehre gespielt wurde.

„Wir haben mit Lüneburg verhandelt,“ sagte er, „und es wäre zum friedlichen Abschluß gekommen, wenn nicht wieder Meurer mit einem kaiserlichen Mandat dazwischen gefahren wäre. Da giebt’s keinen Frieden, ohne daß er wieder in sein Amt [862] eingesetzt wird. Das wünscht der Rat im stillen, das wünschen die Vornehmen in der Stadt, doch die Dreißiger und das Volk hassen den Intriganten und Friedensbrecher. Wir aber sollen ausgeliefert werden als die Aufhetzer der Bürgerschaft, Snitger und ich: das verlangt Lüneburg und Celle, das verlangen die Herren in Wien, die den Meurer sogar zum Reichshofrat gemacht haben, zum Hohn für unsere Stadt und ihre Beschlüsse. Und jetzt hält er sich schadlos an unsern von den Lüneburgern mit Beschlag belegten Waren für seine von der Stadt eingezogenen Besitzungen.“

„Darf ich dir etwas beichten?“ fragte Jngeborg und sagte dann, als Jastram ihr freundlich zugenickt hatte: „Es thut mir weh, daß gerade Meurer euer Feind ist. Ich habe ihn oft gesehen und gesprochen; er ist ein stattlicher würdevoller Mann und wohl geeignet, das Haupt einer großen Stadt zu sein. Seine Rede hat schönen Klang und es ist ein großer Zug darin; er gewinnt und reißt fort – es fehlt ihm auch nicht an verständiger Erwägung. Solche Männer sollten auf Denksäulen stehn, er hat etwas von Erz und Marmor; doch den widrigen Zeitläufen konnte er nicht standhalten.“

„Weil es ihm an der Liebe zu seinem Volke fehlte,“ brauste Jastram auf, „er wollte nur die eigene Macht und Herrlichkeit, er wollte ein hoher Staatsbeamter werden – und wenn er ganz Hamburg hätte im Staub nachschleifen lassen von den kaiserlichen Karossen! Das Liedlein aber, das du von meinem Todfeind singst, will mir nicht sonderlich behagen; es klingt mir wie Mißlaut ins Ohr, doppelt mißlautend, denn der Mann gefällt dir – und das ist ja Frauenart – danach messen sie seinen Wert. Hüte dich, daß ich in meinem Erzfeind nicht meinen Nebenbuhler sehen muß!“

Da warf sich Jngeborg mit heißen Küssen an seine Brust: „Und wär’ er herrlich und schön vor allen Menschen – was ist er mir? Du bist mir alles!“

Und überflutet von dem blonden Gelock des schönen Mädchens, hatte Jastram ein so volles Liebes- und Lebensgefühl, daß er den grimmen Haß gegen den Verbannten und jede eifersüchtige Anwandlung vergaß.

„Wann werden wir uns endlich angehören?“ fragte Jngeborg.

„Wenn die Luft rein ist in Hamburg – ein freier Mann in einer freien Stadt wird sein herrlich Mädchen heimführen.“


In der Rosenlaube seines Gartens in Hamm saß Snitger mit seiner Katharina zusammen, die ihm die Sorgenfalten von der Stirn strich. Milder Abendschein lag auf dem schönen Rosenflor und vergoldete die silbern schimmernden Stämme der Hängebirken, die mit ihrem flüsternden Laubwerk in einem kleinen Rondell dicht vor der Laube standen. Finkenschlag tönte aus dem Gezweig, und der Pfingstvogel, der Pirol, sang sein schmetternd Lied in den Wipfeln.

„Wie freundlich, rosig, goldig ist alles ringsum,“ sagte Katharina seufzend, „und ihr habt keinen Frieden!“

„Der Friede da draußen ist auch nur Schein,“ versetzte Snitger nachdenklich. „Diese Finken, die so schön singen, verfolgen einander aufs feindlichste und zerbeißen sich. Als Knabe habe ich einmal ein zahmes Buchfinkenmännchen freilassen wollen und es in den Wald hingesetzt. Freudig hüpfte es in dem frischen Grün, sobald es aber seinen Lockton ertönen ließ, fielen aus allen Lüften die Finken über den Genossen her, um ihn zu zerfetzen. Daran muß ich jetzt oft denken. So ergeht es unserer guten Stadt Hamburg. Die Welt ist einmal ein großes Raubnest! Sieh doch unsere schönumblühte Laube, in welche die vollen Centifolien von rechts und links hereinnicken. Da oben hat eine Spinne ihr großes Netz ausgespannt, und schon zappeln die armen Gefangenen darin. Eine solche Spinne ist die Diplomatie, die hat uns jetzt von allen Seiten eingesponnen. Und wir Hamburger sind schlechte Diplomaten!“

„So laß doch die Hand davon,“ sagte Katharina mit einem Lächeln, das ihren Zügen einen lieblichen Ausdruck gab, „wir sind uns ja selbst genug. Dein Tagewerk ist der Handel, der will ja auch gepflegt sein – und abends haben wir ein holdselig Ausruhen hier im Garten.“

„Ich hoffe,“ sagte Snitger, „daß bald die Stunde schlägt, wo ich die Last der Aemter von mir schütteln kann; jetzt aber bin ich’s dem Vertrauen der Bürger schuldig, nicht zu wanken und zu weichen. Jetzt sieht’s so schlimm aus wie noch nie – das muß sich klären. Du hast ja ein kluges Köpfchen, Käthe, sich doch, wie die Dinge stehen! Mit den Lüneburgern ist’s ein Hinundher, Kämpfe, dann wieder Waffenstillstand und Verhandlungen. Der Rat zögert immer, und wenn wir, die Dreißiger, nicht auf dem Platze stünden und für die Bürgerschaft Einspruch erhöben, so wär’s schon längst zu einem schimpflichen Ende gekommen. Doch der Lüneburger ist unser schlimmster Feind, der am meisten der Stadt inneren Frieden bedroht. Seine Räte waren in der kaiserlichen Kommission, der wir damals die Wege wiesen; hinter ihnen lauert Meurer, und in der Tasche haben sie das kaiserliche Drohdekret, welches Sühne verlangt für die Aufhebung des Windischgrätzer Recesses, die Amtsentsetzung Meurers, das Abfangen der Relationen des Residenten Rondeck, die wir damals der Bürgerschaft vorlasen, und des Strafgerichts über unsere Entführer, Käthe.“

„O, das war grausam und hat mir sehr wehgethan!“

„Ich hatte nicht meine Hand im Spiele, doch Jastram war unerbittlich. ‚Krieg mit Lüneburg!‘ ist unsere Losung. Man will uns ja helfen: da bieten die Brandenburger uns ihre Reiter an, doch unsere jetzt ausgesogenen Marschlande haben kein Futter für sie, und sie wollen sich dann gut bezahlt machen mit allerlei Zollermäßigungen. Die Hannoveraner möchten zwischen uns und Lüneburg vermitteln; doch die stehen auf der Seite der Fürsten und des Reichs. Nur eine annehmbare Hilfe ist bereit – das ist die dänische. Da werden der Stadt Freiheiten und Gerechtsame geschützt, des Reiches Eingriffe zurückgewiesen, die Blüte unseres Handels durch Zugeständnisse gefördert – geht doch unser Handel mit dem dänischen Hand in Hand! Käthchen, wir sind schlichte Kaufleute, darum wissen wir auch, was uns Nutzen bringt!“

„Gebe Gott,“ sagte Käthchen, „daß diese Wirren enden zum Heil unserer Stadt und du endlich mir ganz zurückgegeben bist.“

Und so saßen sie zusammen wie ein junges Liebespaar und gingen noch lange im Mondschein zwischen den Rosen spazieren. Noch nie hatte Snitger ein so heißes Sehnen empfunden nach stiller Zurückgezogenheit, nach einem häuslichen Herd, der sicher war vor den Wetterschlägen, die draußen im Land umher zünden mochten.

Am nächsten Tage war Sitzung der Dreißiger, zu welcher Snitger in aller Frühe aufbrach. Die Dreißiger waren eine Macht geworden, gegen welche der Rat in Schatten treten mußte; sie vertraten die Bürgerschaft, doch befragten sie dieselbe selten; es war ein Sicherheits- und Wohlfahrtsausschuß – und Snitger und Jastram waren seine Seele.

Die Versammlung war in großer Erregung; der Rat riet dazu, den Wünschen Lüneburgs nachzugeben, da der Kaiser, die Kurfürsten und die auswärtigen Mächte darauf drängten. Darüber waren die Volksmänner entrüstet; wenn Lüneburg nicht nachgebe, müsse man Volk anwerben und in Feindes Land einrücken; die Sache müsse zu Ende; man habe die Dreißiger bisher weidlich genasführt. Wenn man erst die fremden Minister befragen solle, wie der Rat meint, so brauche man überhaupt keinen Rat mehr; man müsse annehmen, daß er im geheimen Bündnis mit Lüneburg stehe, wie er auch früher mit dem Hofe dort geliebäugelt habe. Der Rat möge dem Beschluß der Dreißiger zustimmen und die Sache nicht länger hinhalten.

Das war eine herbe Spannung, die sich nicht lösen wollte, und die feindselige Gärung der Parteien fand im stillen neue Nahrung. Sendboten der Kabinette, scheel angesehen von der Bürgerschaft, zogen durch die Thore der Stadt ein, um mit dem Rate zu verhandeln; dieser aber kam zu keinem Entschluß. Die Dreißiger nahmen eine immer drohendere Stellung ein; ihre Kriegskommissare hatten die bewaffnete Macht in der Hand; Jastram befehligte auf den Elbwerdern, Snitger in der Stadt, und wenn es zu Gewaltmaßregeln kam, waren die Stunden des Rates gezählt.

Da, an einem schwülen Augusttag erschien der Bürgermeister Schlüter selbst bei den Dreißigern. Er war keiner von den Meurerischen, ein unbefangener Herr, aber doch bestrebt, des Rates Ansehen zu wahren; er verlangte im Namen desselben, daß die Truppen von den Elbwerdern in die Stadt zurückgezogen würden, um so mehr, als der Obrist dort bezweifle, sich und die Reiter salvieren zu können. Stürmischer Widerspruch ertönte von allen Bänken. „Krieg mit Lüneburg!“ riefen die Vordersten.

[863] „Hört mich, Mitbürger,“ sagte Schlüter gelassen, „und dann entscheidet! Es droht ein Anschlag gegen unsere Stadt, und sollten auch die Zeichen trüglich sein – wir müssen uns auf alle Fälle sichern. Ich habe mannigfache Kunde von hier und dort – und was ich daraus schließen muß, ist ernster Art. Auf der Elbe geht etwas vor – es geschehen Ueberfahrten von Altona nach Grefenhof; dort wird von dänischen Offizieren ein Blockhaus mit Schanzen errichtet. Dänische Schiffe gehen nach Glückstadt, Schanzzeug und Granaten zu holen. In Othmarschen und Ottensen ist Belagerungszeug angekommen. Im Holsteinschen ist an 1800 Höfe Befehl erlassen worden, je einen Schanzarbeiter mit Gerät zu stellen; dänische Truppen ziehen an die Elbe und gegen Itzehoe; Dragoner zeigen sich bei Oldesloe. Vierzehnpfündige Kanonen mit Munition gingen nachts durchs Holsteinsche, niemand weiß wohin, und hinter Ottensen stecken sie ein Lager ab: all das muß gerechte Bedenken erregen und es gilt vor allem, die Stadt selbst zu sichern.“

Es trat eine Pause ein; alle gingen mit sich zu Rate, und es gab manche Frage- und Ausrufungszeichen in den Gesichtern. Der Nachbar flüsterte dem Nachbar zu; dann heftiges Mienen- und Gebärdenspiel. Der Bürgermeister blickte prüfend auf die Versammlung; er schien seiner Sache sicher zu sein; endlich würden der Rat und die Dreißiger zusammenstimmen.

Da rief Jastram, in der Mitte der Bürgerschaft, unter der Krone des Saales, wolle er sich henken lassen, wenn Dänemark Hamburg feindlich überziehe, und trete der Däne kriegerisch auf, so sei es nur zu gunsten der Stadt. Auch Snitger versicherte, es sei unmöglich, dergleichen hätten nur die Meurerischen ausgedacht. Da regte sich der alte Groll gegen die vornehmen Geschlechter, die stets im Rücken der Stadt für das abgesetzte Oberhaupt Ränke spannen, und mit großer Mehrheit wurde beschlossen, die Truppen auf den Werdern zu lassen zur Abwehr gegen Lüneburg und nicht in die Stadt zu ziehen.

Doch in diesen heißen Augusttagen lastete der dänische Alp auf allen Gemütern, und es schien, als ob der Hundsstern droben sie in Verwirrung brächte – es war ein Horchen und Lauschen überall; jede neue Kunde wurde aufgegriffen, weitergetragen, von der einen oder der andern Partei zu Nutz und Frommen gedeutet. Furcht und Zweifel sind zwei Schlangenköpfe, die stets einen langen Leib und Schwanz hinter sich haben, und so wuchs die Meurerische Partei und zeigte überall ihre Giftzähne.

Jastram aber stürzte in das Haus des dänischen Residenten. Jngeborg kam ihm liebevoll entgegen; doch finster drohend sah er sie an. Ein schreckhafter Argwohn regte sich in ihm – wenn die Gerüchte Wahres kündeten, so war sie ja nichts als eine hinterlistige Buhlerin. Doch nein, es konnte nicht sein – edle Offenheit lag ja in ihren Zügen, und ihre Seele kannte kein Arg. So grüßte er sie mit Kuß und Umarmung, teilte ihr in aller Kürze die bedrohlichen Gerüchte mit. Sie schrak zusammen, legte die Hand aufs Herz; allein es war nicht der Schreck des Schuldigen, es war die grenzenlose Angst, irgend ein Unerhörtes könne zwischen sie und ihr Glück treten. Dann schob er sie sanft beiseite und stürzte hastig in das Gemach des Diplomaten. Paulli bot ihm gelassen einen Stuhl an und eine Pfeife, hörte achselzuckend die Kunde von den merkwürdigen Dingen, die da im Holsteinischen vorgehen sollten, und sagte dann, sich die Hände reibend: „Wenn die Klatschbasen das große Wort haben, dann sieht’s schlecht aus um das Werk der Männer. Wenn die guten Hamburger Gespenster sehen, so mag man das ihnen nicht verargen; denn sie sind seit einiger Zeit im Fieber, werfen sich rechts und links auf ihrem Lager hin und her und finden doch keine Ruhe, bis man ihnen den Teufel an die Wand gemalt hat. Dann sehen sie seine Klauen und schaudern zurück davor. Ihr aber, Jastram, der Ihr ja seit langer Zeit wißt, daß Dänemark nur Gutes sinnt – Ihr solltet doch so thörichten Gerüchten nicht Gehör schenken, sondern der Bürgerschaft die Ohren verstopfen, wenn dergleichen durch die Luft fliegt. Wenn wir einige Truppen heranziehen, so geschieht’s doch nur, um euch, sobald ihr’s verlangt, gegen Lüneburg helfen zu können. Im Holsteinschen aber können wir marschieren lassen, soviel es uns gefällt, und die Truppen verlegen, je nach Bedarf – darüber braucht sich niemand ein graues Haar wachsen zu lassen.“

Das sagte Paulli mit vornehmer Haltung, im Gefühl seiner Amtswürde; so durfte der große Staat Dänemark sprechen mit der Handelsstadt Hamburg, deren Ländereien nicht über die Elbinseln hinausreichten. Dann schlug er aber einen warmherzigen Ton an, dem sich Jastram ganz gefangen gab; denn der wilde Volksmann war gemütlicher Regungen fähig. Und um so lieber glaubte er dem wohlmeinenden Diplomaten, als ja seines Lebens Glück davon abhing, daß er die Wahrheit sprach.

Jngeborg bemerkte mit Freude, daß der düstere Ausdruck aus Jastrams Zügen verschwunden war, als er aus dem Kabinett ihres Vaters heraustrat. Er näherte sich ihr zärtlich und herzlich.

„Das war ein böser Schatten, der auf unsern Weg fiel,“ sagte das Mädchen, „zeigen wir der Welt, daß wir zusammengehören. – Voll steht der Mond über dem Turm der Nikolaikirche und die Alster hat sein Spiegelbild erhascht und schaukelt es in ihren Wellen. Du weißt, wie leidenschaftlich gern ich rudere – ich bin ein Mädchen aus dem Land der alten Wikinger und auf dem Wasser zu Hause. Komm, Geliebter!“

Und bald glitt der Kahn, der beide trug, über die Silberfläche der Alster hin; über die Häusermassen ragten die Türme der Hauptkirchen in den noch nicht ganz verdunkelten Himmel – und von allen klang ein abendlich Geläute, den morgenden Ruhetag verkündend. Bisweilen überließ Jngeborg, des Ruderns müde, den Kahn dem Spiel der Wellen. Dann konnte Jastram glühende Küsse auf ihre Lippen drücken. Das geschah draußen, wo nur die verschwiegenen Bäume und keine neugierigen Stadtfenster auf die Alster hinabsahen.

Als sie, zurückfahrend, zu den belebteren Ufern gelangten, da erkannte dieser oder jener den gefeierten Volksmann.

„Es muß gut stehen um unsere Stadt,“ sagte der eine zum andern, „wenn Jastram mit seiner Liebsten solche Mondscheinfahrten macht,“ und getrösteter gingen sie nach Hause.

Doch die unberechenbare vulkanische Natur des Volkstribuns wollte noch ihr Recht; der hastige Wechsel seiner Stimmungen hatte noch einen stürmischen Ausbruch zur Folge. Sie waren aus dem Kahn getreten. Als Jngeborg so vor ihm stand in Silberschleiern mit den großen blauen Nixenaugen, da kam es über ihn wie eine Vision. „Und wenn es wäre – wenn es doch wäre – wenn du eine Wasserfee wärest mit dem feuchten Saum am Gewand –“ Jngeborg faltete flehend die Hände. „Wenn deine Küsse Verrat wären und mich hinabziehen wollten in die Tiefe! Doch nein, nein, es kann nicht sein! Das eine aber sage deinem Vater: wenn Dänemark Arges gegen uns im Schilde führt, so schließen wir Frieden mit Lüneburg und lassen den roten Hahn über Altona krähen.“

„Und wieder siehst du Gespenster – und so sollen wir scheiden?“

„Vergieb! vergieb!“ versetzte Jastram, „mein Blut, meine Sinne sind in Aufruhr! Bleibe die Meine, was kommen mag – und ich will’s gern tragen!“

Und nach einer innigen Umarmung im Vorgarten des Hauses, aus dessen Fenstern auf sie der Lichtschein fiel, der die Akten des fleißig arbeitenden Residenten erhellte, trennten sie sich.

Einige Tage vergingen, schwerer Nebel war aus den Niederungen aufgezogen und hüllte die Stadt in ein sackartig Gespinst. Straßen und Häuser waren wie vermummt – und auch in den Gemütern der Menschen herrschte eine unbehagliche Finsternis: unschlüssiges Hin- und Hertappen – nur der Rat und die Dreißiger traten sich immer schroffer gegenüber.

In einer stürmischen Sitzung der letzteren waren gerade die Gemüter aufs höchste erregt, als die Thürhüter eine Botschaft des dänischen Königs ankündigten. Sogleich trat tiefe Stille ein, dumpfes schwüles Schweigen – die Ahnung einer großen Entscheidung.

Da trat Paulli ein mit zwei Sekretären … Snitger, der seiner Bestürzung kaum Herr werden konnte, eilte ihm entgegen und hielt sich in seiner Nähe, wie um ihn zu schützen; Jastram saß totenblaß mit geballten Fäusten … warum wußte er von nichts? Was bedeutete der feierliche Aufzug? Wie im Krampf der Erwartung saß er da: er war bereit, dem Verräter den Dolch in das Herz zu bohren.

Mit geschäftsmäßiger Kühle erklärte Paulli, er komme als Gesandter Seiner Majestät und stehe unter dem Schutze des Völkerrechts, dann las er geruhig, wie man ein Protokoll verliest: „Seine Majestät, nachdem er, um seinen Rechten auf [864] Hamburg nichts zu vergeben, mit 14000 Mann und 2500 Reitern und Belagerungsgeschütz in das Lager von Ottensen eingerückt, verlangt die Erbhuldigung, die Stadtschlüssel, die Aufnahme einer Besatzung von 2000 Mann und die Zahlung von 400000 Mark und wird im Weigerungsfalle die Stadt mit Feuer und Schwert verwüsten lassen.“

Eine kleine, schwüle Pause … dann tönte es wie der Todesschrei eines getroffenen Tieres von den Bänken der Dreißiger, es war Jastrams Stimme – und Snitger, in maßloser Entrüstung, faßte den Rat Paulli und stieß ihn zur Thür hinaus.

„Alles bewaffnete Volk auf die Sternschanze,“ brüllte Jastram, „Kampf mit den Schurken, mit den Dänen bis aufs Messer!“

Snitger stand wie betäubt, das Haupt auf die Hände gestützt, in der Fensternische und starrte auf den Marktplatz hinab, wo es sich unheimlich zu regen begann; denn wie die Splitter einer platzenden Bombe hatten sich die Gerüchte von der Botschaft im Volk verbreitet und die neugierigen Gaffer ins Herz getroffen.

Die große Mehrheit der Dreißiger hatte auf Snitger und Jastram geschworen; sie kannten ihre Verhandlungen mit den Dänen; jetzt standen sie tiefbetroffen und wußten nicht, was sie davon denken sollten. Doch stürmisch regte sich jetzt die kleine, sonst stets unterliegende Partei der Meurerischen; mit lautem Gezeter machte sie ihrem Ingrimm Luft; gegen Snitger und Jastram erhoben sich geballte Fäuste und das Geschrei von Verrat erfüllte die Luft: „Reißt ihnen den Bürgermantel herunter, den Verrätern! Nieder mit den Volksverführern!“ erklang es drohend von der rechten Seite, wo der Anhang des Meurer, die Oberalten und die wenigen Patrizier, die seinerzeit in den Ausschuß gewählt worden waren, so lange unter dem Drucke der Mehrheit geseufzt hatten.

Da trat der Bürgermeister Schlüter, begleitet von zwei Ratsmännern, in den Saal. Auch dem Rat war die Botschaft mitgeteilt worden und in ihm war es zu schleuniger Beschlußfassung gekommen. Die Anträge der Lüneburger, der Hannoveraner, der Brandenburger, mit ihren Truppen die Stadt zu schützen, wurden angenommen; die jetzt verschlossenen Thore sollten ihnen weit aufgethan werden. Die Dreißiger hörten schweigend, was der Rat ihnen verkündete, fügten sich in das Unvermeidliche und gaben einmütig ihre Zustimmung.

Nicht lange währte es, so donnerten die Geschütze von der Sternschanze und die dänischen Kanonen erwiderten. Jastram kämpfte wie ein Verzweifelter in den vordersten Reihen der Verteidiger und half die dänischen Sturmkolonnen von den Wällen abwehren. Doch bald ward ihm und Snitger kundgethan, daß sie ihrer Aemter im Kriegsrat entsetzt seien, und so ward ihr Arm gelähmt, wo es die Verteidigung der Stadt galt. Doch die Bürger wehrten sich tapfer auch ohne ihre Führung; der Kanonendonner um Altona her, von dem die Fenster klirrten, hatte alles Schreckhafte verloren; denn immer von neuem kam die frohe Botschaft, daß die stürmenden Dänen zurückgeschlagen wurden.

Noch fürchtete man einen Volksaufstand, wenn man die Hand an Snitger und Jastram legte; man wartete, bis die fremden Hilfstruppen herein waren. Das war Trommelschlag und Trompetengeschmetter von morgens bis abends; bunte Fahnen und Fähnlein und allerlei Rüstungen und Waffen. Lustig wehten die Federn von den breitkrempigen Filzhüten der Offiziere; mit herausforderndem Wesen, auf den Lippen ein übermütiges Lachen, mit keckem Marschschritt und jubelnder Musik rückten die Lüneburger ein wie im Triumph, als hätten sie das trotzige Hamburg in den Staub geworfen, und hinter ihnen kamen die brandenburgischen Reitergeschwader, einige von denen, die bei Fehrbellin des Kurfürsten Banner siegreich getragen und den Schweden aus dem Lande gejagt hatten. Jetzt hatte der Rat freies Spiel; wenn die Kanonen durch die Straßen rasselten, da war’s zu Ende mit dem Volkswillen, mit allem Gerede und allen Abstimmungen; mächtig hob die Ratspartei ihr Haupt. Schon trug das Nikolaikirchspiel darauf an, die Dreißiger zu kassieren; vor allem wurde kurzer Prozeß mit den Rädelsführern gemacht, Snitger und Jastram in ihren Wohnungen verhaftet und nach dem Winserbaum gebracht. Das war ein mildes Gefängnis; hier durfte auch Katharina den Gatten sehen und sprechen – doch kein Strahl der Hoffnung drang herein, man wußte, die Machthaber waren unerbittlich. Auch Meurer regte sich jetzt von draußen und verlangte Genugthuung und strenge Befragung und Bestrafung seiner Feinde. Milder Sinn war ihm fremd; er war ein stolzer rachsüchtiger Mann; grausam war die Parteiwut, die alle wilden Gelüste der Gemüter entfesselte. Und so ohnmächtig zu sein mit all ihrer innigen Liebe, mit der heißen Sehnsucht nach Rettung! – das brach dem jungen anmutigen Weibe das Herz. Sie log dem Geliebten noch einige Hoffnungen vor, an die sie selbst nicht glaubte: es werde zum Vertrag mit dem Dänenkönig kommen und der Dänenkönig werde seine guten Freunde schützen. Snitger dachte gering von der Dankbarkeit der Menschen und der Könige und seine Stirn entwölkte sich nicht. Unter Thränen nahmen sie Abschied voneinander. Noch an diesem Tage wurden die Gefangenen aus dem Winserbaum in die Fronerei geführt, in deren elenden Kojen man sie an Ketten legte. Da wurde niemand mehr zu ihnen gelassen, kein Zeuge einer so erbarmungslosen Behandlung, eines so bemitleidenswerten Zustandes.

Inzwischen bombardierten die dänischen Geschütze die Stadt, die auf der Sternschanze blieben nicht müßig und die Ausfälle der starken Hamburger Garnison thaten den Dänen großen Schaden. Es kam zu Verhandlungen, die sich in die Länge zogen, da der König eigensinnig bei seinen Bedingungen verharrte; doch er wurde andern Sinnes, als er erfuhr, der Kaiser habe Brandenburg, Hannover und Celle-Lüneburg die Exekution gegen ihn aufgetragen und die Schweden sammelten ein Heer; auch England und die Generalstaaten rüsteten, um die Stadt zu retten, durch deren Umschließung und Bedrohung ihre Handelsbeziehungen großen Schaden litten. Da stellte der König die Belagerungsarbeiten ein und schloß einen Vergleich mit der Stadt: sie mußte um Verzeihung bitten und die Kriegskosten bezahlen; alle Schiffe, Güter, Waren und Effekten, die er mit Beschlag belegt, gab er wieder frei. So groß war der Stadt Hamburg Geltung im Weltverkehr, daß aus den Stadthändeln Welthändel wurden und zuletzt die großen Mächte Europas den Ausschlag gaben.

Rat Paulli hatte inzwischen die Stadt verlassen mit des Rats Verwilligung; doch da er bald wiederkehren wollte, war Jngeborg mit ihren Mägden zurückgeblieben, um des Hauses Aufsicht zu führen – Jngeborg, die nordische Walküre – jetzt nur ein Schatten der stolzen kampfmutigen Jungfrau, aber bereit, zum Todesritt ihr Roß zu zäumen. Der Donner der Geschütze hatte aufgehört – schon hatte sie im Geiste ihre Landesgenossen mit siegenden Fahnen in die Stadt einrücken sehen – das war der Tag der Befreiung, der Rettung, des Glückes für Jastram und sie! Doch jetzt – diese durch die Straßen ziehenden buntfarbigen Söldnerrotten, aus allen Winkeln des Deutschen Reiches zusammengelesen. Feinde Dänemarks, Feinde ihres Jastram! Vergebens hatte sie versucht, zu dem Geliebten zu gelangen, die Wache des Winserbaums hatte sie zurückgewiesen! Sie hatte ja kein Recht auf ihn, und die Tochter des dänischen Residenten war böser Zettelungen verdächtig, wenn sie sich zu ihm drängte.

In stiller Verzweiflung hing sie ihren Gedanken nach – vor ihren Augen stand schwarzumhangen das Blutgerüst – und neben Jastram der Henker. Oft um Mitternacht noch schritt sie ruhelos durch das Haus, durch den Garten im leichten Nachtgewand, trotz der empfindlichen Kühle. Die Nachbarn glaubten ein Gespenst zu sehen und die Mägde baten sie fürsorglich, ins Haus zurückzukehren. Auf ihrer Lagerstatt hatte sie wüste Fieberträume – einmal erschien es ihr, als grüben die Totengräber tief und immer tiefer in die Erde, und da holten sie etwas heraus, eine Kiste – sie konnte nicht recht sehen, was sie enthielt: es funkelte darin wie Edelsteine – da tönte aber ringsum von Himmel und Erde der Ruf: „Jastram ist unschuldig!“

Ein sinnloser Traum ein wüstes Gebild der Phantasie! Sie erzählte ihn ihrer treuesten Magd Dagmar, welche aufmerksam zuhörte und dann ihre Herrin betroffen anstarrte. „Das ist nicht so tolles Zeug, wie Sie glauben. Das kann seinen rechten Schick haben, wenn man’s gehörig anpackt. Ich habe ja selbst gesehen, wie der Resident, Ihr Vater, dort unter der Linde im Garten eine Kiste vergrub – und vorher hatte ich ihn droben Akten und Papier einpacken sehen.“

Jngeborg stand wie im Bann ihrer Träume; sie hörte nichts als den Ruf: „Jastram ist unschuldig!“ Gewiß, in der Kiste lagen die Beweise seiner Unschuld! Das kam über sie wie eine Offenbarung. Sie raffte sich auf aus ihrer verträumten [865] Versunkenheit und stürzte auf die Straße; Dagmar suchte vergeblich sie zurückzuhalten.

Es war Abenddämmerung – Arbeiter zogen vorüber mit allerlei Gerät, mit Hacke und Spaten, sie drängte sich in ihre Reihen.

„Kommt, Leute, kommt! Jastram ist unschuldig, Snitger ist unschuldig!“

Das war dem Volk eine genehme Kunde, sie standen still, und von allen Seiten drängten andere nach.

„Ich bin des dänischen Residenten Tochter, mein Vater hat seine Papiere im Garten vergraben. Ich weiß, daß Jastram kein Verräter ist – kommt herein alle, alle, um seine Unschuld aus der Erde zu graben!“

Und sie folgten ihr mit jubelndem Zuruf – die Beete im Garten mit den bunten Herbstblumen wurden von der eifrigen Menge achtlos niedergetreten. Bald klirrten die Spaten – und die Kiste kam zu Tage.

Als Ingeborg, den Männern mit warmem Händedruck dankend, sie an sich nahm, unschlüssig, wohin sie sich damit wenden sollte, da trat ein ungeladener Besuch in den Garten, der Prätor Röver mit seinen Ratsmannen. „Ich ging vorüber – welch ein Tumult? Was geht hier vor?“

Der Prätor war ein roher Gewaltmensch, ein erbitterter Gegner der Volksmänner, obschon mit Snitger nahe verwandt. Als er den Stand der Dinge erfuhr, legte er sofort Beschlag auf die Kiste – das Volk murrte, doch Ingeborg beruhigte die Menge. Das alles gehörte ja in die Hände der Richter, damit sie Jastram freisprechen konnten.

Der ungeduldige Prätor ließ sogleich die Kiste öffnen, und während ihm die Ratsmannen mit ihren Laternen leuchteten, entfaltete er ein Papier Nach dem andern.

„Ei, ei – Abschriften der Relationen nach Kopenhagen – sieh, sieh, da spielen die Verräter ja eine herrliche Rolle! Und hier die Antworten von dort – man rechnet mit festem Vertrauen auf sie und auf die Uebergabe der Stadt. Und hier auch Briefe an Snitger und Jastram – das stimmt, das stimmt!“

Es dauerte geraume Zeit, ehe er manches entzifferte, was ihm lesenswert erschien – die Menge harrte aus, schweigend, regungslos! Er schimpfte auf das schlechte Licht der Laternen und die ungeschickten Träger derselben.

Mit vollem Behagen über den schönen Fund wandte sich der Prätor dann zu Jngeborg: „Schönes Fräulein! Das habt Ihr gut gemacht – wir vom Rat und Gericht sind Euch dankbar; denn wäre der Strick für Snitger und Jastram nicht schon so fest gedreht – jetzt gäb’ es ganz sicher kein Entrinnen mehr! Uns fehlten für vieles noch immer die Beweise – die Stadt Hamburg wird Euch eine Ehrensäule errichten, liebe Jungfer! Ihr habt Euch um sie verdient gemacht. Bisher wär’s beim Köpfen geblieben – Ihr habt für das Vierteilen gesorgt!“ Und hohnlachend schritt der Prätor mit den die Kiste tragenden Ratsmannen seines Wegs.

Ein lauter Aufschrei – krampfhaft sich den Weg bahnend, teilte eine lichte Gestalt die Menge – gespenstig im Mondschein schwebte das weiße Gewand durch die dunklen Reihen; dann flog’s durch die Gartengänge dem Pförtchen zu, welches hinaus nach der Alster führte. Die Menge blickte verständnislos auf das Mädchen – doch der Ruf: „Hilfe, Rettung!“ ertönte hinter ihr. Dagmar folgte in größter Erregung, allein das Volk machte ihr nicht so bereitwillig Platz; einige von ihr beiseite geschobene Arbeiter versperrten ihr ärgerlich den Weg.

„Rettet das Fräulein!“ rief sie angstvoll, „seht ihr denn nicht, daß sie sich ein Leids anthun will?“

[866] Jetzt endlich lockerten sich die Reihen und eine Schar von Männern stürmte der Zofe nach.

Ingeborg hatte inzwischen den Kahn vom Ufer gelöst, das Ruder ergriffen, und bald glitt sie dahin durch die von dem aufgehenden Mond versilberte Flut der Alster.

Diesmal allein – nicht an seiner Seite! Er war verloren; doch die Wellen rauschten wie damals um den Kiel des Bootes – das Mondlicht flimmerte darüber hin wie damals – die Erde regte sich nicht und löste nicht Stein auf Stein von den Bauten dieser undankbaren Stadt und schüttelte nicht die Kirchtürme, daß sie schwankten und sich zur Erde neigten!

Kalt, starr, erbarmungslos alles – was ist ein Menschenleben – ein verrinnender Tropfen im Meer!

Die Ruder waren der Hand entfallen; kurze Zeit glitt der Kahn, sich selbst überlassen, über die Wellen. Dann richtete sich eine schlanke hohe Gestalt auf und stürzte sich, nach einem letzten Blick auf den Sternenhimmel, in die Flut. –

Inzwischen bereitete sich ein grausam Werk, grausamer als selbst der „Karolina“ blutige Paragraphen zuließen; denn man hatte den Angeklagten keine Abschrift der Indicien zukommen lassen zu ihrer Verteidigung und zur Abwendung der Tortur. Die Anklagen gegen Snitger lauteten, er habe schon im Februar 1686 vom Anrücken der Dänen gewußt, es beschleunigt, ihnen Unterhalt zugesagt, Paulli die Zugänge der Stadt gewiesen, bei Verurteilung seiner Entführer einen Pöbelhaufen zusammengebracht, um sie niederzumachen und das Volk gegen den Rat zu führen, wenn das Urteil zu gelinde ausfalle, die Bürgerschaft zum Komplott gegen den Rat verhetzt. Gegen Jastram lautete die Anklage ähnlich. Was half es den Beklagten, daß sie das leugneten? Mußten sie doch zugeben, daß sie die Verträge mit Lüneburg nicht gebilligt, weil sie ohne Konsens der Bürgerschaft abgeschlossen worden, und daß sie mit den Dänen verhandelt hätten; Jastram räumte ein, er habe die Hilfe derselben nachgesucht, damit sie die Lüneburger vertrieben, doch verlangt, daß der König sein Vorhaben der Bürgerschaft anzeige. Durch solche Zugeständnisse wurde indes die Tortur nicht ausgeschlossen, welche die Rachegelüste der jetzt siegreichen Partei über ihre Opfer verhängten. In der Marterkammer mochten die Frevler, die an dem Ansehen des Rates gerüttelt hatten, für ihr schändliches Gebaren büßen! Kein Grad der Folter ward ihnen erspart; doch wurde das kostbare Leben geschont, das ja für ein öffentliches Schauspiel aufgespart blieb.

Das Urteil über die Vaterlandsverräter stand fest von Hause aus: es lautete auf Tod, auf Enthauptung; die Körper sollten dann gevierteilt und die Köpfe auf Pfähle gesteckt werden am Millern- und Steinthor.

Die unglückliche Katharina hatte doch gewußt, Zutritt zu ihrem verstümmelten Gatten zu erhalten, und als er heraustrat aus der Fronerei, erwies sie ihm den letzten Dienst, indem sie ihm den Bürgermantel umhing; aber beim Abschiedskuß an der Schwelle sank sie ohnmächtig zusammen, von endlosem Jammer überwältigt.

So endeten Hamburgs Volkstribunen auf dem Schafott.

Bezahlte Schmähschriften, zu deren Abfassung sich auch feile Gelehrte hergaben, besudelten das Angedenken der wackeren Männer, die, allzu leichtgläubig, der Diplomatie und ihren Schlangenwindungen nicht gewachsen waren; doch anders urteilten über sie die unbefangenen Geschichtschreiber, anders auch hervorragende Zeitgenossen, vor allem der Große Kurfürst von Brandenburg, dessen Truppen und Kanonen mit den Hannoveranern und Lüneburgern aufmarschiert standen, um die Ausführung der Blutsentenz, die Hinrichtung, zu decken. Doch das beirrte nicht sein Urteil über die Blutthat; er schrieb an den Rat, er wolle nicht erörtern, was ihn zu so großer Strenge bestimmt habe, doch er könne es dem Könige von Dänemark nicht verdenken, wenn es ihm nahe gehe, daß die armen Leute wegen eines Stadtverrats, welcher doch nach dem beständigen Vorgeben Ihrer Majestät und anderer verschiedener Umstände halber ihnen wohl niemals in den Sinn gekommen, um Blut, Ehre und Gut gebracht wurden. Und an seinen Gesandten in Wien schrieb der Fürst: obschon von dem Magistrat die wider diese Leute gebrauchten harten Proceduren beschönigt wurden, mit ihrer Respektwidrigkeit dem Kaiser gegenüber und ihrer dänischen Verräterei, so sei doch nichts gewisser, als daß dieselben mehr von der Rachgier und der Begierde herrührten, diejenigen von den Dreißigern und auch andere aus dem Wege zu räumen, welche bei dem jüngsten verworrenen Zustande sich zu einer Opposition wider den Rat hinreißen ließen.

Der Große Kurfürst traf den Nagel auf den Kopf, scharfblickend wie immer. Snitger und Jastram fielen als Opfer der Parteiwut und des auf unantastbare Vorrechte eifersüchtigen Patrizierhochmuts. Wie der Lübecker Wullenweber, der gleich ihnen gefoltert und hingerichtet wurde, kämpften die Hamburger Volkstribunen gegen die aristokratische Regierung an; doch wenn jener daran zu Grunde ging, daß er, die Macht der Hansa überschätzend, den Königen des Nordens das Gesetz diktieren wollte, so unterlagen die Volksmänner der Elbestadt, weil sie dieselbe frei und unabhängig machen wollten von der habsüchtigen und herrschsüchtigen Einmischung der Nachbarfürsten und den von ferne wirkenden kaiserlichen Machtbefehlen, die keine Regung des Bürgertums aufkommen ließen. Den braven, treuherzigen Männern gebührt ein ehrendes Angedenken!