Die Zaren

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Autor: Rainer Maria Rilke
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Titel: Die Zaren
Untertitel:
aus: Das Buch der Bilder
2. Buch Teil 1, S. 99–112
Herausgeber:
Auflage: Zweite sehr vermehrte Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1906
Verlag: Axel Junker Verlag
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Erscheinungsort: Berlin / Leipzig, Stuttgart
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[99]
 Die Zaren


     Ein Gedicht-Kreis (1899 und 1906)

 I

[101]
Das war in Tagen, da die Berge kamen:

die Bäume bäumten sich, die noch nicht zahmen,
und rauschend in die Rüstung stieg der Strom.
Zwei fremde Pilger riefen einen Namen,

5
und aufgewacht aus seinem langen Lahmen

war Ilija, der Riese von Murom.

Die alten Eltern brachen in den Aeckern
an Steinen ab und an dem wilden Wuchs;
da kam der Sohn, ganz groß, von seinen Weckern

10
und zwang die Furchen in die Furcht des Pflugs.

Er hob die Stämme die wie Streiter standen,
und lachte ihres wankenden Gewichts,
und aufgestört wie schwarze Schlangen wanden
die Wurzeln, welche nur das Dunkel kannten,

15
sich in dem breiten Griff des Lichts.


Es stärkte sich im frühen Thau die Mähre
in deren Adern Kraft und Adel schlief;
sie reifte unter ihres Reiters Schwere,
ihr Wiehern war wie eine Stimme tief, –

20
und beide fühlten wie das Ungefähre

sie mit verheißenden Gefahren rief.

Und reiten, reiten...vielleicht tausend Jahre.
Wer zählt die Zeit wenn einmal Einer will.
(Vielleicht saß er auch tausend Jahre still.)

25
Das Wirkliche ist wie das Wunderbare:
[102]
es mißt die Welt mit eigenmächtigen Maßen;

Jahrtausende sind ihm zu jung.

Weit schreiten werden welche lange saßen
in ihrer tiefen Dämmerung.


 II

30
[103]
Noch drohen große Vögel allenthalben

und Drachen glühn und hüten überall
der Wälder Wunder und der Schluchten Fall;
und Knaben wachsen an und Männer salben
sich zu dem Kampfe mit der Nachtigall,

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die oben in den Kronen von neun Eichen

sich lagert wie ein tausendfaches Thier,
Und abends geht ein Schreien ohnegleichen,
ein schreiendes Bis-an-das-Ende-Reichen
und geht die ganze Nacht lang aus von ihr;

40
die Frühlingsnacht, die schrecklicher als alles

und schwerer war und banger zu bestehn:
ringsum kein Zeichen eines Ueberfalles
und dennoch alles voller Uebergehn,
hinwerfend sich und Stück für Stück sich gebend,

45
ja jenes Etwas, welches um sich griff;

anrufend noch, am ganzen Leibe bebend
und darin untergehend wie ein Schiff.

Das waren Ueberstarke, die da blieben,
von diesem Riesigen nicht aufgerieben,

50
das aus den Kehlen wie aus Kratern brach;

sie dauerten und alternd nach und nach
begriffen sie die Bangnis der Aprile
und ihre ruhigen Hände hielten viele
und führten sie durch Furcht und Ungemach

55
[104]
zu Tagen, da sie froher und gesünder

die Mauern bauten um die Städtegründer
die über allem gut und kundig saßen.

Und schließlich kamen auf den ersten Straßen
aus Höhlen und verhaßten Hinterhalten

60
die Thiere, die für unerbittlich galten.

Sie stiegen still aus ihren Uebermaßen
(beschämte und veraltete Gewalten)
und legten sich gehorsam vor die Alten.


 III

[105]
Seine Diener füttern mit mehr und mehr
65
ein Rudel von jenen wilden Gerüchten

die auch noch Er sind, alles noch Er.

Seine Günstlinge flüchten vor ihm her.

Und seine Frauen flüstern und stiften
Bünde. Und er hört sie ganz innen

70
in ihren Gemächern mit Dienerinnen,

die sich scheu umsehn, sprechen von Giften.

Alle Wände sind hohl von Schränken und Fächern,
Mörder ducken unter den Dächern
und spielen Mönche mit viel Geschick.

75
Und er hat nichts als einen Blick

dann und wann; als den leisen
Schritt auf den Treppen die kreisen;
nichts als das Eisen an seinem Stock.

Nichts als den dürftigen Büßerrock

80
(durch den die Kälte aus den Fliesen

an ihm hinaufkriecht wie mit Krallen)
nichts, was er zu rufen wagt,
nichts als die Angst vor allen diesen
nichts als die tägliche Angst vor allen

85
die ihn jagt durch diese gejagten

Gesichter an dunklen ungefragten
vielleicht schuldigen Händen entlang.

[106]
Manchmal packt er Einen im Gang

grade noch an des Mantels Falten

90
und er zerrt ihn zornig her;

aber im Fenster weiß er nicht mehr:
wer ist Haltender? Wer ist gehalten?
Wer bin ich und wer ist der?


 IV

[107]
Es ist die Stunde da das Reich sich eitel
95
in seines Glanzes vielen Spiegeln sieht.


Der blasse Zar, des Stammes letztes Glied,
träumt auf dem Thron davor das Fest geschieht
und leise zittert sein beschämter Scheitel
und seine Hand die vor den Purpurlehnen

100
mit einem unbestimmten Sehnen

ins wirre Ungewisse flieht.

Und um sein Schweigen neigen sich Bojaren
in blanken Panzern und in Pantherfellen,
wie viele fremde fürstliche Gefahren

105
die ihn mit stummer Ungeduld umstellen.

Tief in den Saal schlägt ihre Ehrfurcht Wellen.

Und sie gedenken eines andern Zaren,
der oft mit Worten die aus Wahnsinn waren
ihnen die Stirnen an die Steine stieß.

110
Und denken also weiter: jener ließ

nicht so viel Raum wenn er zu Throne saß
auf dem verwelkten Sammt des Kissens leer.

Er war der Dinge dunkles Maß,
und die Bojaren wußten lang nicht mehr

115
daß rot der Sitz des Sessels sei, so schwer

lag sein Gewand und wurde golden breit.

[108]
Und weiter denken sie: das Kaiserkleid

schläft auf den Schultern dieses Knaben ein.
Obgleich im ganzen Saal die Fackeln flacken

120
sind bleich die Perlen, die in sieben Reihn

wie weiße Kinder knien um seinen Nacken
und die Rubine an den Aermelzacken
die einst Pokale waren, klar von Wein,
sind schwarz wie Schlacken –

125
Und ihr Denken schwillt.


Es drängt sich heftig an den blassen Kaiser,
auf dessen Haupt die Krone immer leiser
und dem der Wille immer fremder wird;
er lächelt. Lauter prüfen ihn die Preiser,

130
ihr Neigen nähert sich, sie schmeicheln heiser,

und eine Klinge hat im Traum geklirrt.


 V

[109]
Der blasse Zar wird nicht am Schwerte sterben,

die fremde Sehnsucht macht ihn sakrosankt;
er wird die feierlichen Reiche erben,

135
an denen seine sanfte Seele krankt.


Schon jetzt, hintretend an ein Kremlfenster
sieht er ein Moskau, weißer, unbegrenzter,
in seine endlich fertige Nacht gewebt;
so wie es ist im ersten Frühlingswirken

140
wenn in den Gassen der Geruch aus Birken

von lauter Morgenglocken bebt.

Die großen Glocken die so herrisch lauten
sind seine Väter, jene ersten Zaren,
die sich noch vor den Tagen der Tataren

145
aus Sagen, Abenteuern und Gefahren,

aus Zorn und Demut zögernd auferbauten.

Und er begreift auf einmal wer sie waren
und daß sie oft um ihres Dunkels Sinn
in seine eignen Tiefen niedertauchten

150
und ihn, den Leisesten von den Erlauchten,

in ihren Thaten groß und fromm verbrauchten
schon lang vor seinem Anbeginn.

Und eine Dankbarkeit kommt über ihn
daß sie ihn so verschwenderisch vergeben

155
an aller Dinge Durst und Drang.

Er war die Kraft zu ihrem Ueberschwang,
der goldne Grund vor dem ihr breites Leben
geheimnisvoll zu dunkeln schien.

[110]
In allen ihren Werken schaut er sich
160
wie eingelegtes Silber in Zierraten,

und es gibt keine That in ihren Thaten
die nicht auch war in seinen stillen Staaten
in denen alles Handelns Roth verblich.


 VI

[111]
Noch immer schauen in den Silberplatten
165
wie tiefe Frauenaugen die Saphiere,

Goldranken schlingen sich wie schlanke Thiere
die sich im Glanze ihrer Brünste gatten,
und sanfte Perlen warten in dem Schatten
wilder Gebilde, daß ein Schimmer ihre

170
stillen Gesichter finde und verliere.

Und das ist Mantel, Strahlenkranz und Land
und ein Bewegen geht von Rand zu Rand,
wie Korn im Wind und wie ein Fluß im Thale
so glänzt es wechselnd durch die Rahmenwand.

175
In ihrer Sonne dunkeln drei Ovale:

das große gibt dem Mutterantlitz Raum
und rechts und links hebt eine mandelschmale
Jungfrauenhand sich aus dem Silbersaum.
Die beiden Hände, seltsam still und braun,

180
verkünden daß im köstlichen Ikone

die Königliche wie im Kloster wohne,
die überfließen wird von jenem Sohne
von jenem Tropfen drinnen wolkenohne
die niegehofften Himmel blaun.

185
Die Hände zeugen noch dafür;

aber das Antlitz ist wie eine Thür
in warme Dämmerungen aufgegangen
in die das Lächeln von den Gnadenwangen
mit seinem Lichte irrend sich verlor.

190
[112]
Da neigt sich tief der Zar davor und spricht:

Fühltest Du nicht, wie sehr wir in Dich drangen
mit allem Fühlen, Fürchten und Verlangen:
wir warten auf Dein liebes Angesicht,
das uns vergangen ist; wohin vergangen?

195
Den großen Heiligen vergeht es nicht.


Er bebte tief in seinem steifen Kleid
das strahlend stand. Er wußte nicht wie weit
er schon von allem war und ihrem Segnen
wie selig nah in seiner Einsamkeit.

200
Noch sinnt und sinnt der blasse Gossudar.

Und sein Gesicht das unterm kranken Haar
schon lange tief und wie im Fortgehn war,
verging, wie jenes in dem Goldovale,
in seinem großen goldenen Talar.

205
(Um ihrem Angesichte zu begegnen.)


Zwei Goldgewänder schimmerten im Saale
und wurden in dem Glanz der Ampeln klar.