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Die Wohlthäterin der Frauenwelt

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Textdaten
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Autor: R. H.
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Titel: Die Wohlthäterin der Frauenwelt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 654–655
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Die Nähmaschine
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Die Wohlthäterin der Frauenwelt.


Jede Erfindung ist mehr ein Product der Zeit, als eines einzelnen Geistes. Daher kommt es denn auch, daß gemeinhin eine industrielle Erfindung mehrere Urheber zugleich hat. Man denke nur an die Telegraphie! Nicht weniger als neunzehn Namen machen Anspruch auf die Ehre dieser Errungenschaft unserer Zeit, und erst neulich ist in diesen Blättern diese geistige Großthat für einen Deutschen in Anspruch genommen worden. Ebenso ist es mit derjenigen bedeutsamen Erfindung, welcher diese Zeilen gewidmet sind, mit der Nähmaschine. Sie ist ein echtes Kind der Zeit, und unzählbar sind die Namen alle, welche mit ihrer Erfindung, Verbesserung und Vervollkommnung verknüpft sind. Als in der Industrie das Bedürfniß gekommen war, Näharbeit schneller und bequemer als bisher anfertigen zu können, da ließ auch die Nähmaschine nicht lange auf sich warten. Es ist kein Zweifel, daß, wenn schon ein halbes Jahrhundert früher eine Maschine, mit welcher genäht werden könnte, ein Bedürfniß gewesen wäre, schon ein halbes Jahrhundert früher die Menschheit mit dieser neuen schönen Erfindung beglückt worden wäre. Jeder, welcher den einfachen Mechanismus der Nähmaschinen kennt, wird zugestehen müssen, daß die mechanischen Wissenschaften und Fertigkeiten schon vor fünfzig Jahren hingereicht hätten, um Nähmaschinen anzufertigen, wie wir sie jetzt besitzen.

Der Antheil, welchen die Nähmaschine, wenn sie sich erst genügend verbreitet, an der Vergrößerung des nationalen Wohlstandes haben wird, ist nicht gering. Ich spreche nicht von den Vortheilen, welche deutsche Unternehmer durch die neu geschaffene Industrie der Nähmaschinen-Fabrikation gezogen haben; ich spreche auch nicht von dem allgemeinen Nutzen, welchen die Nähmaschine durch Herabsetzung des Preises der auf ihr gefertigten Artikel dem Publicum gebracht hat: ich richte die Aufmerksamkeit einzig und allein auf denjenigen Einfluß, welchen die Nähmaschine auf die Lage der Arbeiterfamilien auszuüben im Stande ist. Durch eine immer größere Ausdehnung der Klein-Industrie, in welcher namentlich die Frauen eine ihnen angemessene Beschäftigung finden, sucht man jenes schwierige sociale Problem seiner Lösung nahe zu bringen. Und hierbei spielt denn die Nähmaschine eine nicht hoch genug anzuschlagende Rolle.

Es wäre überflüssig, den Lesern und Leserinnen der Gartenlaube das Bild einer Nähmaschine zu entwerfen. Wer hätte heutzutage noch keine Nähmaschine, noch nicht auf einer Nähmaschine arbeiten sehen? Wer kennte nicht alle die vorzüglichen Eigenschaften dieses Instruments, und wer wüßte nicht, wie unschätzbar es gerade in den Händen der Frauen ist? Denke man sich eine Nähmaschine in der Stube einer Arbeiterfamilie aufgestellt: in einer Ecke des Zimmers, dem Fenster nahe, nimmt sie nur wenige Quadratfuß Raum ein; die an ihr arbeitende Frau übersieht mit jedem Blick, welchen sie von ihrer Arbeit wegwendet, ihre ganze Wirthschaft; jeden Augenblick kann sie das Nähen unterbrechen, um dies oder jenes Bedürfniß der Ihrigen zu erfüllen. Die Arbeit ist weder körperlich anstrengend, noch den Geist ermüdend; sie bietet im Gegentheil den Gliedern eine heilsame Bewegung, und die Aufmerksamkeit, welche die Arbeiterin einzig und allein auf den schnellen Fortgang der Naht zu richten hat, ist geeignet, den Geist frisch und lebendig zu erhalten. – Die großen Vortheile, welche die Nähmaschine als ein Werkzeug für die Klein-Industrie in den Händen der Arbeiterfrauen bietet, liegen somit zu klar zu Tage, als daß es einer genauern Auseinandersetzung derselben bedürfte. Es sei darum nur noch gestattet, Einiges über die verschiedenen Systeme von Nähmaschinen zu sagen und über den verschiedenen Standpunkt, welchen dieselben in der Nähindustrie einnehmen.

Jedes der bis jetzt erfundenen Systeme von Nähmaschinen hat einen gewissen Kreis der Wirksamkeit, in welchem es sich am besten bewährt. Das eine System ist das praktischste zur Ausführung von Verzierungsarbeiten, ein anderes liefert die besten Befestigungsnähte; die Maschinen des einen Systems finden ihren besten Platz in den Werkstätten, welche die festesten Stoffe, wie Leder etc. verarbeiten, die eines andern Systems sind wieder passend zum Gebrauch in der Familie.

Die drei verschiedenen Hauptsysteme unterscheiden sich dadurch wesentlich von einander, daß sie verschiedene Nähte liefern. Durch eine nähere Betrachtung der Nähte, d. h. durch Würdigung dessen, was die Maschinen hervorbringen, gelangt man also schon zu einer Würdigung der drei verschiedenen Systeme. Die erste, einfachste, aber auch mindest werthvolle Naht ist die unsern Handarbeiterinnen schon längst vor Erfindung der Nähmaschinen bekannte Tambourirnaht, auch Kettennaht genannt, weil der Faden eine Reihe von ineinander geketteten Stichen bildet. Diese Naht ist eben nur zu erwähnen; denn unsere Näherinnen wissen recht gut, daß sie sich allzuleicht löst und nicht als eigentliche Befestigungsnaht angesehen werden kann. Sie ist ihrer Natur nach eine Ziernaht und die Kettenstichmaschinen können deswegen nur in den einzelnen Fällen, wo blos Zierarbeit verrichtet werden soll, in der Klein-Industrie verwendet werden. Der Kreis der Anwendbarkeit dieser Naht ist im Verhältniß zu den andern nur ein kleiner. Als eine Vervollkommnung dieser Naht kann die Doppelkettennaht angesehen werden. Dieselbe erfüllt den Zweck einer Ziernaht in erhöhtem Maße, indem die hier aus zwei Fäden geschlungene Kette wie eine auf schönste Weise verzierende Schnur auf dem Stoffe sich hinzieht, und bietet zugleich den Vortheil einer größern Festigkeit. Der Kreis ihrer Anwendbarkeit ist daher ein bei weitem größerer; wo geschmackvolle und in die Augen fallende Verzierung und zugleich ein etwas höherer Grad von Festigkeit verlangt wird, ist diese Nahtart an ihrem Platze. Werfen wir nur einen flüchtigen Blick auf die Gründe, welche dieser Doppelkettennaht den Grad der Festigkeit versagen, den wir nachher bei der dritten zu besprechenden Naht antreffen.

Die Doppelkettennaht setzt sich aus zwei Fäden zusammen; der eine obere Faden dringt Stich für Stich durch den Nähstoff hindurch und bildet an der untern Seite desselben Schleifen, welche sich gegenseitig mit den Schlingen des untern Fadens binden, der selbst nicht in den Nähstoff dringt. Die Befestigung des Stichs findet also nur an der untern Seite des Nähstoffs statt, wo sich auch die aus Schlingen des untern und obern Fadens entstandene Kette oder Schnur bildet. Diese Schnur, welche desto dicker aufliegt,

[655] liegt, je stärker der zum Nähen verwendete Faden ist, hat den Nachtheil, daß sie beim Tragen der Kleidungsstücke der Abnutzung sehr unterworfen ist. Die beistehende Figur

zeigt das Schema einer solchen Naht; es ist leicht ersichtlich und klar, daß ein Zug an dem Ende des untern Fadens die ganze Reihe von Befestigungen und Schlingen auflöst und daß ein zweiter Zug an dem Ende des obern Fadens auch diesen aus dem Nähstoff herauszieht. Die Naht ist also immerhin eine aufzulösende, wenn sie auch mehr Dauerhaftigkeit besitzt, als die oben erwähnte einfache Kettennaht. Die amerikanische Fabrik von Grover und Baker ist die Repräsentantin des Systems der Doppelkettennaht. An Festigkeit und Dauerhaftigkeit unübertroffen, selbst nicht von irgend einer Art der Handnaht, ist die auf der Nähmaschine angefertigte Doppelsteppnaht. Unsere Abbildung

stellt das Schema dieser Naht dar, und es ist schon daraus leicht ersichtlich, welche gute Eigenschaften dieselbe besitzen muß. Wir bemerken zuvörderst mit Wohlgefallen, daß das Aussehen der Naht auf beiden Seiten des Nähstoffs dasselbe ist. Wir können, wenn die Naht fertig ist, nicht mehr bestimmen, welche Seite des Stoffes als oben und welche als unten behandelt worden ist. Dies ist der erste Vortheil, welchen die Doppelsteppnaht vor den beiden andern Maschinennähten, ja selbst vor den meisten Handnähten voraus hat. Ein zweiter Vortheil, welcher gerade vom Standpunkte der Arbeiterfrau als ein sehr erheblicher betrachtet werden muß, ist der geringe Garnverbrauch, welchen die Doppelsteppnaht erheischt; man kann den Garnverbrauch einer Doppelkettennaht ungefähr auf das Doppelte dessen der Doppelsteppnaht schätzen. Macht man sich einen richtigen Begriff von der Leistungsfähigkeit einer Nähmaschine überhaupt, so wird man die Bedeutung würdigen können, welchen diese Kostenersparniß der Doppelsteppstich-Maschinen für die Arbeiterinnen hat. Das Ansehen der obigen Figuren allein giebt schon die Ueberzeugung von der Richtigkeit dieser Thatsache, ebenso davon, daß die Doppelsteppnaht die andere an Festigkeit, Dauerhaftigkeit und Unauflöslichkeit übertreffen müsse. Der obere und der untere Faden der Naht verschlingen sich, wie man sieht, mitten im Stoff selbst und es ist unmöglich – ist die Naht gut und regelrecht gebildet – durch Zug an dem obern oder untern oder an beiden Fäden zugleich die Naht zu lösen, ebensowenig wie dies bei der Handnaht geschehen kann. Es ist unglaublich, wie sehr die Unkenntniß dieser einzigen Thatsache der Einführung und allgemeinen Verbreitung der Nähmaschinen geschadet hat. Das Vorurtheil ist durch die Einführung der Kettenstich-Maschinen geweckt worden und hat bis zum heutigen Tage auch in Betreff der Doppelstepp-Maschinen bei einem Theile des Publikums nicht zerstört werden können. „Wenn sich ein Stich in der Naht löst, so löst sich die ganze Naht“ – dies ist das Evangelium, auf welches alle Gegner der Nähmaschine schwören, mögen sie dies nun aus eigenem falschen Vorurtheil thun, oder um falsche Vorurtheile zu wecken. Es kann nicht oft genug wiederolt werden: die auf der Nähmaschine angefertigte Doppelsteppnaht besitzt alle Eigenschaften der Schönheit und Festigkeit, welche man überhaupt von einer Naht verlangen kann. Der Kreis ihrer Anwendbarkeit und Brauchbarkeit bei allen Arten Näharbeit ist deswegen der ausgedehnteste. Alle Arten von Stoffen, von den dünnsten bis zu den dicksten, von den weichsten bis zu den härtesten, von den biegsamsten bis zu den starrsten, von den lockersten bis zu den festesten, können auf den Doppelsteppstich-Maschinen mit größter Leichtigkeit und Bequemlichkeit verarbeitet werden.

Die Maschinen, welche die Doppelsteppnaht anfertigen, zerfallen wieder für sich in zwei verschiedene Classen: wir bezeichnen die eine als das System mit dem Weberschiffchen, die andere als das System mit der Spule. Das erstere, welches wirklich mit einer Art bei jedem Stiche hin- und herschießenden Weberschiffchens arbeitet, hat die Eigenthümlichkeit, daß seine Maschinen bei langsamerem Gange die allerstärksten Stoffe, bis zum festesten Sohlenleder, mit einer ebenso festen Naht zu versehen im Stande sind; die amerikanische Fabrik von Singer und Comp. ist die Repräsentantin dieses Systems. Das zweite System, welches statt des hin- und herschießenden Schiffchens eine feststehende Spule auszuweisen hat, ist dadurch charakteristisch, daß seine Maschinen das Maximum der Schnelligkeit zu erreichen im Stande sind. Die Fabrik von Wheeler und Wilson, ebenfalls in Amerika, vertritt dieses System. Diese Maschinen bewältigen Nähstoffe aller Art mit einer Schnelligkeit und Sauberkeit, welche alle Begriffe übersteigt. Man muß das Auf- und Absteigen der Nadel, welches so schnell geschieht, daß man mit den Augen nicht mehr folgen kann, muß die Reihe unzähliger Stiche von genauester Gleichheit, Regelmäßigkeit und Vollkommenheit gesehen haben, um nur die Möglichkeit einer solchen Leistungsfähigkeit glauben zu können.

Die Wheeler- und Wilson-Maschinen sind die eigentlichen Maschinen der Klein-Industrie, und auf diese haben wir deswegen hier unser besonderes Augenmerk zu richten. In allen kleineren und größeren Werkstätten, welche sich mit der Fabrikation von Weiß- und Bettzeug, Herren- und ganz besonders Damenkleidern, Manschetten, Handschuhen etc. etc. beschäftigen, sieht man diese geräuschlose und geschwinde Näharbeiterin unter der Aufsicht von jungen Mädchen oder Frauen ihr Tagewerk verrichten. Dies ist das eigentliche Werkzeug, welches in den Händen der Arbeiterfrauen eine Wohlthat für die Arbeiterfamilien zu werden verspricht.

Ich kann nicht umhin, noch eines Einwurfs zu gedenken, welcher schon so oft bei Einführung neuer Maschinen gemacht und ebenso oft durch die Erfahrung widerlegt worden ist. Man hat gesagt: wenn die Näharbeit vor Einführung der Nähmaschine die Hälfte aller in der Industrie überhaupt beschäftigten Frauen in Anspruch genommen hat und wenn die Nähmaschine unter der Aufsicht einer Arbeiterin so viel leistet, wie fünf Näherinnen ohne Maschine, so ist die Nähmaschine als ein Unglück für die arbeitende Frauenwelt anzusehen, denn sie macht zwei Fünftel aller Arbeiterinnen entbehrlich und also brodlos. Wie grundlos ist dieser Einwurf! Durch die Einführung der Nähmaschine hat sich die Anzahl der Näherinnen keineswegs vermindert, im Gegentheil – vermehrt; denn die Nachfrage nach Arbeit ist dadurch ganz enorm gesteigert worden. Arbeitet die Nähmaschine auch fünf Mal schneller als die Menschenhand, so giebt es doch vielleicht jetzt zehnmal so viel zu nähen als früher. Das Feld der Frauenarbeit hat sich vergrößert und ein Theil der Arbeiterinnen ist nicht nur nicht brodlos geworden, sondern kann jetzt mit Hülfe der Nähmaschine so viel und mehr verdienen, als dies vorher durch die verderbliche Beschäftigung in den Werkstätten der Groß-Industrie möglich war. Und welcher Unterschied ist erst zwischen dem Verdienst, den eine gewöhnliche Handnäherin zu erzielen im Stande ist, und demjenigen, welchen eine Maschinennäherin erreicht! Die letztere, selbst wenn sie außerhalb einer Familie für sich allein lebt, wenn sie einzig und allein auf den Ertrag ihrer Arbeit angewiesen ist, sichert sich durch die Nähmaschine eine wenn auch nicht glänzende, so doch sorgenlose und anständige Existenz; erstere aber ist nicht im Stande, sich nur kümmerlich das Leben zu fristen, wenn sie nicht als Glied einer Familie lebt und so im Verein mit Andern den gemeinsamen Lebensunterhalt miterwerben hilft. Zu alledem aber kommt noch, daß, während die Handnäharbeit den allerschlimmsten Einfluß auf den Gesundheitszustand der Arbeiterinnen ausübt, die Arbeit an der Nähmaschine der Gesundheit keineswegs nachtheilig ist. Es wäre wünschenswerlh, statistisch festzustellen, ein wie großer Theil der Handnäherinnen mit der Zeit ein Opfer von Augenübeln, Schwindsucht und allen möglichen Krankheitsformen werden, die sich aus einer Augen, Brust und Rücken anstrengenden Arbeit herleiten, um danach den günstigen Einfluß auf den Gesundheitszustand der Arbeiterinnen bemessen zu können, welchen die Nähmaschine ausübt. Und so läßt sich noch eine ganze Reihe nebensächlicher Vortheile aufführen – auch wenn man ganz von den wohlthätigen Einflüssen absieht, welche die Nähmaschine auf das Familienleben selbst der gebildeten und wohlhabenden Classen der Gesellschaft auszuüben im Stande ist. Die Nähmaschine ist und bleibt eine Erfindung von der größten und segensreichsten Bedeutung, die Wohlthäterin der Frauenwelt.
R. H.