Die Zuwider-Wurzen
„Kreuz Birnbaum und Hollerstaud’n! Wie lang’ soll denn die G’schicht’ noch dauern? Drunten im Dorf werden’s schon bald das Z’sammenläuten anfangen, und da rührt sich alleweile noch nichts!“ So rief es aus der Stube im Erdgeschosse durch das stattliche Bauernhaus, das in der einsamen Jachenau an dem Abhange liegt, wo es „am Berg“ genannt wird und wo der vom Walchensee herkommende Wanderer, nachdem er die feuchten Waldniederungen und den Erlengrund durchschritten hat, zuerst das ganze grüne Gebirgsthal vor sich hingestreckt sieht wie einen großen, von riesigem Bergzaune umgebenen Rasenplatz. Die Stimme gehörte einem hochgewachsenen, hageren Manne, der den kahlen, nur noch mit einem Kranze weißen Kraushaares umgebenen Kopf durch die Thür in’s Hausfletz gesteckt hatte, das er zugleich mit scharf musternden Blicken überschaute. „Na,“ begann er wieder, „hört denn wirklich Niemand? Wenn’s heut’ nichts mehr wird, so freu’ ich mich auf morgen.“ Er hielt wieder einen Augenblick horchend inne; doch in dem Hause waltete tiefe festtägliche Ruhe, und nur ganz fern ließ sich der gedämpfte Ton von Stimmen vernehmen, aber ununterbrochen durch das Rufen und unbekümmert um den Rufenden. Kopfschüttelnd setzte der Horcher den Finger an den Mund, und ein greller, schallender Pfiff gellte so laut durch den Raum, daß nur ein Todter oder ein vollständig mit Taubheit Geschlagener ihn zu überhören vermochte. Darauf antwortete endlich aus der Entfernung ein Geräusch, als ob eine Thür geöffnet würde, und eine Weiberstimme rief: „Wer schreit denn so unsinnig? Was geit’s denn?“
„Langweilige Weibsbilder geit’s,“ rief der Bauer entgegen. „Ich will gern sehen, ob ich Euch vorspannen muß, damit Ihr mit Eurer Hoffahrt fertig werdet.“
„Wir kommen gleich,“ rief eine Weiberstimme entgegen, hell und wohlklingend, aber doch von etwas gereizter Schärfe im Tone. „Wer’s nit erwarten kann, der soll nur schön langsam vorangehen.“
Der Bauer schien eine zornige Erwiderung auf der Zunge zu haben, besann sich aber anders und brummte halblaut in den grauen Schnauzbart, der in zwei mächtigen Flügeln unter der Nase hing, die aus dem kräftigen Gesichte so stattlich hervortrat, als hätte die Natur versucht, die Felsenvorsprünge der Berge im Kleinen nachzuahmen. Von dem Gemurmel waren nur einige Worte zu verstehen, die sich anhörten wie: „Sakrisches Dirndl das, mit ihrem ewigen Aufbegehren! Sie macht’s doch allemal so!“ Dieses „Allemal“ mochte eben die Ursache sein, daß er das Weitere verschluckte und sich ruhig in das Unvermeidliche ergab; er mochte es so gewohnt sein, dem „Aufbegehren“ auszuweichen, denn trotz der Größe und Stattlichkeit der ganzen Gestalt, welche auf Kraft und Derbheit schließen ließ, war um den Mund ein starker Zug jener lässigen Gutmüthigkeit zu bemerken, der nichts lieber ist als Ruhe und Frieden. Die ärgerliche Aufwallung des Augenblicks war rasch vorüber, und der Bauer setzte sich auf die an der Mauer herumlaufende Bank an den Tisch, auf welchem ein großer Foliant aufgeschlagen war, eine Bibel mit mächtigen Lettern und derben Holzschnitten, welche die heiligen Geschichten in fast handgreiflicher Weise erläuterten. Er nahm die kleine blecherne Zwickbrille, welche zwischen den Blättern lag, setzte sie auf die Nase und begann zu lesen; aber es war ihm nicht möglich, in die rechte Stimmung zu kommen. Er legte die Brille wieder weg, und das unbewaffnete Auge blieb an den Bergen und an dem Landschaftsbilde hängen, das sich vor dem Fenster in der ersten Pracht und unentweihten Herrlichkeit des Frühlings ausbreitete; bald schob er das Buch völlig bei Seite, stand auf und öffnete das Fenster; ein lauer, weicher Luftstrom wogte wie grüßend herein und machte die Weinreben erzittern, die mit den ersten aufbrechenden Blattaugen an dem sonnigen Gemäuer emporrankten.
„Kreuz Birnbaum!“ sagte der Bauer in sich hinein. „Einen so schönen Ostertag hab’ ich nicht leicht gesehen und ein so zeitiges Frühjahr auch nicht. Die Luft ist ja hellicht wie Balsam, die Kirschbäume fangen schon zum Blühen an, auf den Büheln ist’s schon ganz awer und grün, und der Schnee auf den Bergen ist schon so krank, alswie sonst bald um Johanni.“ Er verstummte; das Auge war vollauf mit dem herrlichen Anblick beschäftigt und hatte auch guten Grund, dabei zu verweilen, denn das Bild war von entzückender Schönheit. Ueber den Berghang hinab hatten die frischen Grasspitzen schon ihren lichten, grünen Teppich gewoben, stellenweise unterbrochen durch Büschel gelber Schlüsselblumen oder weißer Schneeglöckchen, so eng und dicht, als hätten sie sich zusammengedrängt, um sich vor der Winterkälte zu schützen, die so lange auf ihnen gelastet. Weithin dehnte sich das Wiesenthal, frisch und saftvoll, und die Bäume dazwischen, wenn auch noch blattlos, waren von jenem unbeschreiblichen grünen Schein überflogen, der ein untrüglicher Bote des Frühlings ist. Selbst das Schwarz der Tannen war milder geworden von dem ersten Hervorbrechen [122] der jungen Sprossen. Hier und da aber streckte sich ein schlanker Kirschbaum, über und über mit weißen Blüthen bedeckt, empor, daß er aussah wie ein großer Blumenstrauß, der an eine Stange gebunden worden, damit er weiterhin sichtbar sei und verkünden sollte, daß sie wirklich wieder gekommen, die Zeit des Keimens und Blühens. Rings nach allen Seiten hin drängten sich die Berge heran mit den Wäldern am Fuße, den Felsen am Gürtel und der Eiskrone auf den Häuptern; wohl starrten die weißen riesigen Massen noch weithin in furchtbarer Unbeweglichkeit, aber hier und da hing es doch schon wie gelöstes Silberhaar in abrollenden mächtigen Streifen herunter oder Blöcke lagen in dem Dunkelgrün der Wälder wie Splitter eines zersprungenen Krystalls. Zur Linken zog sich der Bergstock hin, welcher gegen die Ebene hinaus in der Benedictenwand abstürzt, ein majestätischer, ununterbrochener Felsgrat, in wunderlichen Zacken fortlaufend von der Rabenklamm bis zum Latschenkopf und Waxenstein, zu welchen die bewaldeten Vorberge und Thalhügel allmählich wie gewaltige Stufen emporstiegen; rechts erhob sich der Bergrücken, welcher das Flußbett der Jachen von dem der Isar scheidet und sich so hoch emporstreckt, als wollte er die höheren, aber entfernteren Häupter und Schrofen der angrenzenden Tiroler Berge verhindern, durch die Lücken in Wald und Fels neugierig herüberzulugen – über Allem lag blau und klar der Morgenhimmel, und die Frühlingssonne goß ihre Strahlen so mild hernieder, daß am Bienenstande an der Seitenwand des Hauses die Bienen aus den Fluglöchern hervorkamen und die lange nicht gebrauchten Flügel zur Wanderung einzuüben begannen, während am Dachgebälke über ihnen zwitschernde Schwalben so hastig ein- und ausschossen, als könnten sie den Zeitpunkt nicht erwarten, wann das Nest fertig sein werde.
Geraume Zeit hatte der Bauer in Sinnen und Schauen so gestanden und zuletzt wie andächtig die Hände ineinander gelegt. Es kam ihm vor, als stünde er an der Schwelle eines großen Tempels und warte des Augenblicks, in welchem ein wundervoller, geheimnißreicher Gottesdienst beginnen sollte. Feierliche Glockentöne, welche auf den Flügeln der Morgenluft heranschwebten, weckten ihn aus seiner Beschaulichkeit, aber nur um die alte Stimmung und den alten Unmuth wieder hervorzurufen. „Nein, jetzt ist’s aber nimmer zum Aushalten,“ murrte er, „wie lang’ die Weiberleut’ brauchen – jetzt nutzt nichts mehr, jetzt muß ich schon mit einem Donnerwetter dazwischenfahren.“
Mit weit ausgeholten Schritten eilte er zur Thür, kam aber nur bis in die Mitte der Stube, denn mit einem Male flog die Thür auf, daß sie krachend an der Wand anschlug, und im vollen Sonntagsstaate, dem nur noch der Hut fehlte, kam eine alte Frau fliegenden Athems und mit hochgeröthetem Gesichte herein, während von draußen Klirren und Getöse hörbar wurde, als würden Töpfe auf das Pflaster geschleudert, und eine Thür flog dröhnend in’s Schloß, daß die Balken des Hauses schütterten.
„Kreuz Birnbaum und Hollerstauden!“ rief der Alte wieder. „Wie geht’s denn heut’ auf dem Kurzenhof zu? Das ist ja ein Lärm wie bei einer Hexenfahrt.“
„Was wird’s geben?“ erwiderte die Frau, indem sie sich auf die Ofenbank niederfallen ließ, als wenn sie nicht mehr zu stehen vermöchte. „Geärgert hab’ ich mich wieder einmal, daß mich die Füße nicht mehr tragen. Hast schon Recht, daß es zugeht wie bei einer Hexenfahrt, ist aber kein Wunder, wenn man die Hex’ im Haus hat.“
Dem Bauer war das nichts Neues; er fragte nicht weiter, sondern wußte sogleich Bescheid. Die beiden Daumen in den über seiner Brust gekreuzten Hosenträger steckend, ließ er die Finger auf der Stickerei spielen, die mit Pfaufederstiften darauf angebracht war. „So, so,“ sagte er, „die Stasi? Was hat denn das Deandl nachher schon wieder, daß sie nit amal am heiligen Ostertag eine Ruh’ giebt?“
„Ja, was fragt die nach Ostern!“ war die Antwort. „Es ist ein alter und wahrer Spruch: ,Je heiliger die Zeit, je schlimmer die Leut!‘ Was wird sie haben? Die Weih’ will sie nit hinuntertragen in die Kirch’, weil sich das nit für die Tochter vom Haus gehört, weil das eine Arbeit sein soll, die einer Dirn’ zugehört oder einer Bauernmagd.“
„Ah, wär’ ja doch aus!“ rief der Bauer verwundert. „Und wegen so was schlagt sie einen solchen Spectakel auf? Ist denn das Dirndl völlig des Teufels mit seinem Hochmuth?“
„Ach was, der Hochmuth ist es nit bei ihr; es ist nur ihr böser Humor! Sie thut’s nur mir zum Trotz und Widerspruch, weil ich gesagt hab’, sie soll die Weih’ ’nuntertrag’n in die Kirch’, und wenn ich gesagt hätt’, jemand Anderer sollt’s thun, dann wär’ihr das auch nit recht gewesen. Sie muß amal ’was zum Dispetir’n haben! Na, dem Mann gratulir’ ich, der die einmal zur Frau kriegt; der hat’s auch im Mutterleib schon verschuld’t! Aber ich hab’ Dir’s oft gesagt, Lipp-Bruder, hab’ ich gesagt, leid’ ihr den schiechen Humor nit und thu’ dazu, solang das Bäumel noch zum Biegen ist. Aber Du hast ja nie ’was davon hören wollen; das Dirndl ist Dir an’s Herz gewachsen und hast von jeher in sie hineingeschaut wie in einen Spiegel – jetzt hast es; jetzt ist es zu spät dazu.“
„Zu spät?“ rief der Bauer, indem er sich in seiner ganzen Länge aufrichtete. „Ha, was nit gar! Dazu ist’s niemals zu spät, und was sich nimmer biegen will, das kann man brechen.“
„Darauf bin ich neugierig,“ sagte die Frau mit Achselzucken, „wie Du das anstellen willst, Lipp. Mit einem guten Wort wickelt sie Dich wieder um den Finger, und Du hast schon gar keine Zeit mehr dazu. Da unten fangen sie schon mit dem Zusammenläuten an, wir brauchen allemal ein halbes Stündl hinunter in’s Dorf, und besonders heut’, wo die Leut’ aus der ganzen Gegend kommen, sollten wir vor Allen da sein, sonst können wir gar nit mehr in die Kirch’ hinein.“
„Richtig,“ rief der Bauer. „Auf das hätt’ ich bald vergessen. Wie ist’s denn mit dem Osterbock? Der wird doch in Ordnung sein?“
„Da brauchst nit zu fragen,“ erwiderte die Bäuerin mit überlegenem Selbstgefühl. „Den Osterbock hab’ ich besorgt, und wenn ich mich um ’was annehm’, nachher weißt Du, daß es besorgt ist. Heuer ist der Osterbock bei uns, und ich hab’ es schon gerichtet, daß er dem Kurzenhof am Berg kein’ Schand’ macht! Draußen ist er auf dem Wägel; Du kannst nix Schöneres sehen, aber die anderen Sachen alle, die man an einem solchen Tag in einem christlichen Haus weihen laßt, damit bei der Gottesgab’ auch der Segen Gottes bleibt das ganze Jahr, das Geselchte und die rothen Eier und das Milchbrod, sie liegen in der Küch’ auf dem Boden herum, denn die Stasi hat die Schüssel auf den Herd hineingestoßen, daß sie in Trümmer gegangen und Alles nur so herumgekugelt ist. Ich bin fort, daß ich’s nit mehr mit hab’ anschaun müssen! Jetzt kannst Du Deine Herrlichkeit probiren und sehn, was Du mit dem geschupften Dirndl ausrichten kannst.“
„Das will ich auch,“ sagte der Bauer, indem er den langen grünen Rock mit den gelb ausgenähten Knopflöchern vom Nagel herunternahm und sich den niedrigen grasgrünen Hut mit den breiten Bändern auf den Kopf stülpte. Er kam aber nur mit einem Arm in dem weißen Leinenfutter des widerspenstigen Aermels zurecht und rief in steigendem Unmuth: „No’, will mich der Kittel auch noch ärgern? Ich will jetzt einmal zeigen, wer der Herr im Haus ist, ich will dem grantigen Ding den Kopf zurecht setzen!“
„No’, da bin ich, Vater,“ unterbrach ihn das Mädchen, das während der letzten Reden in der offengebliebenen Thür erschienen und auf der Schwelle stehengeblieben war. „Wenn Du mir mein’ Kopf z’recht setzen willst, was hast denn nachher an mir ausz’setzen?“
Der Bauer, schon durch die unerwartete Unterbrechung überrascht, war es noch mehr durch den Anblick des Mädchens, der ganz dazu angethan schien, daß es schwer war, etwas in Wirklichkeit daran auszusetzen. Das Mädchen war sich dessen wohl bewußt. Wie herausfordernd hatte sie den einen Arm auf die Hüfte gestemmt, während der andere die blendend weiße spitzenbesetzte Schürze halb aufzog, als schicke sie sich an, den bevorstehenden Tadel darin aufzulesen. Dem Alten blieb, wie schon einmal, das Wort im Munde stecken. Mit unverkennbarem Wohlgefallen hing sein Auge an dem lieblichen Gesichte und der ganzen gewinnenden Erscheinung des Mädchens. Stasi war wirklich eine Gestalt, welche als Urbild zu dem bekannten und überall verbreiteten Gemälde dienen konnte, auf welchem ein Jachenauer Mädchen in vollem Staate, auf die gekreuzten Arme gestützt, aus einem mit Reben umwachsenen Fenster schaut, als warte sie des Burschen, der würdig sei, sie zum Tanze zu führen und zum Altar. Stasi trug noch ganz die Tracht der damaligen Zeit, die jetzt nur noch in schwachen Ueberresten vorhanden ist – es mögen nahezu vierzig Jahre sein, seit die Geschichte sich zugetragen hat –, ihr reiches, nußbraunes
[123] Haar war in kunstreiche Zöpfe geflochten, welche sich breit an die vollen rothen Wangen anschlossen und dann umgeschlagen und unter dem Hute festgesteckt waren, dessen breite, inwendig mit blaßrother Seide gefältelte Krempe keck auf dem wohlgerundeten Kopfe saß und das leicht beschattete Gesicht mit einem gefälligen Widerscheine überzog, von welchem wieder die breiten, rückwärts herabhängenden und dann nach vorn gezogenen Bänder mit ihrem frischen Grasgrün und den Goldfransen sich angenehm abhoben. Das schwarze mit glänzenden Silberketten reichverschnürte Mieder ließ durch seine Knappheit ebenso die Schlankheit des Wuchses, als die anmuthige Fülle der Gestalt erkennen, und die weißen bis an die Mitte des Oberarmes reichenden Aermel dienten mit ihren breiten Falten ebenfalls dazu, die kräftige Rundung der Arme hervortreten zu lassen, welche der feinsten Städterin nicht zur Unehre gereicht hätten, wenn auch die Farbe die arbeitsgewohnte Tochter der Berge nicht verkennen ließ.
„No’, was ist’s, Vater?“ fragte sie wieder, als der Bauer noch immer nicht die rechten Worte zu finden schien, die angedrohten Vorwürfe darin zu kleiden. „Gewiß hat mich die Mahm’ (Base) wieder bei Dir verklamperlt!“
„Ach, was braucht’s da zu verklamperln,“ rief der Bauer, „wo man selber Ohren hat? Ich hab’ die Schüssel klappern und die Thür zufliegen hören, daß das ganze Haus gezittert hat. Du solltest schon lang unterwegs sein, und jetzt hast die Schüssel mit der Weih’ zerschlagen …“
„Ich, Vater?“ unterbrach ihn das Mädchen, über dessen reizende Züge ein trüber Schatten flog, wie Regenschauer über eine blühende Landschaft. „Ich soll die Schüssel zerschlagen haben? Na, was wird man mir noch Alles aufhalsen! Kann ich dafür, daß die Schüssel nichtsnutzig war? Ich hab’ sie nur ein Bissel fest auf den Herd hingestellt, da ist sie gleich auseinandergegangen.“
„Nit wahr ist’s,“ fiel ihr die Frau von der Ofenbank her in’s Wort. „Eine eiserne Schüssel mußt’ brechen, wenn man sie so aus Leibeskräften aufstoßt, wie Du in Deinem Zorn gethan hast.“
„So?“ entgegnete das Mädchen, dessen blaue Augen in unheimlichem Lichte zu funkeln begannen. „Da soll ich wohl nit in Zorn kommen? Ich soll wohl ein Stock sein und still halten und auf mir trommeln lassen? Kann ich dafür, wenn mich die Mahm’ alleweil zum Zorn reizt?“
„Kreuz Birnbaum!“ rief der Bauer dazwischen. „Werdet Ihr bald still sein und mich auch zum Wort kommen lassen? Die Schwester hat ganz Recht! Was brauchst Du darüber so aus’m Häusel z’kommen? Sie hat nichts Unrecht’s verlangt, wenn sie sagt, daß Du die Weih’ in die Kirch’ tragen sollst – davon wär’ Dir kein’ Perl’ aus der Kron’ gefall’n; das thut überall die Frau oder die Tochter oder sonst die Fürnehmst’ im Haus.“
„Meinetweg’n!“ rief Stasi, deren Wangen sich immer mehr rötheten und deren Stimme immer schärfer klang, „und wenn’s überall so der Brauch ist, so seh’ ich noch lang’ nit ein, warum ich ’was darnach fragen soll! Ich sag’: Der Dirn’ oder Magd kommt’s zu, die schwere Schüssel zu schleppen auf dem weiten Weg’ in die Kirch’ hinunter – und ich will nit, und ich mag nit, und wenn ich’s einmal sag’, so geschieht’s auch nit! Ich will’s nit riskir’n, daß mich das rußige G’selchte oder die schmierigen Eier an mein schön’s Corset’l hinkommen und mir Flecken hineinmachen.“
Die Frau war von der Ofenbank aufgestanden, hatte beide Arme in die Hüften gestemmt und sah nun den allerdings etwas verblüfft dastehenden Bauer mit mitleidigen Blicken an. „No’, was stehst jetz’ da, wie ein Spatzenschrecker, und hörst zu und sagst kein Wort? Du sollt’st Lapp heißen, anstatt Lipp. – Ist dies das Donnerwetter, mit dem Du dem Madl den Kopf zurecht setzen willst?“
„No ja,“ antwortete der Bauer, „ich kann ihr den Kopf doch nit gleich abreißen deswegen! Wenn sie halt die Schüssel durchaus nit tragen will, so ist ja der Welt auch noch nit der Boden aus! Könnt’ ja auch sein, daß sie sich schmutzig macht, und dann weiß ich wirklich nit, warum die Gretl oder die Ursch die Geschicht’ nit auch hinuntertragen kann in die Kirch’!“
„Aha, blast der Wind schon daher?“ rief die Frau. „Hab’ mir’s zuvor eingebildet – aber ich will mich nimmer dareinmischen; ich weiß deswegen doch, was Brauch ist in einem richtigen Jachenauer Bauernhaus! Ich gehör’ auch zum Haus, Gott sei Dank, und solang ich hergehöre, soll beim Kurz am Berg auch geschehn, was da Brauch ist!“
Sie verließ eiligen Schrittes die Stube; das Mädchen aber nahm ihre Stelle auf der Ofenbank ein, als wäre sie angegriffen, und hielt die Schürze vor die Augen, wie wenn sie bitterlich weinte.
„Geh’ doch, Stasi, sei gescheidt!“ sagte der Vater, indem er hinzutrat und ihr begütigend die Hand auf die Schulter legte. „Thu’ Dich nit kränken derentwegen!“
„No’ ja, da sieht’s der Vater,“ schluchzte das Mädchen, „wie die Mahm’ mit mir umgeht! Ich bin die gute Stund selber; aber sie giebt nit eher nach, als bis sie mich auseinander bringt.“
„Laß’ es nur gut sein,“ sagte der Vater und streichelte der verzogenen Tochter die Wange. „Du kennst sie ja, wie sie ist; sie meint halt, es muß Alles nach ihrem Kopf gehen – sonst aber ist sie auch seelengut und thät’ für Dich in’s Feuer gehen. D’rum thu’ Dich nit ärgern deswegen! Die Weih’ wird schon hinunterkommen in die Kirch’, und ich werd’ schauen, wie ich Dir dafür wieder einmal eine Freud’ machen kann.“
Stasi schwieg. Weder das Zureden, noch die Liebkosungen des Vaters waren vermögend, ihren schmollenden Trotz zu entwaffnen.
„Geh’, red’! Sei nicht so bockisch!“ fuhr er wieder fort. „Sag’, was Du willst, sag’, mit was ich Dir eine Freud’ machen kann, und hör’ mir nur mit dem dummen Geflenn auf! Du hast neulich einmal an dem grünseid’nen Fürtuch so ein’ Wohlgefallen gehabt –“
„O nein, Vater,“ erwiderte das Mädchen etwas umgestimmt und trocknete die Augen, die in Wirklichkeit kaum naß geworden waren. „Was liegt mir an dem Fürtuch! Ich hab’ nit mehr d’ran denkt, und es ist mir selbiges Mal nur so durch den Kopf gegangen, wie ich in Tölz gewesen bin und beim Seidenkramer gesehen hab’, daß der Wirth vom Fall seiner Tochter gerade einen solchen grünen Zeug gekauft hat. Das dumme Ding bildet sich ein, daß ihr die Farb’ gut stehen thät’ zu ihrem gelben Gesicht! Da hab’ ich mir freilich denkt: Was die Wirthstochter vom Fall haben kann, könnt’s der einzigen Tochter vom Kurz am Berg auch leiden … aber ich hab’ mir’s schon lang’ wieder aus’m Sinn geschlagen.“
„Brauchst Dir’s nit aus dem Sinn zu schlagen, Stasi,“ rief der Bauer vergnügt; „sollst es haben! Gleich morgen spannen wir ein und fahren nach Tölz hinein zum Seidenkramer und kaufen einen solchen Zeug zu einem Fürtuch und zu einem Corset noch dazu! Wenn’s der Wirth vom Fall zahlen kann, werd’ ich mich auch nit spotten lassen. Aber jetz’ mach’, Stasi, daß wir weiter kommen! – sei gut, thu’ in Dein Tüchl hauchen und druck’s an die Aug’n, daß die Leut’ nit sehn, daß Du geweint hast, die bilden sich sonst gleich allerhand ein. Machen wir uns auf den Weg, die Schwester wird schon nachkommen.“
Endlich schien es dem schönen Trotzkopf gefällig, sein Spiel zu enden; sie schob das Thränentüchlein in die Schürzentasche, strich mit der einen Hand die Fransen des buntseidenen Tuches, das ihren Hals bedeckte, zurecht und drückte mit der anderen den Hut, indem sie einen Blick in den kleinen Spiegel warf, der neben dem Wandkästchen am Eingang unter dem Weihbrunnkesselchen hing. Sie schien mit dem Gesehenen zufrieden zu sein und trat eben mit dem Vater in’s Fletz, als durch dasselbe die Mahm’ geschritten kam, nun auch mit dem grünen Hute bedeckt, begleitet von ein paar ebenfalls aufgeputzten Mägden, in den beiden Händen eine mächtige Schüssel tragend, in welcher, zierlich geordnet und mit Blumen besteckt, die Gegenstände aufgeschichtet lagen, welche die österliche Weihe erhalten sollten. Von einem Kranze roth gefärbter Eier wie von Rosen umgeben, ruhte im Grunde der Schüssel ein mächtiger Laib weißen Brodes, auf welchem sich ein Stück Rauchfleisch, ein Paar Speckseiten und geselchte Würste zierlich geschichtet und verschlungen aufthürmten. Ein mächtiger Schinken, am Knochen mit einer Papierkrause geschmückt, ließ unter der zurückgeschlagenen Schwarte die lockende Rosenröthe seines Anschnitts erblicken, denn das mußte sein, damit nach dem Volksglauben die Weihe im Stande sei, in das Innere einzudringen. Hoch über Allem, wie die siegende Unschuld über dem Laster, thronte ein schneeweißes, aus Butter geformtes Osterlamm in ruhig kauernder Stellung, ein kleines Kreuzlein in den Klauen
[124] festhaltend, mit einem rothen Seidenlappen daran, der das Osterfähnlein bedeuten sollte.
Einen Augenblick hielt Stasi den schon zum Fortschreiten gehobenen Fuß inne; dann stürzte sie gleich einer vorspringenden Katze in aufloderndem Zorne auf die feierlich einherschreitende Trägerin zu und faßte sie am Arme, daß die zierliche Last, die sie trug, abermals in bedenkliches Schwanken gerieth. „Ja was soll denn das heißen?“ rief sie mit kreischender Stimme. „Will etwa gar die Mahm’ selber die Weih’ in die Kirch’ tragen?“
„No’ warum denn etwa nit?“ erwiderte diese. „Die Schüssel hat keine Füß’, daß sie selber hinuntergeh’n könnt’; also muß doch wer sein, der sie ’nuntertragt!“
„Die Magd soll’s thun, hab’ ich gesagt!“ rief Stasi zornig. „Eine von den Dirnen soll’s tragen, und wenn ich’s sag’, so muß es auch geschehn!“
„Aber Kreuz Birnbaum!“ fiel ihr der Vater ins Wort. „Fang’ doch nit schon wieder einen Lärm an wegen nichts und wider nichts! Bei Dir weiß man wirklich niemals, wie man d’ran ist mit Dir. Du bist ja wie das Windfahnl auf’m Dach.“
„So ist’s recht, Vater!“ keifte die Tochter. „Hilf’ noch dazu! Es ist noch nit genug, daß mir die Mahm’ Alles zum Trotz thut, helft nur zusammen, damit Ihr mich unterdrücken könnt! Aber ich lass’ mich nit unterdrücken! Hast Du nit selber gesagt, Vater, daß es immer die Fürnehmste im Haus sein soll, die die Weih’ tragt? Es ist wohl ein dummer Brauch, wenn’s so ist; aber wenn’s einmal keine Magd sein soll, dann kommt’s mir zu; denn die Fürnehmste im Haus – die bin ich!“
Damit hatte sie die Schüssel ergriffen und zog sie mit beiden Händen so heftig an sich, daß die Mahm’ sie ihr überlassen mußte, wenn sie nicht wollte, daß Eier, Brod und Butterlamm abermals mit dem Boden Bekanntschaft machen und für ihren Zweck ganz untauglich werden sollten. Im nächsten Augenblick war Stasi bereits aus der Thür, unbekümmert um die Base, welche die so unvermuthet freigewordenen Hände wortlos über den Kopf zusammenschlug, während der Bauer den seinigen bedenklich schüttelte, sonst aber wie unbeweglich dastand, als wäre er über dem Anblick zu Stein geworden. Die Zunge war es, die zuerst wieder Leben gewann. „Schau, schau,“ sagte er, „so hat sie sich doch noch resolvirt, daß sie die Weih’ tragt – da hätt’ es also den ganzen Streit nit gebraucht! Ich sag’s ja alleweil, die Stasi ist schon recht; es ist schon auszukommen mit ihr, man muß nur verstehn, wie man’s anstellen muß! Aber alterir’ Dich nit, Schwester, und mach’, daß wir nachkommen, und nit gar mit dem Osterbock uns versäumen!“
Vergnügt eilte er aus dem Hause; unwillig folgte die Schwester. „Ich glaub’, er freut sich auch noch, der Lapp,“ rief sie, indem sie die Thür zuschlug und abschloß. „Da heißt’s wohl: Jedem Lappen gefällt seine Kappen – aber meinetwegen! So hart als es mich ankommen thät’, wenn ich von der Heimath weg soll, in der ich geboren und aufgezogen bin – aber wenn das Dirndl nit anders wird, so geh’ ich aus dem Haus.“
Flüchtigen Schrittes und ohne umzublicken, war Stasi inzwischen den Bergabhang hinabgeeilt, an der tiefen Niederung vorüber, welche zur rechten Seite abfällt und sich ansieht, wie das verlassene und übergrünte Becken eines ausgeflossenen Sees. Sie war schon nahe an dem Bühel, wo unter einer anmuthigen Gruppe von Bäumen und allerlei Gebüsch das Kramerhaus sein Kaufmannsschild und das bunt mit Waaren besetzte Ladenfenster zeigt – eine befremdliche Erscheinung in dem einsamen Thale, dessen Bewohner fast alle weit zerstreut in einzelnen Höfen und Sitzen hausen und durch das nur im Sommer die einzelnen Wanderer ziehen, welche die Natur anlockt und die gewaltige Bergeinsamkeit. Gegenüber zieht sich der Weg durch eine kleine Höhlung, an deren Hängen üppige Haselsträuche mit Schlehenstauden um den Vorrang kämpfen; dazwischen hängt der Weinschörl im Sommer seine rothen Dolden neben dem Pfaffenkäpplein auf, der Wildhopfen webt seine Ranken darüber hin, oder die wuchernde Zaunrübe breitet ihren erstickenden Mantel aus, um die buntgefiederten Blüthen darauf ungestört entfalten zu können. Der Weg wendet sich dort um eine Ecke und senkt sich zugleich so rasch, daß ein Fehltritt leicht möglich ist, auch wenn die Geleise desselben minder holprig und die Steine in demselben weniger groß und zahlreich wären. Mit fliegendem Athem und noch immer glühenden Wangen schritt Stasi heran und achtete der Begegnenden nicht, die auf einzelnen Seitenpfaden näher kommend ihr mit Mund und Hand schon aus weiter Ferne vergebliche Grüße zuriefen und zuwinkten; sie achtete auch nicht auf den Weg; denn zum ersten Unmuth war der zweite gekommen, daß die Schüssel in ihren Händen anfing, schwer und unbequem zu werden, und sie sich selbst ausschalt, sich mit einer solchen Bürde beladen zu haben; es fehlte nicht viel, so hätte sie die Schüssel am nächsten besten Platze niedergestellt und unbekümmert ihrem Schicksal überlassen. So kam es, daß sie am Eingange des Hohlwegs auf einen lose liegenden Stein trat, der unter ihrem Schritte zu rollen anfing und sie aus dem Gleichgewichte brachte; der Fall war unvermeidlich, weil sie mit den Händen sich nicht anzuhalten vermochte, in denen sie die Weihschüssel festhielt. Sie wäre sicher hart zu Boden gestürzt und hätte sich vielleicht empfindlich wehe gethan; aber mitten im Taumeln und Schwanken fand sie sich plötzlich unterstützt und von einem kräftigen Arm, der sich von hinten um ihre Hüfte legte, festgehalten, daß sie augenblicklich das Gleichgewicht wieder fand. Verwundert blickte sie um sich und schaute in ein zwar stark gebräuntes, aber männlich schönes Angesicht, auf einen lächelnden Mund, der unter dem Schnurrbart ein Paar blendender Zahnreihen zeigte, und in ein Paar braune Augen, die auf sie so herzlich herniederschauten, daß hinter ihnen die ganze Seele offen dalag.
„Oho, schön’s Dirndl!“ rief der Bursche lachend mit einer Stimme, deren Kraft man es anhörte, daß sie wohl geübt war, während ein gewisser Wohlklang zugleich auf den Gedanken brachte, daß unter den Uebungen auch der Gesang nicht fehlen mochte. „Dösmal bin ich ja gerade recht vom Himmel heruntergefallen, sonst hättest Du ein’ Himmelfahrt gemacht.“
[141] Stasi antwortete nicht gleich. Sie hatte kaum gefühlt, daß sie wieder fest auf dem Boden stand, als sie von der Umarmung sich befreite und ein paar Schritte bei Seite trat, um zu sehen, wer ihr den unerwarteten Dienst geleistet hatte. Das Ergebnis schien ihr nicht zu behagen; denn ihr Gesicht verfinsterte sich augenblicklich wieder. Der Mund, der sich zuerst unwillkürlich zu einem freudigen und dankbaren Lächeln erschlossen hatte, nahm wieder den strengen, höhnischen und mürrischen Zug an, welcher trotz aller Lieblichkeit so gern um denselben heimisch war. Dieser Eindruck war wohl auch erklärlich; denn war auch Gestalt und Kopf des Burschen so hübsch und stattlich, daß er Stasi mit Fug und Recht als ein ebenbürtiges männliches Gegenstück zur Seite gestellt werden konnte, so war doch die Erscheinung im Uebrigen in hohem Grade unsauber und wüst, der Anzug verrissen und mit Schmutz bedeckt, so daß der Gedanke an einen Landstreicher und etwas noch Schlimmeres sich ebenso unwillkürlich aufdrängte, als er verzeihlich erschien. Ein verschossener, löcheriger Hut von der Gestalt eines Kegels stimmte vollkommen zu grobgenagelten Schuhen der plumpsten Art und zu der Lederhose, von deren Schwärze längst die letzte Spur abgetragen war. Der Körper selbst steckte in einer Art von Joppe mit Aermeln, aus dem allergröbsten Loden gefertigt, nur von Heften zusammengehalten und an Brust und Schultern durch einen ledernen Ueberschlag wie durch einen Kragen gedeckt, welcher von Pech und Harz glänzte, wie tropfende Tannenrinde. Der ganze Anzug verrieth einen Menschen, welcher lange und ständig fern von Seinesgleichen im Walde gelebt haben mußte, und die mächtige, langstielige Axt, welche der Mann nebst einem kleinen Werkkorbe über der Schulter hängen hatte, ließ vollständig den Holzknecht erkennen.
„So schau’n ja dieselbig’n aus, die vom Himmel ’runter kommen,“ sagte Stasi, indem sie sich geringschätzig abwandte. „Du mußt schon stark wo anders ang’streift sein – brauchst Dir nichts einzubilden – ich hätt’ mich selber auf den Füßen halten können; ich dank’ Dir nit für Deine Hilf’.“
Eilend schritt sie hinweg und wanderte bereits den Steig zu dem kleinen Pfarrkirchlein hinan, als der Bursche noch unbeweglich dastand und ihr nachsah, in der gehobenen Hand den Hut, den er zum Gruße abgenommen, auf den geöffneten Lippen die Erwiderung auf die unerwartete Anrede. „Sakra,“ sagte er dann, indem er den Hut aufsetzte und mit einem tüchtigen Schlage auf seinem braunen Kraushaar feststülpte, „das ist einmal ein bildsauber’s Madl – aber wenn sie den schiechen Humor nit hätt’, das könnt’ nit schaden.“
Während dessen hatten die Glocken der Dorfkirche ihre Klänge zu vollem Geläute vereinigt; festlich klang es durch das Thal entlang und trug zu den Berghäusern die Kunde empor, daß unten das Dankfest der Christenheit beginne, das Dankfest für die Befreiung aus der Winternacht, für die ewige Dauer verbürgende Auferstehung alles dessen, was groß ist, herrlich und schön. Die Kirche ist klein wie das Dörflein, welches außer dem stattlichen Wirthshause nur in ein paar kleinen Höfen besteht; aber die Stelle ist mit kluger Erwägung so gewählt, daß sie beinahe überallhin sichtbar ist und so recht eigentlich den Mittelpunkt der Gemeinde bildet, deren Glieder, wenn auch in etwa dreißig Höfen, Gütern und Häuschen im Umkreise von vielen Stunden zerstreut, dennoch durch gemeinsame Art, Tracht und Sitte so eng verbunden sind, daß sie von den Bewohnern aller anderen Bergthäler sich unterscheiden. Im Gefühle dieser Eigenheit haben sie sich Jahrhunderte lang einander abgegrenzt und abgeschlossen, sodaß seit Menschengedenken es kaum vorgekommen ist, daß ein Jachenauer Mädchen aus dem Thale hinausgeheirathet hätte; vollends niemals aber war es geschehen, daß ein Fremder oder Auswärtiger hereingekommen wäre und sich angesiedelt hätte auf Haus und Hof in der Jachenau. Jede Familie lebte für sich auf ihrem Gute von dem Ertrag ihrer Arbeit und zwar ganz behaglich; denn für die kleine Bevölkerung reichte die auf den schönen Thalweiden und Almen sehr ergiebige Viehzucht vollkommen aus, und die Nutzung der fast überall bis vor die Thür reichenden Waldungen, die damals nahezu noch Urwälder zu nennen waren, boten eine zweite, nicht spärlich fließende Quelle eines Wohlstandes, dessen Hauptreiz in der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit lag, die er gewährte – dessen Hauptstütze die freudige Genügsamkeit bildete, aus der er entsprang.
Die Kirche, ein altes, aber unscheinbares Bethaus, hatte weitaus nicht Raum genug für die Besucher, welche zumal an einem Tage wie heute von allen Höhen und Niederungen herbeiströmten; deshalb war drinnen in den Kirchstühlen jedem Hofbesitzer sein Platz angewiesen, und jeder hatte denselben auf der Betbank mit einem Schildchen bezeichnet, das den Namen seines Hofes oder Anwesens trägt. Daneben lag das Gebetbuch, damit es der Kirchgänger nicht erst mitzubringen brauchte; denn wenn auch Jahr aus Jahr [142] ein den ganzen Tag über die Kirchthür offen stand, war es doch nicht zu besorgen, daß irgendwer an den alten Büchern sich vergreifen würde, so anziehend manches gerade durch sein Alter sein mochte. Wer nicht auf der kleinen Emporbühne bei den Schulkindern und in der Nähe der ländlichen Orgel Platz finden konnte, ergab sich in sein Schicksal, draußen auf dem Friedhof zwischen den Gräbern zu stehen, deren einfache Kreuze und Denkmale nebst einem schlichten „Requiescat in pace!“ und irgend einem frommen Spruche die Namen der früheren Hofbesitzer trugen, welche den Platz, den sie früher in der Kirche gehabt, nun um einen solchen vor derselben vertauscht hatten. Meist die jüngeren Burschen waren es, welche den Platz vor der Thür vorzogen, theils aus angeborener Lust zur Freiheit, theils weil es Brauch war, am Ende des Hochamts die Mädchen aus der Kirche an sich vorbeiziehen zu lassen. Eine Stelle möglichst nahe an der Kirchenthür war daher sehr erwünscht und gesucht. Den Hut in den gefalteten Händen vor die Brust gedrückt, lauschten sie den einzelnen Worten der Predigt, die zu ihnen herausdrangen, und ließen die Augen durch das mütterliche Thal streifen und die heimathlichen Berge hinan. Es war wohl eine Stelle, an der man andächtig sein konnte, auch ohne das Gewölbe einer Kirche über sich zu haben. Wenn die Orgel aus der offenen Thür erscholl, wenn der Morgenwind durch die Lindenwipfel jenseits der Kirchhofmauer rauschte und das lange Gras auf den Gräbern wanken machte, dann aber wieder den jungen Burschen um die Stirn und in den blonden Locken spielte, als wollte er mahnen, wie bald vielleicht auch sie den frischen Hauch des Lebens nicht mehr spüren würden, wie Diejenigen, die unter ihren Füßen gebettet lagen – dann mußte es wohl ein starres Herz sein, durch das nicht ein frommer Ahnungsschauer der Ewigkeit gegangen wäre.
Vor dem Altare standen die Frauen und Töchter mit Körben und Schüsseln gedrängt, des Augenblicks wartend, der den darauf befindlichen schön geschmückten Speisen die Osterweihe ertheilen sollte; das Hauptstück des Festes aber, das drinnen nicht wohl angebracht werden konnte, stand draußen vor der Thür: ein kleiner vierräderiger Karren, dicht mit Tannenreisig umwunden, daß er wie eine grüne Kiste aussah. An den Ecken waren kleine Wipfel aufgestellt und untereinander durch Kreuzgewinde verknüpft, während den freien Raum in der Mitte frischgepflücktes Waldmoos bedeckte. Auf diesem lag der Osterbock, ein sonderbares Gericht, aus einem ganzen gebratenen Widder bestehend; denn die Sitte – nunmehr mit manch Anderem bis auf eine schwache Erinnerung verloschen – verlangte, daß jedes Jahr ein anderer Hof ein solches Thier zu stellen hatte, und es war der wetteifernde Stolz Aller, einen ganz auserlesen schönen Widder zu liefern, der dann in Viertel zerstückt, so gebraten, dann aber wieder zusammengesetzt wurde, daß er annähernd seine vorige Gestalt hatte. Der Kopf blieb in seiner natürlichen Beschaffenheit erhalten, mit Blumen bekränzt und an den Hörnern stark vergoldet – eine längst nicht mehr verstandene Erinnerung an jene Zeit, als die Bewohner dieser Thäler noch der altdeutschen Frühlingsgöttin Ostera einen Widder zum Opfer zu schlachten pflegten. Die Zusammensetzung und noch mehr die Vertheilung des gebratenen Thieres forderte viel Kunst und Geschicklichkeit; denn es mußte genau so viele Theile geben, als Höfe oder Haushaltungen in der Gemeinde waren, und es wäre ein arger Verdruß entstanden, wenn der Eine oder Andere zu kurz gekommen wäre oder den Theil nicht erhalten hätte, der nach altem Herkommen ihm oder seinem Hause gebührte. Der Osterbock – darüber waren alle Umstehenden einig – suchte diesmal wirklich seines Gleichen. Man sah wohl, daß der Kurz am Berge einer der reichsten Bauern der Gemeinde war, daß er nicht geknausert hatte, einen Widder von seltener Art und Größe auszuspüren, und das gebratene Fleisch ließ schon durch den bloßen Anblick seiner besondern Zartheit das ausgesuchte Futter errathen, mit dem er gemästet worden war. Nicht minder war die Ausstattung ausgezeichnet und selten und bot durch den Reichthum von Blumen, die zu dieser Jahreszeit und in dieser Gegend wirklich eine wunderbare Erscheinung waren, einen ungemein lieblichen Anblick.
„Da sieht man’s,“ sagte einer der Burschen, „was die Schwester von dem Kurzbauern für a tüchtiges Leut ist! Solche Blumen giebt’s um diese Zeit nit weit und breit. Ich hab’ ein einziges Mal solche in der Stadt München in einem Glashaus gesehen. Die muß sie von dort haben kommen lassen, das kann ein schönes Stück Geld kosten.“
„Ich bild’ mir ein,“ sagte ein anderer Bursche, „die Verzierung und die Blumen sind nit auf der alten Kurzin ihrem Mist gewachsen. Das hat gewiß die Tochter ausgestudirt, die Stasi; das ist eine gar Feine, eine von den Ausgestochenen – der sieht so was eher gleich, mein’ ich!“
„Na, dassel’ glaub’ ich nit,“ sagte der Erste wieder, während aus der Kirche die einfallende Schlußcadenz der Orgel verkündete, daß der Pfarrer den letzten Segen über die Anwesenden gesprochen hatte. „Die Kurzenstasi ist viel zu ungut zu so ’was; sie vergönnt ja keinem Menschen ein freundliches Wort, und wenn sie lacht, steigt sie allemal auf den Heuboden hinauf, nur daß man es nicht sieht! Aber jetzt macht, das Amt ist gleich aus, daß wir in’s Wirthshaus hinunterkommen und einen guten Platz finden!“
Indessen war der Holzknecht, nachdem er den Eindruck der unangenehmen Begegnung abgeschüttelt, seine Straße weiter gegangen, hatte am Kirchweg den Hut gezogen und sich andächtig bekreuzt; dann aber schlug er die Richtung nach dem Thale ein und schritt das Wirthshaus entlang, dessen gastlicher Giebel so einladend emporstieg, als freue er sich schon des Besuches, der bald nach dem Gottesdienste seine Räume füllen und seine Vorräte in Küche und Keller leeren werde. Eben war der Wirth unter die Thür getreten und horchte nach der Kirche hin. „Sie sind schon beim Sanctus,“ rief er dann in’s Haus hinein. „Richtet nur Alles her und setzt den Wurstkessel über’s Feuer! Jetzt werdens bald da sein, die Gäst’!“ Eben wollte er selbst wieder in’s Haus zurück, als er den vorüberschreitenden Wanderer gewahr ward und überrascht inne hielt. „He, holla!“ rief er dem Holzknechte zu. „Das wird nit aufgeführt; am Wirthshaus in der Jachenau geht man nit vorbei, ohne daß man einkehrt. Nur herein da und ein Maßl mitgenommen auf den Weg! Das ist ein alter Brauch; den laß ich nit abkommen.“
„Weil Du halt selber alleweil’ der Alte bist und bleibst,“ sagte der Holzknecht, indem er näher trat und die Axt mit dem Werkkorbe ablegte. „Grüß Gott, Wirth! So gieb mir halt ein’ Krug her! Ich hab’ mich freilich nit aufhalten wollen; aber ich denk’, ein Maßl werd’ ich schon zwingen, eh’ die ganze Remissori daher kommt.“
„Ja, was sieh’ ich denn?“ rief der Wirth mit freudiger Verwunderung, indem er dem Burschen die Hand bot, in die dieser kräftig einschlug. „Das ist ja der Floßermartl von Lenggries! Ja, wo kommst denn Du her, Martl, um die Zeit und in dem Aufzug und noch dazu am heiligen Ostertag? Du siehst ja aus wie ein Wilder oder ein Waldmensch!“
„Das glaub’ ich selber,“ sagte der Bursche, indem er auflachend einen Streifzug über seinen Anzug gleiten ließ. „Justement weil ich weiß, daß ich nit ausschau’, wie sich’s unter den Leuten und gar an einem so hohen Feiertag gehört, hab’ ich mich vorbeidrücken wollen, damit mich Niemand ersehen soll … ist aber auch kein Wunder, wenn man geraden Wegs von der Arbeit herkommt!“
„Von der Holzarbeit?“ fragte staunend der Wirth, nachdem er aus dem dargebotenen Kruge des Gastes Bescheid gethan. „Wer wird denn um die Zeit schon in die Berge gehn?“
„Ein bissel früh ist’s freilich,“ erwiderte Martl mit leichtem Achselzucken; „aber was willst machen, wenn Du ein armer Teufel bist und darauf aus sein mußt, daß Du Dir einen Kreuzer verdienst! Droben am Altlacherberg, wo’s hinein geht gegen die Hexenbruck und gegen das Schönberger Moos, ist eine Lahn niedergegangen und hat ein’ schönen Waldspitz niedergedruckt und übereinandergeworfen wie Schwefelhölzer. Der Forstner von der Altlach, der hätt’s gern gesehn, wenn das Holz aufgearbeitet wär’, bis der Auswärts da wär’, damit er den Platz gleich wieder aufforsten könnt’ … Du weißt, Wirth, wir haben nit viel Uebriges, ich und meine alte Mutter; von dem kleinen Häusel draußen an der Wegscheid laßt sich nichts herunterbeißen, und im Winter, wenn die Floßfahrt nimmer geht, ist nit viel zu verdienen. Der Forstner hat gesagt, er wollt’ gern die Arbeit zahlen und noch baare fünfzig Gulden darauf legen, wenn der Platz bis zum Ostertag völlig geräumt wär’ …“
„Ich hab’ von dem Schneebruch gehört,“ schaltete der Wirth ein; „es sollen in die hundert Klaftern sein …“
„Ja es ist ein schönes Neigel – aber fünfzig Gulden extra ist auch ein Wort – also hab’ ich mich frisch daran gemacht; ich weiß ja, was ich zwingen kann, wenn ich so recht hinter der Arbeit
[143] her bin, und doch ist’s an einem Kleinen gestanden, daß ich mich verrechnet hätte … ich hab’ gemeint gehabt, ich würde bis vor acht Tagen fertig werden, und habe noch die ganze heilige Zeit dranstücken müssen … gestern Abend hab’ ich die letzte Klafter aufgescheitert; dafür ist aber der ganze Schlag geräumt wie ein Schachterl, daß der Forstner nit aufgehalten ist und jede Stund’ anfangen kann mit dem Aufforsten!“
„Ja, ja, ich sag’s allemal,“ rief der Wirth lachend, „der Flößermartl ist ein Mordsbursch’, und wer was richtig geschehen haben will, der darf nur bei Dir anklopfen – Du bist der riegelsamste Arbeiter, der beste Schütz und der feinste Citherspieler, und wenn ich ein Dirndl wär’, Dich müßt’ ich zu meinem Buben haben, da setzet’ ich meinen Kopf drauf!“
„Ho, ich denk nit dran,“ rief Martl hinwider und rückte lustig sein durchlöchertes Hütchen auf’s andere Ohr. „Die Weibeten wollen von einem armen Burschen nichts wissen, und ich kränk’ mich nit viel drum. … Meine Cithern, meine Büchs’ und meine Hack’, das sind meine drei Schätz’, und ich hab’ noch das Gute dabei, daß sie niemals miteinander streiten, welche ich am liebsten hab’! So für mich als ein Einschichtiger hab’ ich nach kein’ bösen Wort zu fragen und nach kein’ schiefen Geschau – ich bin mein eigner Herr; heut’ geh’ ich noch hinaus in die Wegscheid zu meinem alten Mutterl und morgen, hat der Forstner versprochen, morgen kommt er zu mir hinaus und zahlt mir die fünfzig Gulden auf den Tisch; nachher heißt’s am Abend aufgerebellt bei der Musik und beim Tanz; nachher heißt’s,“ schloß er, indem er den Hut schwenkte und zu singen anfing:
„Von Länggries bin i außa,
Der Floßer Martl;
Wenn d’ Thaler rebell’n,
Red’ i a a Wartl!“
„Teufelsbub!“ rief der Wirth und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wie er nur so in der G’schwindigkeit die Trutzg’sangeln zuwegen bringt, es ist gerad’ als wenn s’ ihm wer einsagen thät’! Aber wenn Du heut’ nimmer weiter willst, als bis an die Wegscheid hinaus, dann brauchst ja nit zu eilen, dann kannst Du über Mittag da bleiben oder doch bis der Bocktanz vorüber ist … es wird Dich Niemand drum schief anschaun, weil Du im Arbeitsgewand bist, kannst auch gar nimmer recht fort, denn sie blasen schon den Kirchenweg herunter …“
Er trat gegen die Ecke, von Martl gefolgt, als der Zug wirklich bereits um das Haus hervorschwenkte, voran die Musikanten, stattlich ausgerüstet mit Geige, Clarinette und Horn, deren Töne soeben in der Kirche zur Erhöhung der Feier das Ihrige beigetragen, und nun, wie von einem Alp befreit, in ihrem eigentlichen, lustigen Bereich so wohlig durcheinanderschossen, wie Fische, die in frisches Wasser gesetzt worden. Hinter ihnen, umringt von einer Schaar jauchzender Kinder, kam der tannengrüne Karren mit dem gebratenen Widder herangerollt, wieder gefolgt von dem Kurzenbauer, der als Bestgeber mit der Schwester im ganzen Gefühle seiner bäuerlichen Würde einherschritt; Bursche und Mädchen in bunter Unordnung durcheinanderdrängend bildeten den fröhlichen Schluß. Auch Stasi war unter ihnen, widerwillig und verdrossenen Angesichts; es war ihr unangenehm, wie sie eigentlich sollte, neben dem Vater zu gehen, sie blieb unmerklich immer weiter zurück und schien nicht übel Lust zu haben, sich ganz aus dem Staube zu machen.
Martl war erst nicht gesonnen gewesen, der Einladung des Wirthes zu folgen, er gedachte, sich im Gewühl unbemerkt verlieren zu können, mußte aber, um keine Störung zu machen, am Hause stehen bleiben und den Zug an sich vorüberlassen; der Vorsatz blieb aber unausgeführt. Als er unerwartet Stasi gewahrte und ganz nahe vorbeischreiten sah, war Alles vergessen; er wußte nicht, wie ihm geschah, aber als der Zug zu Ende und der Weg in das Thal hin frei und offen war, schlug er doch die entgegengesetzte Richtung ein. Den Bocktanz, dachte er entschuldigend, kann ich mir ja doch mit ansehn, den kriegt man nirgends zu sehn, als in der Jachenau … er dachte es aber nicht zu Ende, sondern brummte, auf etwas Anderes überspringend, halblaut in sich hinein: „Ein fuchswildes Gesicht macht das Madel, aber das gefallt mir gerad’ … wie müßt das trutzige Göschel erst schön sein, wenn’s Einen anlachen thät’!“
Der Karren war inzwischen auf dem Rasenplatz vor dem Hause aufgestellt worden und der Augenblick der Vertheilung war da; die Mahm vom Kurzenhofe vollzog dieselbe mit nicht geringer Würde und Wichtigkeit und Alles ging prächtig von Statten, denn Jedes erhielt reichlich und erhielt das Rechte. Nichts blieb übrig als der blumenbekränzte Kopf mit den vergoldeten Hörnern, der immer dem Wirthe verblieb; die Scherz liebende Sitte verlangte aber, daß er ihn keineswegs einfach zu sich nehmen und forttragen durfte; er mußte mit dem Widderkopf in der Hand ganz allein einen Ringelreihn tanzen, zu welchem die Musik eine ausgelassene Weise spielte und die ganze Versammlung, Jung und Alt, schreiend und juchzend im Knäuel um ihn herumsprang, bis es ihm glückte, eine Lücke zu erwischen und sich und seine Beute im Hause zu verbergen. Hierauf begann der eigentliche Tanz; ehe man an Essen und Trinken dachte, mußte die aufbrausende Jugendlust gebüßt sein, und bald drehten sich auf dem zerstampften Rasen zum Klang eines lebfrischen Ländlers die jauchzenden und jodelnden Paare, wie Wahl oder Zufall sie zu einander gesellt.
Auch Stasi konnte den Tanz nicht verweigern; schon war sie einigen bekannten Burschen gefolgt und kam eben hochaufathmend neben Martl zu stehen, den sie nicht mit einem Blicke beachtete, wenn sie überhaupt seine Anwesenheit gewahr geworden war. Desto mehr war der Bursche mit ihr beschäftigt, er vermochte nicht aus ihrer Nähe loszukommen und konnte sich selbst nicht deuten, warum es so war. Er grollte ihr im Grunde seines Herzens und doch fühlte er sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen – er kämpfte mit sich selbst, um sich loszureißen, mitten in diesem Kampfe aber vergaß er, daß er ihr völlig fremd war, daß er ihr nicht im Feiertagsstaat, nicht im schmucken Schützenanzug gegenüber stand, sondern als schmutziger Holzknecht, und trat vor die Ueberraschte, sie anzureden und aufzufordern.
„Wie haben’s wir zwei miteinander, Dirndl?“ sagte er. „Wir haben heut’ schon einen Tanz gemacht … wollen wir nit noch einmal …“
„Was willst von mir, Du – Du …“ rief Stasi im Zorne auffahrend. „Was kommst mir nochmal in den Weg? Aber ich kann mir’s wohl einbilden, was Du willst,“ fuhr sie, wie sich besinnend fort, indem ein Lächeln des offenbarsten Hohns den schönen Mund umzog. „Du willst Dir’s zu Nutzen machen, daß ich Dir begegnet bin … meinetwegen, da hast etwas, laß Dir eine Maß einschenken.“ …
Damit hatte sie in die Tasche gegriffen und legte ihm ein kleines Geldstück in die ihr offen dargebotene Hand.
Martl zuckte zusammen, ein glühendes Roth überflog sein Gesicht, und seine Brust arbeitete, als stünde er im Holzschlag und als gelte es, eine ungeheure Last zu bewältigen. Es gelang ihm, er überwand das Gelüsten, das ihn anwandelte, der Uebermüthigen die Münze vor die Füße oder in’s Gesicht zu schleudern; wie krampfhaft schloß und ballte er die Hand und brach in wildes Lachen aus. „Ich dank’ Dir, schönes Dirndl,“ rief er, „ich dank’ Dir, weil Du so lieb und freundlich bist und weil Du’s gar so gut im Sinn hast mit mir! Den Sechser aber, den vertrink’ ich nit, den behalt’ ich und laß mir ihn in ein Amulet einnähen, als ein Andenken an den heutigen Ostertag! Den häng’ ich mir um den Hals und denk’ mir, es kommt für Alles eine zahlende Zeit – vielleicht thät’st Du Dich’s einmal viel kosten lassen, wenn Du ihn wieder einlösen könntest.“ …
Stasi hörte ihn nicht, sie hatte sich augenblicklich Bahn im Gedränge gemacht und war verschwunden; auch Martl stürmte in wilder Erregtheit dem Hause zu, an seinen alten Platz. Auf Einen Zug leerte er seinen Krug, ließ ungestüm den Deckel klappen und rief unter lautem erzwungenem Gelächter: „Aufgerebellt, Ihr Jachenauer Buben – setzt Euch her zu mir, heut’ wollen wir lustig sein, heut’ zahl’ ich Alles, ich kann’s ja, heut’ bin ich reich! Schenk’ ein, Kellnerin, und bring’ die Cithern heraus – mich juckt’s in den Fingern, ich muß ihnen was zu tun geben, damit sie mir nicht ausrutschen.“ …
Die Aufforderung war nicht vergeblich; droben im oberen Stockwerk hatte der Tanz noch nicht begonnen, es war nichts zu versäumen, Viele blieben daher stehen und sammelten sich im Kreise, denn Vielen war Martl bekannt und Alle waren begierig, den geschickten Citherschläger zu hören. Andere verweilten aus Theilnahme, denn das kurze Gespräch mit Stasi war nicht ungehört geblieben und unter den Burschen war Mancher, dem es ähnlich ergangen und der auch zu erzählen wußte von dem übermüthig spöttischen Wesen der schönen Bäuerin. Bald war die Cither gebracht
[144] und bald säuselten und schwirrten die Saiten von den zierlichen, anmuthig kecken Weisen, unaufhörlich strömend, wie ein sprudelnder Waldquell. Bald fügten sich auch Worte und Reime dazu. Er sang:
„Ich bin von Länggries,
Der Floßer-Martl,
Mein Trinkgeld, das hab’ ich,
’S leid’t noch ein Quart’l!“
Lauter lachender Beifall antwortete, droben im obern Stock öffnete sich ein Fenster; Stasi stand daran, um ungesehen zu erkunden, wer der geübte Schläger sei und wem die wohlklingende sangkundige Stimme gehören mochte.
Unten tönte es weiter:
„Die Bleameln gehn auf,
’S wird all’weil schöna,
Und wer kann alle Bleameln
Beim Namen kenna!“
Und wieder:
„Eins wachst auf’m Berg,
Da heißt’s beim Kurz’n:,
Das Bleameln, das kenn’ i,
– Hoaßt Z’widerwurz’n!“
Wieder fiel lautes Gelächter ein und viele Stimmen riefen durcheinander. „Recht hat er – es gehört ihr nit besser! Zuwiderwurz’n, das ist für sie der rechte Nam’!“
Droben flog das Fenster zu, daß die Scheiben klirrten!
Es war Sommer geworden, nicht blos draußen in der Ebene und in den Thälern, welche sich zwischen die Berge hineinflechten wie grüne Kränze um Säulen von Stein, sondern auch auf den Höhen, wo der Winter seine Hochwachten ausstellt, die er selten oder nie verläßt, und von denen er herniederspäht, bis die Stunde da ist, wieder herabzustürmen, den voll und warm durch die Welt pulsirenden Herzschlag des Lebens stocken zu machen und über die Erstarrte den weißen Todesschleier zu breiten, mit dem wahnsinnigen Triumph eines Tyrannen, der am Grabe eines seiner Opfer wähnt, es sei ihm gelungen, das verhaßte Licht und die Gluth und mit ihnen die Freiheit auf ewig zu begraben. Er war ungewöhnlich früh gekommen wie der Frühling und schöner noch als dieser. Die Almweiden standen so üppig, daß selbst die ältesten Leute sich solcher Fülle kaum erinnerten, unten in den Thälern hingen die Schwarzkirschen, die sonst erst im September zu reifen begannen, bereits wie purpurne Tropfen in den Zweigen; auf den Berghalden, wo sonst nur spät kärglicher Hafer gedieh, neigten schon reiche Saaten ihre vergilbenden Halme der Sichel entgegen, und droben, die Felsen hinan blühten die Alpenrosen so dicht, als wollten sie wetteifern, die grauen Wände, damit sie nicht zurückblieben in der allgemeinen Freude, mit ihrem reichsten Schmuck zu bekleiden. – Auf einem Fleckchen der anmuthigsten Art war es, wo Martl abermals seine Werkhütte aufgeschlagen hatte; der kleine Rasenplatz davor sah aus, als wäre ein Korb goldener Schmalzblumen, glühender Bergnelken oder blauer, stengelloser Genzianen in das reiche Grün ausgeschüttet worden, zu einer Seite streckte ein mächtiger Ahorn die dichte Blätterkrone über den Raum, auf der andern und im Rücken desselben stieg der Berg beinahe senkrecht empor, während nach vorne hin sich die Aussicht in’s Flachland unabsehbar öffnete; es war an der Grenze der Baumregion, die sich wie ein Gürtel um das Gebirge schlingt und die Reize der beginnenden Almwelt mit denen des zurückbleibenden Waldes vereinigt.
Hart am Fuße der Bergwand unter Bröckelgestein und überhangende Büschel von Riedgras hatte sich die Hütte eingefügt, die, wenn auch von einfachster Bauart, doch eine sichere Zuflucht gewährte und in ihrer vollendeten Einfachheit sogar einen gastlich-wohnlichen Eindruck machte. Von einigen schräg gelegten Brettern bedeckt, die ein weit vorspringendes Vordach bildeten, war sie in zwei Theile geschieden, von denen der kleinere aus einer abgeschlossenen Kammer bestand, während der größere sich ansah, wie eine auf Balken gleich Säulen ruhende offene Vorhalle. Alle diese Hütten sind von der nämlichen Bauart; in der Kammer befindet sich die Lagerstelle des Hausbewohners, ein grobes Bettgerüst mit wohlgefülltem Heupolster und starker Wollendecke, an den Wänden herum und auf einem Brettergesims sind die Kleider und Werkzeuge zur Holzarbeit und sonstiges Geräth aufbewahrt und aufgehangen, der offene größere Theil enthält den Herd, und giebt sich zugleich durch die an der Wand angebrachten Bänke als der zum Empfang von Gästen bestimmte Prunksaal des Besitzers zu erkennen. Um die Hütte herum war der Platz, sowohl Rasen als Weg, mit sichtlicher Sauberkeit reingehalten; nichts ließ die schwere Arbeit erkennen, deren Mittelpunkt sie war, sogar der Anblick des Werkplatzes war durch Gesträuch und durch die letzten Baumreihen des Waldes dem Auge verborgen. Dieser lag wenige Schritte von der Hütte entfernt, hinter einem Stück steilen Hohlwegs und ließ desto deutlicher erkennen, daß die Männer, welche dort oben in der Bretterhütte hausten, außer derselben nicht viel von Ruhe wußten und erfuhren. Ein großer, mit dichtem Schlagwalde bestandener Bergabhang war zur Fällung und neuen Abforstung bestimmt und zeigte, was der Fleiß und die Kraft von einem Paar tüchtiger Arme zu schaffen vermag. Die Stämme lagen gefällt umher, theils entastet und abgeschält, theils in Blöcke zersägt, während seitwärts Rinde und Zweigholz in Stößen aufgeschichtet lag, um gesondert verfahren zu werden, sobald der Winter es möglich machte, mit Schlitten dahin zu gelangen und die Lasten in kleinen Abtheilungen zu Thal zu bringen. Mächtige Reihen von aufgerichtetem Scheiterholz harrten der gleichen Erlösung, indeß seitwärts ein Theil des Holzes, in einen Meiler gehäuft, verdampfte, um dann als Kohle in die weite Welt zu wandern. Nebenan war aus ungeheuren Balken eine riesige Rutschbahn gebaut, welche, bis an den Fuß des Berges reichend, in schnurgeradem und steilem Abfall über Wald, Weg und Weide hinunterführte; die größten, zum Bauholz oder zu Flössen und zum Schiffsbau bestimmten Stämme wurden darauf gelegt und rollten, wenn sie losgelassen wurden, unaufhaltsam, Alles, was ihnen in den Weg kam, zermalmend, unter Donnergepolter in die Tiefe.
[157] Das Tagwerk war beendet; Martl saß allein unter dem offenen Vordache auf der Herdbank, neben sich seine Cither, zur anderen Seite auf dem Herde die eiserne Pfanne, in welcher heißes Schmalz prasselte, um sich mit grobem Mehl zum derben Schmarren zu formen, der einzigen selbstbereiteten Nahrung des Holzarbeiters. Martl hatte auf keines von beiden Acht; er starrte gerade vor sich hin in die unendliche Landschaft hinaus, welche wie ein Garten Gottes im Glorienschein des Abends sich vor ihm ausbreitete. Die Sonne war eben ferne am Horizont untergetaucht, der einsame Peissenberg hob sein verdunkelndes Haupt in den rothglühenden Abendhimmel empor, während die Ebene mit ihren verschwimmenden Linien, vom Widerschein desselben umwallt, wie im rothen Feuergewande prangte, an welchem hie und da gleich einem schimmernden Bande ein Fluß aufblitzte und gleich eingesetzten riesigen Kleinodien die Wasserbecken des Würm- und Ammersees leuchteten. Kein Laut drang herauf; auch waltete ringsum das tiefste Schweigen. Die Mondsichel selbst schien nur vorsichtig über einem fernen schwarzen Waldsaume hervorzuschlüpfen, und ein Lämmergeier strich gegen den Felsgrat der Benedictenwand hin, majestätisch langsamen Fluges und den gewohnten heiseren Schrei anhaltend, als scheue er sich, die feierlichen Abendgedanken der entschlummernden Schöpfung zu stören. Die Augen des Burschen hingen wohl an der Gegend; dennoch war sein Sinn nicht bei derselben, und in der einsamen Stille des Sommerabends umtönte ihn der fröhliche Lärm eines vor nicht langer Zeit erlebten Frühlingsmorgens, der – er wußte selbst nicht, wie das kam – immer wieder in ihm auftauchte und, wenn er auch tagüber vor der Arbeit floh, ihm jeden Augenblick der Ruhe und des Alleinseins ausfüllte. Er schalt sich selbst darüber aus; hundertmal hatte er sich gelobt, sich das Bild aus dem Sinn zu schlagen, aber der Vorsatz war wie kranker Schnee im März, der beim ersten warmen Anhauch schmilzt und dann verräth, daß die Blumen, die man unter ihm erfroren geglaubt, still fortgekeimt sind und plötzlich in voller Blüthe stehen. Wohl hatte er sich allerlei vorgenommen, was er mit dem Gelde unternehmen wolle, das ihm der Förster von Altlach auszuzahlen hatte; er wollte in die Stadt, nach München, gehen und die gerühmten Freuden und Herrlichkeiten derselben von Grund aus kennen lernen, an denen er immer nur im Fluge vorbeistreifen konnte, wenn er mit einem Floße von Tölz heruntergefahren, und Tags darauf, wenn das Floß verkauft war, mit dem vollen Geldgurt um den Leib und dem Beil über dem Rücken wieder zu Fuß in die Berge hineingewandert war. Aber es war ihm auch mit diesen Vorsätzen sonderbar ergangen! Als die schwer erworbenen fünfzig Guldenstücke blank auf dem Tische lagen und funkelten, daß seine alte Mutter sich nicht mehr verwußte vor Freude über die Pracht und den Reichthum, hatte ihn Anblick und Besitz des mit so vieler Mühe erstrebten Schatzes ganz kalt gelassen.
„Heb’s auf, Mutter, und haus’ damit!“ hatte er gesagt, und wie der Förster erzählte, daß er wieder einen Arbeiter suche, daß es abermals gelte, einen großen Schlag auf dem Rabenkopf auszuführen, da waren im Augenblicke alle Pläne und alle Freude, die er von ihnen erwartet hatte, vergessen; ehe er sich kaum recht besonnen, hatte er dem Förster abermals die Hand und mit ihr die Zusage gegeben und sich wieder für den ganzen Sommer verdungen – es war ihm zu Muthe, als tauge er nicht unter die Leute und habe es dringend nothwendig, allein zu sein.
Das hochaufspritzende Schmalz weckte ihn endlich aus seinen Gedanken. „Oho!“ rief er aufspringend, indem er die Pfanne vom Feuer hob. „Am End’ geht mir über dem dummen Sinnir’n die ganze Hütt’n in Rauch auf. Ich bin ein rechter Narr, daß ich mir die Geschicht’ nicht aus’m Sinn schlagen kann und alleweil an das Madel denken muß. Weiß Gott, sie hat mir’s nicht darnach g’macht – sie ist grob mit mir gewesen und unfreundlich, und verdient’s nit, daß ich nur einen Augenblick an sie denk’ … Na, an der Unfreundlichkeit und Grobheit,“ setzte er dann leiser hinzu, „hab’ ich’s freilich auch nit fehlen lassen – aber was ist’s denn weiter? Sie hat auf jeden Fall angefangen und wie man in den Wald schreit, hallt’s zurück, das ist ein altes Wort, und auf einen groben Klotz g’hört ein grober Keil!“
Durch diese Erwägung beruhigt ging er wieder an sein Geschäft, stürzte den Inhalt der Pfanne auf einen an der Herdecke stehenden Holzteller und machte sich zum Essen bereit; er kam aber nicht dazu. Der Schmarren dampfte und duftete vergebens; Martl saß daneben, den Leib vorgebeugt, die Hände um die aufgezogenen Kniee schlingend, und lauschte mit gesenktem Kopfe dem stillen Selbstgespräche, das in seinem Innern noch immer kein Ende fand. Die Entschuldigung, mit der er sich zuerst beschwichtigt hatte, wollte nicht lange nachhalten; er sagte sich, daß es ein Mädchen war, das ihm so unfreundlich begegnete, und mit dem er als Mann es [158] nicht so streng hätte nehmen sollen! Konnte er doch nicht wissen, welchen Kummer oder Verdruß sie vielleicht gerade an diesem Morgen gehabt, und hatte er doch schon oft genug an sich selbst erfahren, daß man in unguter Stunde die Worte eben nicht auf die Goldwage legt. Und hatte das Mädchen denn so Unrecht, wenn sie ihn für einen zudringlichen Bettler oder Vagabunden hielt? Gab es doch derlei Leute hie und da im Lande, und mußte er nicht sich selbst gestehen, daß sein Anzug und sein ganzes Aussehen wohl darnach gewesen, um ihn mit Einem von diesem Gelichter zu verwechseln? Das war allerdings vollkommen einleuchtend; wenn er aber dann mit sich selber darüber grollte, weil er sich wegen der Dirne so sehr vom Aerger hatte hinreißen lassen, so bedurfte es nur einer zufälligen Bewegung, die seine Hand nach Brust oder Hals führte, so war das übergenug, um den Groll wieder von sich auf das Mädchen abzuleiten. Um den Hals hing an einer starken Schnur ein kleines Lederbeutelchen herab, welches nach hinten geschlossen, nach vorn aber offen eine kleine Geldmünze erkennen ließ und wie ein Kleinod verwahrt hielt – es war der verhängnißvolle Sechser vom Jachenauer Bocktanz. Wenn er diesen berührte, kam, wie losbrechendes Wildwasser, der alte Grimm über ihn. Krampfhaft faßte und hielt er die sonderbare Medaille, mit dem alten Unmuth kamen auch die alten Gedanken wieder und das alte beim Umhängen und Fassen des Sechsers gemachte Gelöbniß, nicht zu ruhen, bis er Gelegenheit gefunden, sich für den Schimpf und Spott, der ihm angethan worden, volle Genugthuung zu schaffen.
Er zerdrückte eben einen halblauten Fluch zwischen den Zähnen, als ein Geräusch wie das Rieseln von abbröckelndem Gestein ihn abermals aus seinem Brüten aufstörte. Er horchte auf und wollte eben aus der Hütte eilen, um nachzusehen, ob nicht etwa von der Felswand, an die sie sich lehnte, ein Stein sich zu lösen beginne und ihr Gefahr drohe. Er kam aber nicht bis an den Ausgang, denn das Geräusch ging, immer stärker und stärker werdend, in das eines Falles über. Halb stürzend, halb springend, kam ein Mann über die Felswand herunter, ihm bis fast vor die Füße getaumelt.
„Holla, was giebt’s da?“ rief Martl zurückspringend und streckte den Arm aus, um das an der Wand hängende Beil zu ergreifen, unterließ es aber, denn trotz der einbrechenden Dämmerung erkannte er, daß von dem Manne, waffenlos, verrissen und von dem Falle geschunden, wie er war, eine Gefahr nicht zu befürchten war, obwohl er mit dem wirren grauen Bart und Haar und dem verwitterten Gesicht keinen sehr freundlichen Anblick bot.
„Laß Dein’ Hacken hängen!“ keuchte der Mann in einer Mundart, welche die Nähe der Tiroler Grenze verrieth. „Ich hab’ kein Arg’s im Sinn. Ich bin nur so viel müd’ und hab’ mich nit mehr halten können auf dem steilen Weg! Gieb mir ein’ Bissen zu essen! Ich bin ganz hin vor Hunger und verschmacht’ beinah’ vor Durst.“
„Das kannst hab’n,“ entgegnete Martl; „dort steht noch meine ganze Mahlzeit. Laß Dir’s schmecken! Ein Glasl Kranawitter (Wachholder) wird’s auch noch leiden.“
Während der Fremde heißhungrig über den Holzteller herfiel, war Martl in die Kammer getreten, hatte von dem Gesimsbrette eine Flasche heruntergeholt und das einzige Glas gefüllt, das in der Hütte zu sehen war. „Da trink’!“ sagte er heraustretend. „Wer bist, Mann? Wo kommst her und zuwegen was bist so erlegt?“
„Wer werd’ ich sein?“ sagte der Mann, nachdem er das Glas ausgestürzt. „Ein armer Teufel bin ich halt … hab’ mir ein paar Groschen verdienen wollen und hab’ mich vom Teufel blenden lassen, ein Bissl Tabak und andere Waar’ aus Tirol über die Grenz’ herüber zu tragen! Da haben mich die Grenzjäger erwischt, mit genauer Noth hab’ ich den Pack noch weggeworfen und hab’ mich in die Felsen g’flücht’t; aber ich bin nit bekannt in der Gegend und so hab’ ich mich verstiegen und bin schon den ganzen Tag in der Irr’ herumgekrapelt und hätt’ zu Grund’ gehen müssen, wenn ich nit zuletzt das Rinnsal von ein’ Wildwasser g’funden hätt’! Dem bin ich nachgangen, und so bin ich zu Dir ’kommen und bin froh, daß ich mir nit den Hals gebrochen hab’. Aber wo bin ich denn eigentlich?“ unterbrach er sich dann, indem er während des Essens mit scheuem Blicke um sich sah.
„Wo wirst sein?“ erwiderte Martl. „Wenn Du über’n Berg hinunterkommst, bist in der Jachenau. Dort kannst ausrasten und über Nacht bleiben. Wird Dich wohl nit g’rad’ Einer von dene Grenzjäger aufgehen, und morgen kannst nachher schauen, wie Du ’nüberkommst nach Wallgau oder Mittenwald zu.“
„Dank’ schön, Camerad!“ sagte der Bursche. „Aber ich hab’ kein Zeit … will schon lieber heut noch hinunter in die Jachenau. Da bin ich nit zum ersten Mal; ich kenn’ die Weg’ und will heut’ noch hinaus bis an die Wegscheid’; morgen werd’ ich mich schon durchschleichen durch die Riß und in mein Heimathl hinein!“
„Wie Du willst,“ entgegnete Martl, indem er den Burschen seitwärts etwas schärfer in’s Auge faßte. „Ich werd’ Dich nit aufhalten. Kannst gar nit fehlen; geh’ nur dem Waldweg nach, bis Du zu einer Kohlhütt’n kommst! Die liegt gleich unten, ein’ Büchsenschuß weit, wo die Holzriß ist. Kannst auch gleich auf der abfahren, wenn Du’s gar so eilig hast und wenn Du Schneid’ hast.“
„B’hüt’ Gott!“ sagte der Bursche, indem er das noch einmal gefüllte Glas leerte und sich aufrichtete. „Ich dank’ Dir schön für Dein’ Unterstand, Holzknecht! Wenn ich einmal kann, werd’ ich Dir’s vergelten.“ Damit sprang er bei Seite und war im Augenblick gleich einem Thiere in den Gebüschen verschwunden, deren Schwanken und Knicken den auch jetzt so ungewöhnlichen Weg verrieth, den er nahm.
„Ich brauch’ Dein’ Dank nit,“ rief ihm Martl nach. „Ist Dir geschenkt; will keine Abraitung mit Dir haben! Das ist einmal ein besonderer Bursch,“ sagte er dann kopfschüttelnd. „Ich mein’ alleweil’, ich kann’s errathen, was das für eine Waar’ ist, die der von Tirol ’rübertragen hat.“
Martl hatte während dessen das Eßgeschirr bei Seite geräumt und gewahrte darüber einen Mann, der aus dem Waldabhang hervorgekommen war, nicht eher, als bis er neben ihm stand. Der grobe Zwilch des Hemdes, das Martl’s kräftige Schultern und Arme bedeckte, ließ an Aussehen und Farbe erkennen, daß die Sonne manchen heißen Tages darauf herniedergebrannt hatte; dennoch glich er noch frischgefallenem Schnee, gegen das Hemd und die Zwilchhose gehalten, ist denen der Ankommende steckte.
„Grüß’ Gott!“ sagte derselbe, indem er sich ohne Weiteres wie ein guter Bekannter auf den Herdrand setzte. „Mein Meiler brennt; ich laß ihn ein Stündl allein rauchen und hab’ meinem Buben gesagt, daß er darauf Obacht geben soll. Ich will ein Bissel zu Dir in Heimgarten kommen; es ist so schön bei Dir heroben. Drunten unter meinen Buchen ist’s beinah’ schon völlig Nacht … Hast schon Besuch gehabt, soviel ich gesehen hab’,“ fuhr er fort. „Ich hab’ ihn unter den Bäumen gegen mich herkommen sehen und hab’ ihn angeschrieen, weil ich gemeint hab’, es wär’ der Forstgehülfe von der Jachenau. Da ist er umgeschlagen wie ein Fuchs, in den Wald hinein und nachher über die Riß ’nunter, als wenn er auf einem Schneeschlitten säß’.“
Ehe Martl antworten und die Sache erklären konnte, wurden abermals Schritte hörbar, und bald darauf kam ein dritter Gast an der entgegengesetzten Seite um die Felsecke hervor, auf welcher ein schmaler Steig zu den Höhen hinaufführte, auf denen die Grasmatten und Almweiden sich ausbreiten, mit Sennhütten bestreut und umkränzt von den Felswänden, auf denen die Gemsen hausen. Der Waidsack auf dem Rücken des Mannes ließ in dem Ankömmling ebenso wie die Doppelbüchse und die graue Joppe mit grünem Kragen den Jäger erkennen. Es war ein hochaufgeschossener, stattlicher Bursche, dessen ganze Erscheinung auf Kraft und Ausdauer schließen ließ; beide aber schienen ihn nahezu völlig verlassen zu haben; denn mit einbrechenden Knieen und das Gewehr nach sich schleifend, schleppte er sich mühsam gegen die Holzhütte hin.
„Ja, seid Ihr’s denn Herr Forstgehülf’?“ rief Martl, indem er aufsprang und ihm mit dem Kohlenbrenner entgegeneilte. „Ihr seid ja völlig erlegt! Was ist Euch denn passirt?“
„Es ist nichts Besonderes,“ entgegnete schwer athmend der Jäger, indem er, von Beiden geleitet, nach der Hütte wankte. „Auf einmal haben meine Füß’ ausgelassen, und wenn die Hütte noch hundert Schritt’ weit gewesen wär’, hätt’ ich’s nimmer machen können. Gieb mir nur einen Trunk Wasser, Martl, und laß mich sitzen; dann werd’ ich mich wohl bald wieder zusammenklauben!“
„Aber was hat’s denn gegeben?“ rief Martl wieder, nachdem er mit einer Schüssel aus der Quelle geschöpft, welche nebenan über die Felsen heruntergetröpfelt kam und am Fuße derselben sich in einen kleinen Tümpel sammelte. „Jetz’ seh’ ich’s erst, das Blut ist Euch unter’m Hut heruntergelaufen und auf dem ganzen Gesicht und am Gewand eingedorrt.“ …
[159] Der Jäger trank, athmete dann tief auf und lehnte sich, so bequem es anging, auf der Holzbank zurecht. „Das macht nix,“ sagte er dann, „das geht für einen kleinen Aderlaß hin. Ich hab’ heut’ in der Früh’ einen Raubschützen versprengt, der einen Prachtbock auf dem Rücken getragen hat. Ich hab’ ihn angeschrieen, aber er ist fort und in’s Gewandt hineingesprungen, als wenn er selber ein Gemsbock wär’, ich alleweil hinter ihm drein! Wie er gespürt hat, daß ich nit auslass’ und daß das Springen nix hilft, hat er den Bock weggeworfen, aber zutiefst in eine Kluft hinein, wo er sich ganz zerfallen hat müssen und keinem Menschen was nützt! Drauf, wie der Blitz hat er sich umgedreht, und eh’ ich mich hab’ ducken können, hat mir seine Kugel schon den Hut vom Kopf geschlagen; die Haar’ haben aufgehalten, daß sie mich nur gestreift hat, sonst hätt’ ich mein Testament machen dürfen. Ich bin einen Augenblick damisch worden und an den Felsen hingetorkelt; und wie ich mich wieder aufgemacht hab’, war mir der Kerl schon weit aus dem Schuß und ist die Haklwand hinunter, und jetz’ ist er mir doch ausgekommen. Das Bluten muß mich matt g’macht haben, und es hat auch schon zu dämmern angefangen, sonst hätt’ ich ihn wohl beim Kragen erwischt.“
„Aha,“ sagte Martl halblaut vor sich hin, indem er dem Kohlenbrenner mit den Augen zuwinkte. „No, komm’ mir wieder einmal vor’s Gesicht, Du Lugenschippel, nachher reden wir ein anders Wort mit einander!“
„Wie ist das, Martl?“ unterbrach ihn der Jäger. „Wie redst Du? Hast Du ihn etwa gesehn?“
„Gesehn? Einen Wildschützen? Mit keinem Aug’,“ entgegnete der Holzknecht, einen Augenblick schwankend, ob er das, was er eben erlebt, erzählen oder verschweigen solle. Für das Letztere sprach die unwillkürliche Theilnahme für den Burschen, und das eigene Bewußtsein, daß auch er schon manches Mal es nicht vermocht hatte, der Jagdlust zu widerstehen, und eine unbestimmte Scheu, den zu verrathen, der, wenn auch unfreiwillig, in seiner Hütte als Gast geweilt hatte – für das Erstere sprach, daß der Fremde nicht blos ein einfacher Wilderer, sondern ein Raub- und Mordschütze war, der dem Gehülfen an’s Leben gegangen war, und überdies ein Ausländer, der, wenn er jagen wollte, doch drüben bleiben sollte in seinem Tirol; denn diesseits der blau-weißen Pfähle gab es Leute genug, die Lust und Geschick besaßen, um nachzuhelfen, wenn irgendwo der Gemsenstand gar zu sehr überhand zu nehmen drohte. Der Umstand, daß der Jäger seine Unschlüssigkeit nicht zu bemerken schien und zu reden fortfuhr, überhob ihn des weiteren Zweifels.
„Wenn mich die Kugel nit g’worfen hätte,“ sagte er, „hätte der Hallunk’ den Vorsprung nit bekommen, und die Kugel hätte mir auch nichts anhaben können, wenn Du mir das Amulet gegeben hättst, das ich Dir schon neulich abkaufen wollte.“
Martl beugte sich über das Kohlenfeuer. Es war nicht zu unterscheiden, ob die Röthe, die sein Angesicht überflog, von der Gluth desselben herstammte oder von innerer Erregung. „Ich hab’ es Euch schon gesagt,“ erwiderte er leichthin, „das ist kein Amulet!“
„Mach’ mir nichts weis!“ rief der Jäger, der nicht so leicht zu beruhigen war. „Warum thätst Du dann das Lederbeuterl so um den Hals tragen? Du willst es nur nit sagen, und ich weiß wohl warum – hab’ es oft schon sagen hören: Wenn man ein Amulet beredet, dann verliert es seine Kraft.“
„Ja, das hab’ ich auch schon gehört,“ rief der Kohlenbrenner drein. „Nit bereden darf man so etwas und nit aus der Hand geben. Mein Vater selig hat mir oft erzählt von einem seiner Cameraden, vom Franzl am Ort; der hat auch ein solches Amulet gehabt und ist auch ein Holzknecht gewesen wie Du und ist Jahr für Jahr im Wald gesessen, und ist ihm nie was zu Leid geschehn! Das hat gemacht, er hat einen angeöhr’leten Georgithaler auf der Brust getragen, ein solcher ist gut für Alles, für Hieb und Stich, für Feuer und Wasser – aber einmal da hat ein Freund von ihm eine Floßfahrt nach Wien gemacht und hat nit ausgelass’n mit Zureden, bis er ihm den Thaler geliehen hat. Der Freund ist auch glücklich wiedergekommen; wie aber der Franzl wieder zur Holzarbeit hinauf ist und hat den Thaler umgehabt, da haben’s einen großen Tannenbaum umgeschlagen, und eh’ sie ihn recht gefaßt haben mit der Schling’ zum Niederreißen, ist der Baum unversehens gebrochen, hat den Franzl im Niederstürzen mit den Aesten gepackt und über eine Wand hinuntergeschnellt, so hoch wie ein Kirchthurm, daß man ihn unten hätt’ mit einem Besen zusammenkehren können. Der Thaler aber ist verschwunden gewesen!“
„Ich glaub’ nit an solche Sachen,“ lachte Martl. „Die alten Weiber, wann s’ beisammen sitzen und nichts Gescheiter’s zu thun haben, hecken solche Geschichten aus. Von mir aus kann’s aber auch wahr sein, ich versteh’ mich nit d’rauf; das aber weiß ich ganz g’wiß, daß das, was ich da umhängen hab’, kein solches Amulet ist. Das ist nur für Eins gut: für die gachen (jähen) fliegenden Hitzen, die mich manchmal übergeh’n.“
„Das sind Ausreden,“ rief der Jäger wieder. „Und wenn es das nicht ist, kann ich mir doch einbilden, was Du damit im Sinn hast. Das Ding in dem Beutel sieht aus wie Blei, fast wie eine vom Schuß plattgedrückte Kugel. Die soll Dir einen sichern Schuß machen – hast gewiß auch schon gehört von dem großen Schießen und richtest Dich darauf ein, ein Bestes davon zu tragen!“
„Von einem Schießen?“ sagte Martl aufhorchend. „Ich hab’ nix davon gehört; seit dem Auswärts bin ich wieder da heroben in der Waldarbeit, ich leb’ wie ein Einsiedel, und erfahr’ nichts von der Welt, wenn nit diemalen wer in’ Heimgarten zu mir kommt. Wo ist denn das Schießen? Wenn’s nit gar zu weit weg ist und zu einer gerechten Zeit, nachher könnt’s schon sein, daß ich schauen thät’, ob meine Büchs’ das Treffen noch nit verlernt hat.“
„Der Herr Forstg’hilf meint gewiß das große Schießen,“ sagte der Kohlenbrenner, „das in der Stadt München drinnen ’geben wird. Hab’ auch schon davon reden hör’n, ist ja ein großmächtiges Ausschreiben herausgekommen aus der Stadt. Die Bürger geben das Schießen dem König zu seiner silbernen Hochzeit, und beim Octoberfest, da wird’s gehalten, und das Octoberfest soll so schön werden heuer, wie’s noch gar niemals nicht gewesen ist; jedes Gericht im ganzen Land schickt seine Leut’ hin und seine besten Schützen, und in Länggries ist schon die Red’ davon gewesen, alle Bueb’n wollen sich zusammenthun und ein’ Hauptmann wählen, und dann miteinander als Bergschützen hineinzieh’n in die Stadt.“
„Was Du nit Alles weißt, Kohlenbrenner!“ rief Martl in freudiger Erregung. „Beim Octoberfest also? Juhe, dann ist’s schon gewiß, daß der Floßermartl nit dabei fehlt! Wenn ich jeden Tag um eine Stund’ länger arbeit’, werd’ ich bis Michaeli gerad’ fertig; dann hab’ ich auch Zeit zum Octoberfest und zum Bergschützenaufzug. Juhe! Das soll wieder amal eine Gaudi’ geben!“ rief er in einer Anwandlung seiner früheren gewöhnlichen Lustigkeit, griff in die Cither und sang, indem er eine übermüthig lustige Weise dazu spielte:
„A G’sangl, das klingt,
Und a Glocken, die hallt;
Aber das Schönst’ ist halt doch,
Wenn der Stutz’n recht knallt.“
In den in das Lied sich anreihenden Jodler fiel der Kohlenbrenner mit einer tiefen, nicht eben sehr rein klingenden Stimme ein; der Jäger konnte es nicht, er hatte eine rauhe Kehle, als ob er nach dem Bauernsprüchwort einen Kapuziner sammt der Kutte verschluckt hätte. Es währte nicht lange, so wurde der Gesang noch vollstimmiger; denn erst aus der Entfernung, dann immer näher kommend, tönte eine frische Weiberstimme kräftig darein. Einen Augenblick später kam eine Bauerndirne den Felsensteig herab mit einer hohen Kraxe auf dem Rücken, eine dralle und festgebaute Gestalt, welcher die ansehnliche Last, die sie trug, nicht eben viel Beschwerde zu machen schien.
„Grüß’ Gott bei’nander!“ sagte sie, indem sie sich an den Zaun lehnte und ihre Bürde darauf ruhen ließ. „Weil’s gar so alert hergeht, muß ich schon auch ein bissel einkehr’n und ausschnaufen!“
„Das wollen wir hoffen,“ sagte der Kohlenbrenner, während Martl, um als Hausherr die Ehre des Hauses zu wahren, seinem neuen Gaste das Glas mit dem Kranawittwasser anbot. „Wo gehst noch hin so spat, Madl? Ich mein’, ich soll Dich schier kennen.“
„Freilich, wie wirst mich nit kennen, Kohlenbrenner-Veitl?“ sagte die Dirne lachend. „Bist ja alleweil um die nämlichen Weg’ herumgewesen, wo ich daheim bin, – weißt wohl, wo’s beim Leichbauern ’naufgeht zum Friedl in der Point.“
[160] „Bist Du etwa gar die Pointnerkathl?“ sagte der Kohlenbrenner. „Fallt mir schon wieder ein, weil ich Dich jetzt genauer anschau … Wir hab’n uns halt ein Bissel stark verwachsen, alle zwei; wir können uns alle zwei nimmer recht drauf besinnen, wie lang es her ist, daß wir jung gewes’n sind. Wo bist jetzt, Kathl, und was treibst?“
„Was werd’ ich treiben!“ erwiderte die Dirne. „Ich bin Sennerin drob’n auf der Brettenalm. Die Graserei ist heuer so schön und gut, daß wir gar nit g’nug ausrühren und Butter machen können, und weil der Abend so schön ist, so hab’ ich gedenkt, ich will nit bis auf den Samstag warten und will heut’ noch abtragen.“
„So, so, auf der Brettenalm?“ sagte der Kohlenbrenner. „Hast leicht so fortkönnen? Bin nie hinaufgekommen; aber es muß eine große Alm sein, so viel ich gehört hab’. Wird wohl noch wer droben sein bei Dir, daß das Vieh nit allein is? Wem g’hört denn die Brettenalm?“
„Freili, es ist wohl eine große Alm; ist leicht kein’ größere da in der Jachenau! Sind auch alleweil zwei Sennerinnen oben; heuer aber bin ich mit der Tochter da – wirst sie wohl kennen, die schöne Stasi vom Kurzen am Berg.“
„Dasselbe kann leicht sein, wenn ich mich auch g’rad’ nit d’rauf besinnen kann –werden nit viel Leut’ sein in der Jachenau, die der Kohlenveitl nit kennt! Aber wie ist denn das nachher? Dem Kurzen am Berg gehört die Brettenalm? Wenn mir recht ist, hat der ja nur ein einzig’s Dirndl; und die ist gen Alm gefahr’n und macht eine Sennerin? Ah, narrisch! Das ist doch nirgends der Brauch! Thun s’gewiß recht ruecherisch auf dem Kurzenhof, daß sie nit g’nug zusamm’scharren können, und wollen den Lohn für die Dirn’ ersparen?“
„A mein,“ erwiderte die Dirne lachend, „das hat ganz andere Ursachen. Es ist sonst nit gut reden davon, damit es nit heißt, ich richt’ sie aus … Sie hat’s nimmer aushalten können in der Jachenau von wegen dem … von wegen … na ja, Ihr werd’ts schon wissen, wegen was!“
„Wenn ich was weiß,“ sagte der Kohlenbrenner begierig, „will ich mich gleich mitten in mein’ Kohlenhaufen hineinsetzen. So red’ doch!“
„Ja red’!“ rief auch der Jäger. „Ich möcht’s auch wissen; hab’ schon allerhand läuten hören von der Sach’, aber das Richtige hat mir doch noch Niemand sagen können.“
Alle waren mit der erwarteten Neuigkeit so beschäftigt, daß Niemand auf Martl achtete, und das war gut; denn auch dem einfachsten Beobachter hätte die Bewegung nicht entgehen können, die ihn erfaßte, als Stasi’s Name ausgesprochen worden war. Unbemerkt und langsam hatte er sich in den von der Herdgluth nicht beschienenen Raum der Hütte zurückgezogen und lauschte begieriger noch als die Andern der Nachricht, welche die Sennerin geben sollte; er hielt den Athem an, und das Herz in seiner Brust schien stille stehen zu wollen, um besser lauschen zu können.
„Sie hat nimmer bleiben können,“ sagte das Mädchen, indem es die Stimme zum Flüstern dämpfte, „weil sie überall nix Anderes getroffen hat als Gelächter und Gespött. Sie ist eine unguete Person, alleweil fürig (mürrisch) und grantig, und hat für jeden Christenmenschen eine g’schnappige, abschnalzerische Red’ auf’m Teller; aber zunächst, wie heuer in der Jachenau der Bocktanz ist gehalten worden, da ist sie an den Unrechten gekommen. Da ist auch ein Bursch’ gewesen – wer, weiß ich nit; aber ein Holzknecht soll er sein – den hat sie auch foppen wollen und trotzen; der hat ihr aber die Zeitigen heruntergethan und hat s’ eine Z’widerwurz’n geheißen, und von demselbigen Augenblick an ist ihr der Namen geblieben, und wo sie gegangen und gestanden ist, hat s’ nix Anderes gehört als den Spitznamen. Wenn sie in die Kirch’ kommen ist, haben die Bueb’n gesagt: ‚Geht’s auf die Seiten, daß sie Euch nit beißt – die Z’widerwurz’n kommt!‘ Wenn s’ über’n Hof gegangen ist, hat sie’s von den eig’nen Knechten und Mägden in’s Ohr hineing’hört: ‚Weicht’s aus! Da geht unser’ Z’widerwurz’n.‘ Da ist sie desperat worden und hat gemacht, daß sie den Leuten aus’m Gesicht gekommen ist, und ist ’nauf auf die Alm, damit sie vielleicht vergessen wird, die Geschicht’, bis man wieder abtreibt im Herbst!“
„Recht ist ihr gescheh’n,“ rief der Kohlenbrenner, „der grantigen Gretl! Wird wohl auch eine von denen sein, die glauben, weil s’ reich sind, wären sie auf der Brennsuppen daher geschwommen, die andere Leut’ aber auf’m Wasser. Giebt sie’s nachher jetzt klein bei, drob’n auf der Alm?“
„Hab’ noch nit viel gespürt,“ sagte die Dirne lachend, indem sie sich aufrichtete und ihre Kraxe wieder auf den Rücken nahm. „Die meist’ Zeit geht sie sinnirend herum wie eine Henn’, die nit weiß, wo sie ihre Eier hinlegen soll … aber es wird schon völlig Nacht; ich muß machen, daß ich durch’n Wald ’nunterkomm’, eh’s ganz finster wird; da giebt’s Z’widerwurzen g’nueg im Weg, über die man stolpern kann.“
„Ich geh’ mit,“ sagte der Kohlenbrenner, sich ebenfalls erhebend. – „Es wird auch schon Zeit, daß ich nach mein’ Bueb’n und nach mein’ Meiler schau’. Gut’ Nacht, Martl!“
„Gut’ Nacht, Holzknecht!“ rief die Sennerin’ zurück, indem sie mit dem Kohlenbrenner gegen den Waldabhang schritt. –„Ich dank’ schön für’n Unterstand; wir kommen schon einmal wieder zusammen, denk’ ich.“
Martl, noch immer in der alten Stellung, schien gar nicht zu bemerken, daß die Beiden sich entfernten; auch der Jäger stand jetzt auf, trat zum Herde, um seine Pfeife anzuzünden, und rief: „Ich denk’, ich werd’ mich auch auf den Weg machen. Ich bin ausgerastet, daß ich’s wohl werd’ machen können bis hinunter in die Förstnerei … Gute Nacht, Floßermartl!“ fuhr er fort, indem er vor ihn hintrat und den noch völlig Achtlosen mit der Hand auf die Schulter klopfte. Schlaf’ nit etwa gar ein da heraußen! Und wegen demselben Amulet, von dem wir geredet haben, ist mir jetzt schon das rechte Licht aufgegangen. Was ich zuvor schon gehört hab’ und was die Dirn’ just erzählt hat, – wenn ich mir das Alles zusammenreim’, mein’ ich alleweil’, ich kenn’ den Holzknecht, der der Kurzenstasi den Spitznamen aufgebracht hat. Hast schon Recht, das Amulet kann schon gut sein für gach aufsteigende Hitzen! Geh’ Du nur zum Königsschießen, Martl, und hol’ Dir ein Bestes! Es ist gescheidter, als wenn Du Dir solche Sachen in den Kopf setzen thätest, die doch keinen Zusammenstand haben und keine Heimath!“ Der Jäger eilte den Anderen nach, und bald verklang sein Tritt im Schweigen des Waldes, der ihn mit doppelt undurchdringlicher Nacht umfing.
[173] Eine Weile noch verharrte Martl in derselben nachdenklichen Stellung, dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als ob er sich besinnen müsse, wo er sei und was er gedacht, raschen Schrittes trat er dann hervor aus dem Vordach unter den Nachthimmel, der hehr und feierlich sich über der Erde aufbaute, von den Bergen getragen als wären sie die Säulen, die sein Gewölbe stützten. Majestätisches Schweigen waltete wieder ringsum; die Baumkronen rauschten nicht mehr im Abendwinde, die Sänger in ihnen waren schlafen gegangen; die Mondsichel aber schwamm im endlosen klaren Himmel und beleuchtete den duftigen Nebel, der wie ein Gewoge weißer Schleierfalten unabsehbar über die Ebene wallte. Ohne sich selbst darüber Rechenschaft zu geben, was er that, stieg Martl den Felspfad hinan bis an eine Ecke, wo auf dem nun stärker ansteigenden Berge die Sennhütten aus der Ferne sichtbar waren. In schwarzen Mondschatten wie in einen Mantel gekleidet stiegen die Felsen empor, während auf Weide und Wiesen das Silber des niedersinkenden Thaus schimmerte. Die Hütten waren kaum als schwarze Punkte erkennbar, das schärfste Auge hätte nicht vermocht, sie aufzufinden, wäre ihm nicht der rothe Feuerschein, der aus einer derselben drang, zum Führer geworden. Die Sennerin mußte noch so spät wachen und thätig sein; denn das Herdfeuer brannte noch und schien durch die offene Thür, daß es weithin sichtbar wurde; sonderbar und fast unheimlich leuchtete der dunkelroth glühende Punkt in den seligen Frieden der klaren Mondnacht hinein. Martl saß lange auf einem Felsstück, kein Auge davon verwendend. Erst spät, nachdem das Herdfeuer ebenfalls schon erloschen war, stieg er den Weg zu seiner Hütte hinab. Im seinem Innern war es kalt, still und dunkel, wie oben auf der entschlummerten Alm; aber der unheimlich glühende Punkt, der draußen erloschen war, glimmte in seinem Innern unlöschbar fort. Es war darum auch vergeblich, als er sich auf sein Lager warf; denn während er sonst auf demselben nach harter Tagesarbeit so fest geschlafen, als ob er im weichsten Federbett läge, wälzte er sich jetzt schlaflos darauf herum, als liege er auf den rauhen Spähnen und Scheiten seiner Holzwerkstätte, oder gar auf den heißen Kohlen seines rußigen Nachbars.
Der Mond war bereits hinter die Felszacken hinuntergegangen, und ein frischer, kalter Lufthauch schauerte tagverkündend vor der Sonne einher, die sich bereits hinter den Bergen zum Aufgang rüstete, als Martl, der schlaflosen Quälerei müde, wieder aufsprang und neuerdings die Hütte verließ. Er fühlte die Kälte nicht, die ihm entgegenströmte: sie war ihm wie angenehme Kühlung, er öffnete das Hemd und nahm den Hut ab, um sie tiefer einathmen zu können und so recht voll und frei um Stirn und Brust spielen zu lassen.
Hätte er geahnt, was am Abend zuvor, als er nach dem fernen Feuer der Sennhütte hinsah, in dieser vorgegangen, er wäre wohl kaum ruhiger, doch aber gewiß in anderer Art bewegt gewesen. Seine Vermuthung, daß es einen besondern Grund haben müsse, daß das Herdfeuer so lange brannte, war vollkommen richtig. Gewöhnlich löscht die Sennerin, müde von der Arbeit, das Herdfeuer bald und schließt die Hütte, weil schon der erste Morgenstrahl sie wieder im Stalle bei der Arbeit treffen muß; nur ausnahmsweise wird das Feuer länger unterhalten, wenn allenfalls Sennerinnen aus der Nachbarschaft zum Heimgarten einsprechen, oder wenn Städter, die eine Bergpartie gemacht, sich zum Nachtlager auf dem Heuboden einquartiert haben. Und ein Gast war wirklich auf der Brettenalm eingekehrt, spät und und erwartet, sonst wäre die Pointner Kathl wohl geblieben und hätte mit dem Abtragen der Butter bis zum nächsten Samstag gewartet.
Die schöne Stasi hatte eben das heimkehrende Almvieh gemolken und stand auf der Gräd am Brunnen, um die Milchgeschirre zu reinigen, damit sie früh am andern Tag gleich wieder zum Dienste bereit wären. Die Arbeit ist nicht gering anzuschlagen; denn die hölzernen Gelten müssen weiß sein wie Schlehenblüthe oder frischgefallener Schnee, und die blanken Kupferreifen sich davon abheben wie freundliches Rosenroth – das ist der Stolz einer Sennerin! Stasi war doppelt eifrig; denn die Dirne, welcher sonst diese Arbeit oblag, war in’s Dorf hinunter. Sie hatte selbst auf ihre Entfernung gedrungen; jetzt durfte und wollte sie sich um keinen Preis nachsagen lassen, daß deren Abwesenheit irgendwie zu bemerken war. Dennoch wäre einem geübten Auge nicht entgangen, daß ihr die ungewohnte Arbeit nicht eben geschwind von Handen ging; namentlich machte ihr ein ziemlich großes Butterfaß zu schaffen, das sich gar nicht fügen wollte, und an der unteren, gegen den Boden gekehrten Seite so hartnäckige Flecken hatte, daß sie dem angestrengtesten Reiben mit Sand, Hand und Bürste nicht weichen wollten. Um es besser handhaben zu können, hatte sie das Geschirr auf den Brunnenrand gestellt und war auf die gemauerte Einfassung der festgeschlagenen Gräd [174] gestiegen; denn um den Brunnen herum bot der Boden, erweicht vom Wasser und durchgetreten von den Füßen des zur Tränke herandrängenden Viehes, keinen festen Stützpunkt.
„Wirst halten, du ungeschlachter Ding?“ rief sie dem Rührkübel zu und stieß ihn im aufsteigenden Unmuth auf den Brunnenrand nieder; aber das Geschirr blieb ungefügig und ungelenk wie zuvor. Immer röther stieg darüber der Unwillen im Angesicht der schönen Sennerin auf, immer heftiger rieb sie hin und her; und als der Kübel, ihr unter den Händen ausweichend, sich drehte, war die mühsam bewahrte Geduld zu Ende. Als wäre das Butterfaß ein lebendiges Geschöpf, erhielt es einen Schlag oder Stoß, der es in den Brunnentrog fallen machen sollte. „Da lieg’ von mir aus, wenn du nix kannst, als die Leut’ ärgern!“ rief Stasi dazu, aber die Sache lief nicht ab, wie sie vermuthet hatte; der Rührkübel verstand unrecht und fiel durch eine boshafte Schwenkung über den Trog hinüber in den Schlamm und das schmutzige Wasser der Umgebung, das hochaufspritzend ihr die Tropfen auf Gesicht und Arme schleuderte. „So wollt’ ich doch gleich, daß du in tausend Trümmer auseinandergingst!“ rief sie in rücksichtslos ausbrechendem Zorne und sprang hinzu, um das unglückliche Geschirr noch tiefer in den Schmutz zu treten. „Ist’s denn nit g’rad’, als wenn Alles verhext wär’, was ich anrühr’ – als wenn Alles mir zum Fleiß geschähe, nur damit ich mich ärgern muß?“
Thränen traten ihr in die Augen, sie nahm sich kaum Zeit, sich von dem Unfall zu säubern, und rannte der Hütte zu, stand aber betroffen stille, als sie, an der Ecke angelangt, weit und breit Niemand gewahrte, den sie, wie sie sonst gewohnt war, ihren Unmuth entgelten lassen konnte. Die unabsehbare Berglandschaft lag feierlich schweigend vor ihr da, und die Sonne ging in erhabener Ruhe hinunter und schien ihr wie ein überirdisches Auge mit einem Blicke des Vorwurfs in’s zornentstellte Angesicht. Der Laut des Unwillens, der ihr noch eben auf den Lippen geschwebt, erstarb auf denselben, eine Regung der Scham quoll in ihr empor, und wieder drangen ihr Thränen in die Augen; aber es waren diesmal Tropfen anderer Art, heiß und brennend, wie sie dieselben nie gefühlt. So rasch sie erst herangekommen, so bedächtig setzte sie sich nun auf der Bank vor dem Hause nieder und starrte mit verschwimmenden Blicken in den Sonnenuntergang hinein.
Die wenigen Wochen auf der Alm waren nicht spurlos an dem Mädchen vorübergegangen. Wohl hatte der ebenso rasch gefaßte als vollführte Entschluß einen Theil seiner Wirkung nicht verfehlt; sie war den ihr verhaßten Menschen aus dem Gesichte gekommen, sie durfte nicht mehr fürchten, mit scheelen, spöttischen Blicken angesehen zu werden, oder hinter ihrem Rücken das abscheuliche Wort flüstern zu hören, das ihr zuwider war bis in den Tod, und das ihr durch das Ohr einen tödtlichen Stich gab bis in’s Herz hinunter; aber ihre Absicht war doch nur halb erreicht. Sie hatte gehofft, sobald Niemand und Nichts mehr sie daran mahnte, würde auch sie den ganzen Vorfall vom Ostertage vergessen – darin hatte sie sich geirrt; unerbittlich hielt ihr eigenes Gedächtniß wie ein verhaßter allzutreuer Spiegel ihr die ganze Begebenheit vor; das eigene Herz hatte die räthselhafte Rolle des Mahners übernommen. Hochmüthig und verzogen, wie sie war, hatte sie früher der Menschen wenig geachtet, und wenn sie bei öffentlichen Gelegenheiten die Aufmerksamkeit der Bursche auf sich gezogen hatte, war ihr das ganz natürlich und selbstverständlich vorgekommen. Wenn sie dabei aus manchem dunklen oder hellen Auge einem Blicke begegnet war, der mit einer schüchternen Frage oder freundlichen Bitte auf ihr haftete, so hatte sie darüber lachend die Achseln gezuckt, sie war unempfindlich geblieben, und schon in der nächsten Stunde war der Eindruck vergessen; wie kam es nun, daß sie das dunkle Augenpaar nicht aus dem Sinn bringen konnte, das in der Jachenau unter dem schäbigen, alten Hute hervor auf ihr gehaftet hatte, aus dem ihr eine wilde, auflodernde Gluth entgegengeleuchtet, eine Gluth zornigen Hasses und doch auch eines tiefen Schmerzes, der sich weniger um das eigene Leid abhärmt, als um den Gegenstand, der ihm dasselbe verursacht? Sie konnte Martl’s Bild nicht los werden, weil es sie in Gestalt eines Vorwurfs verfolgte und immer zu fragen schien: Was hab’ ich Dir denn eigentlich gethan, daß Du mich vor allen Leuten verspottet hast? Ich habe Dich gehalten, damit Du nicht gefallen bist und Dir nicht vielleicht Fuß oder Arm gebrochen hast; ich habe mit Dir tanzen wollen, wie ein Bursch ein Mädel zum Tanze aufzieht – und deswegen tust Du mir Schande und Spott an? –
Halb mit, halb ohne ihren Willen hatte sie von der Base bald erfahren, wer der Bursche, mit dem sie in der Jachenau zusammengetroffen, gewesen. Sie hatte schon oft vom Lenggrießer Martl gehört, daß er der Stolz des Ortes und der Schmuck der jungen Bursche sei, ein Meister mit der Büchse wie auf der Cither und im Gesang; sie hatte deshalb manchmal gewünscht, ihm zu begegnen und ihn kennen zu lernen, und nun, da sie mit ihm zusammengetroffen, da sie sich selbst überzeugte, daß er ein tüchtiger Bursche war und trotz seines verrissenen Kittels ein hübscher Bursche dazu, nun hatte sie sich gerade gegen diesen Burschen grob und dumm betragen, wie noch gegen Niemand. Allerdings hatte er sich durch das böse Wort wieder dafür gerächt; aber sie selbst war es ja gewesen, die ihn dazu veranlaßt und ihm Grund gegeben hatte, sie für das zu halten, was er sie genannt hatte. Nicht über ihn war sie daher eigentlich böse, wie sie sich selbst einzureden versuchte, sondern über die Leute und Nachbarn, die das spöttische Wort so bereitwillig aufgenommen, so boshaft festgehalten und so geschäftig verbreitet hatten; ihm war es zu verzeihen, wenn er nach der einmaligen Begegnung sie beurtheilte. Er kannte sie ja nicht; aber die Anderen, ihre Hausgenossen, die Bewohner des benachbarten Ortes, die mußten wissen, daß sie die gute Stunde selber war, und daß, wenn sie manchmal hitzig und mürrisch wurde, sie gewiß immer vollauf Ursache dazu hatte. Sie war sich bewußt, gewiß eine geduldige und nachgiebige Person zu sein; aber wenn man es überall darauf anlegte, sie zu ärgern, da mußte der Faden reißen, und wenn er aus einem Heuseil gedreht wäre.
So widereinanderstreitend und mit sich selber ringend, wogten ihre Gedanken und Gefühle durch Herz und Kopf, um so ungestörter, als die Einsamkeit ihre volle Muße gab, denselben nachzuhängen. Es kam wohl vor, daß sie Viertelstunden lang auf der kleinen Bank vor der Almhütte saß und gerade vor sich hin sah, als hätte sie über die wichtigsten Dinge nachzudenken oder die größte Aufgabe zu lösen. Manchmal eilte sie hastig aus der Stube nach dem Stalle, oder vom Stalle in’s Freie; mitten im Gehen aber hielt sie inne, besann sich und mußte wieder umkehren, unterwegs war ihr aus dem Sinn gekommen, was sie so eilig gewollt.
Auch an diesem Abend hatte sie sich mit den alten Bildern und Träumen abgekämpft und abgemüdet, und wie allemal hatte das Scharmützel in ihrem Innern damit geendet, daß ihr trotziges Wesen sich in eine schmerzliche Wehmuth auflöste, in das bittere Gefühl eines namenlosen Unglücks, über das sie sich selbst keine Rechenschaft geben konnte. Der Abend war schon tief heruntergebrannt, der Lichtball der Sonne, eben von einer dichten Dunstschicht am Horizont umhüllt, hing wie eine dunkle, rothe Kugel auf derselben und war anzusehn wie eine düster verglimmende Kohle. Stasi gewahrte es nicht. Sie saß unbeweglich auf der Bank und spürte nicht, wie die Luft immer kühler und schärfer gegen die Bergwand strich, in deren Schutz die Hütte eingebaut war, und daß auf der Almweide neben ihr schon ein schmaler Nebelstreifen den Weg kennzeichnete, auf welchem ein kleines Felsenbächlein durch das Grün herangerauscht kam, so wie daß durch Nebel und Gras eine Frauengestalt rüstigen Schrittes gegen die Hütte heran wanderte, in einiger Entfernung aber verwundert stehen blieb.
„Ja was soll denn das vorstellen?“ rief die Frau, während Stasi beim ersten Laute aufsprang wie Jemand, der, unvermuthet geweckt, sich den Schlaf aus den Augen reibt. „Da wollt’ ich doch gleich, daß alle Vögel Hennen wären! Das ist eine schöne Wirthschaft auf der Brettenalm, das muß ich schon sagen! Es ist sinkende Nacht und noch kein Feuer auf’m Herd, kein Kessel gehitzt, die Hütte steht offen und die Stallthür auch, das seh’ ich schon von Weitem, und die Sennerin sitzt vor der Thür wie ein Einsiedl vor der Klausen, nur die Kutt’n geht ihr ab.“
„Was?“ rief Stasi, sie unterbrechend, entgegen. „Die Mahm kommt ’rauf bis auf die Brettenalm? Schau, das ist mir im Geist vorgegangen, deswegen hab’ ich mich so hergesetzt und hab’ gewartet, damit Du gleich Deine Freud’ hast, wenn Du kommst und gleich was zum Greinen findst.“
„So?“ sagte die Bäuerin näher tretend. „Ist das mein Grüß’ Gott? Ich hab’ gedacht, die Luft da heroben sollt’ Dir gut [175] thun und Dein’ schlechten Humor fortblasen; aber ich gespür’ noch nichts davon.“
„Meine Red’ ist der Dank’ Gott für deinen Grüß’ Gott, Mahm,“ sagte Stasi. „Ich soll wohl einen Purzelbaum schlagen vor Freud’, daß es einmal Jemand daheim einfallt, nachzuschaug’n, wie’s mir geht, und wie’s mir anschlagt? Wenn Euch was dran gelegen wär’, hättet Ihr den Weg schon eher finden müssen – jetzt sind’s schon bald sechs Wochen, daß ich auf der Alm bin; während der Zeit könnt’ man sterben und verderben.“
„So ist’s recht,“ eiferte die Alte und setzte sich auf die Bank nieder, um auszuathmen, die Steile des Bergwegs und die weite Wanderung hatte sie ermüdet und außer Athem gebracht. „Jetzt greint sie mich aus, anstatt daß ich’s thu’ – es geht doch schon in Einem hin, wenn man doch einmal die Welt auf den Kopf stellt! – Aber wo ist denn die Dirn’, die Kathl,“ fuhr sie umherblickend fort, „daß man’s nit zu Gesicht kriegt? Ich möcht’ eine Schüssel Milch, und ich thät lügen, wenn ich sagen wollt’, daß ich mich nit freuen thät’ auf eine Pfann’ Schmarr’n – aber da ist noch kein Fünkel Feuer auf dem Herd! … Abgetragen hat sie?“ rief sie wieder, als ihr Stasi Bescheid gegeben, „da müssen wir einander um’gangen haben, ich hab’ einen kleinen Umweg gemacht zu dem Kapellerl mit den vierzehn Nothhelfern, und sie ist geradeaus gegangen – da muß ich schon selber umschau’n, daß ich was zu essen krieg’, und muß sorgen, daß Dasjenige geschieht, was auf einer richtigen Alm um die Zeit schon geschehen sein sollt’.“
„Ob Du sitzen bleibst!“ entgegnete Stasi heftig, indem sie ihr den Weg vertrat. „Brauchst Dir keinen Fuß zu verstauchen deswegen – ich hab’s einmal übernommen, daß ich Sennerin bin auf der Brettenalm, und ich mach’s durch; ich thu Euch den Gefallen nit, daß Ihr mir nachreden könnt, ich hätt’s nit zuwegen gebracht. Da sitz Dich hin und wart’ ein Bissel – was auf der Alm Brauch ist, wirst von mir auch haben können!“
Mit einer Entschiedenheit, die sich fast wie Gewalt ansah, schob sie die Frau in die Hütte und nöthigte sie, in der Ecke niederzusitzen, wo dem Herde gegenüber ein ganz kleines Tischchen angebracht war; im Nu brannte das Feuer, der Kessel war zurechtgedreht und begann über und über zu brodeln. Bald hatte die Base den Imbiß vor sich stehen, und daß sie sich selben ohne vieles Zureden schmecken ließ, schien zu zeigen, daß die neue Sennerin ihrem Geschäfte wohl gewachsen war, wenn sie es nur wollte. Nicht ohne Wohlgefallen sah sie dabei dem Treiben Stasi’s zu, die, so säumig und träumerisch sie zuvor gewesen, auf einmal voll Leben geworden und bestrebt war, eifrigst nachzuholen, was sie vorhin zu thun gezögert hatte. Bald hatte sie Stall, Milchkammer und Keller beschickt, das Bett im Kreister war zurecht gemacht, daß es für zwei verträgliche Personen Raum bot; dann legte sie Holz auf dem Herd zu und stieß vollends die Thür auf, daß der Schein den nächsten Raum vor der Hütte beleuchtete, und die Sterne, die draußen hie und da am Nachthimmel aufzutauchen begannen, wie verbleichend wieder im Luftmeer zu verschwinden schienen. Sie that Alles rasch und sicher, aber hastig und trotzig; als sie fertig war, setzte sie sich auf den Herdrand, kreuzte die Arme über der Brust und starrte wieder in’s Feuer, ohne dem Gaste Wort oder Blick zu schenken.
Eine gute Weile hatte die Alte sich an dem Schaffen des Mädchens und an ihrer Geschicklichkeit ergötzt; als sie eine Zeit lang gewartet, ob sie nicht beginnen und das Schweigen brechen würde, zuckte sie die Achseln und rief mit einem lauten, halb ernsthaften, halb lachenden Seufzer: „Das muß wahr sein, das ist eine schöne Unterhaltung bei Dir auf der Alm! Da ist’s zu meiner Zeit schon anders gewesen; das ist schon der Mühe werth, daß man noch so spät die Berg’ heraufsteigt, zumalen, wenn Einem obendrein die Knie’ manchmal so reißen, wie mich, daß ich oft mein’, ich komm’ nimmer von der Stell’. Die Nachbarin vom Ort hat mir Katzenschmalz zum Einreiben gerathen, es hat aber auch nix geholfen – es wird wohl die Zeit bald kommen, wo’s gar nimmer geht. Aber Du redst ja kein Wort und schaust mich gar nit an; bist und bleibst also heroben gerad’ so bockisch wie drunten!“
„Wegen was,“ entgegnete Stasi schnippisch, „sollt’ ich wohl heroben anders sein als unten? Warum kommst denn zu mir herauf, wenn Du doch einmal weißt, daß ich eine solche – Du weißt ja, wie sie mich nennen – daß ich eine solche Z’widerwurzen bin?“
„Darum, weil ich ein guter Narr bin, der Dich gern hat, wenn Du’s auch nit verdienst um mich, und weil ich alleweil mein’, es sollt’ eine Zeit kommen, wo Du den Spitznamen, den garstigen, nimmer verdienst.“
Stasi lächelte höhnisch. „Was thät’s nutzen?“ sagte sie. „Jetzt hab’ ich den Namen einmal droben, wer kann mir ihn wieder herunternehmen!“
„Du selber – Du allein kannst es und Du mußt es auch! Schau, Stasi, wann ich schon oft recht harb bin über Dich und vom Auf- und Davongeh’n red’, ist mir doch nit ganz Ernst damit: ich kann’s nit glaub’n, daß Du wirklich ein solcher Stock bist, wie Du Dich anstellst. Ich mein’ alleweil, es müßt mit Dir geh’n wie mit’m Eisstoß im Frühjahr; da fahrt man auch mit schwere Wagen d’rüber, auf einmal kommt die warme Luft, und in ein paar Tagen ist das Eis zu Wasser worden und fortgeschwommen, als wenn’s nie dagewesen wär’. Schau, ich will Dir’s nur eingesteh’n: ich bin deswegen herauf auf die Alm, um mit Dir ein aufrichtig’s Wörtel unter vier Augen zu reden – denn so, so kann’s nit länger fortgeh’n.“
„Was net geht, kann’s von mir aus steh’n bleiben,“ sagte Stasi rasch entgegen, „oder wenn Du’s fahren lassen willst, hab’ ich auch nix dawider.“
„Es ist merkwürdig mit Dir,“ erwiderte kopfschüttelnd die Alte. „Man weiß nit, wo man Dich anpacken soll; rundum bist voll Stacheln wie ein Igel.“
„So nimm’ Dein’ Hand in Acht! Rühr mich nit an, damit Du Dich nit stichst!“
„Na, das thu’ ich nit,“ sagte die Base gutmüthig, indem sie hinzutrat und sich hinter Stasi auf den Herdrand setzte, worauf diese unwillig, wie um nicht mit ihr in Berührung zu kommen, etwas vorrückte. „Ich lass’ mir das bissel Stechen nit verdrieß’n – das können fremde Leut’ thun; ich aber bin nit fremd zu Dir und Du bist mir an’s Herz gewachsen, als wenn ich Deine Mutter wär’! So halb und halb bin ich’s ja auch, denn die Deinige ist in der Jugend dahingestorben, ich hab’ Dich aufgepappelt und aufgezogen, und wenn ich Dich nit so gern gehabt hätt’, wärst Du vielleicht nie so ’worden, wie Du bist, und weil ich mir also auf die Weis’ einbild’, ich könnt’ ein wenig Schuld haben an Deiner unguten Art, so will ich’s auch wieder recht machen, soviel ich kann.“ Sie rückte Stasi wieder etwas näher; diese stand hastig auf und setzte sich auf das Bänkchen gegenüber. Die Base überwand eine in ihr aufsteigende bittere Aufwallung und schlug nun wie wehklagend und jammernd die Hände zusammen. „Schau, Madl, ich sag’ es noch einmal, es thut gewiß und wahrhaftig nit gut. Du mußt anders wer’n!“
„Ja freilich,“ erwiderte Stasi in still angewachsener Heftigkeit, „das weiß ich schon lang’, daß ich diejenige bin, von der aller Unfrieden herkommt; – aber ich weiß auch, warum das so ist! Bloß desweg’n, weil ich keinen einzigen Menschen hab’, der mich gern hat. O mein Gott!“ rief sie, in leidenschaftliches Schluchzen ausbrechend, „wenn ich nur sterben könnt’, – ich wollt’ mich gleich hinlegen, der Läng’ nach, und nimmer aufsteh’n!“
„Versündig’ Dich nit!“ rief die Mahm. „Sonst könnt’ das wohl einmal wahr werden, was Du sagst, und das wär’ das Traurigst’ von Allem. Wie kannst so lächerlich daher reden! Was geht Dir denn ab, daß Du alleweil so ungut bist? O mein Dirndl, Du hast gar kein’ Begriff, was das heißt: gar keinen Menschen haben, der Einen gern hat. Du hast Dein’ Vater, der in Dich hineinschaut wie in einen Spiegel; Du hast mich, die das Herz aus dem Leib für Dich geben thät’, wenn Du es nur erkennen wollt’st – und wann,“ setzte sie hinzu, indem sie den Blick schärfer auf Stasi richtete, „wann Du meinst, daß Dir noch etwas fehlt, so schau Dir halt um etwas um, das Du recht gern haben kannst und von dem Du wieder gern gehabt wirst! Deinem Vater ist’s alle Stund’ recht, Du darfst Dir nur ein’ Mann aussuchen und heirathen. Dann kannst Deinen Mann gern haben und, weil der Gottessegen nit ausbleiben wird, Deine Kinder, und wie gern man die hat, das seh’ ich am besten an mir – Lach’ nur, Stasi, wenn Du auch nit mein leiblich’s Kind bist, und wenn ich auch ein’ alte Jungfer ’worden bin, weiß ich doch auch, wie’s unter’m Brustfleck thut, wenn sich die Lieb’ drunter eingehäuselt hat.“
„Ich lach’ nur, weil Du gar so still auftrittst, Mahm,“ sagte Stasi trotzig wie zuvor, doch war der Ton ihrer Rede minder scharf. „Ich hör’ Dich ganz gut gehn; es hat Dir Einer einen [176] Kuppelpelz versprochen; aber ich fürcht’, Du plagst Dich umsonst! Weißt es wohl noch, was Du am Ostertag gesagt hast: Der, der mich zum Weib kriegt, müßt’s im Mutterleib’ schon verschuld’t hab’n – wie könnt’ ich das auf mein G’wissen nehmen, daß ich Einen so unglücklich machen thät’? Und dann“ – fügte sie nach einigem Zögern bei – „wenn ich auch wollt’, ich hab’ noch Kein’ kennen gelernt, bei dem sich unter’m Brustfleck ’was gerührt hätt’.“ Bei dem letzten Satze klang die Stimme noch etwas milder, ihr Gesicht war dabei abgewandt, als scheue sie sich, dem Blick der Base zu begegnen.
„Wird schon kommen; verlaß Dich d’rauf!“ sagte die Alte. „Die schöne Stasi, die einzige Tochter vom reichen Kurzen am Berg, braucht nit feil zu haben und hat die Wahl – aber anders mußt werden, hab’ ich gesagt und bleib’ dabei, damit Du die Leut’ nit abschreckst und sie sich nit völlig fürchten vor Dir.“
„Ha, der Rechte, wenn der kommt, der wird sich nit fürchten, denk’ ich; denn der Rechte, das muß auch der Richtige sein – sonst kann er auch hingehn, wo er hergekommen ist!“
„Der Rechte wird kommen und der Richtige – das ist mein geringster Kummer; deswegen aber brauchst doch nit gar zu übermüthig zu sein! In der heiligen Schrift steht: ‚Wer anklopft, dem wird aufgethan‘, – bald Du aber so grob ‚Herein‘ schreist, wie der Oberschreiber am Rentamt, wenn die Bauern die Steuer bringen, da kehrt Jeder lieber unter der Thür wieder um … Schau, ich will Dir’s nur sagen, ich bin deswegen herauf zu Dir; der Vater hat’s haben wollen; er ist auch nit gut zu Fuß, sonst wär’ er selber herauf. – Es ist schon Einer da gewesen, am letzten Sonntag nach dem Gottesdienst, da ist der Bichler von Bichl gekommen und hat seinen Spruch angebracht wegen Deiner für seinen zweiten Buben, den Mathies …“
„Und was hat der Vater gesagt?“ fragte Stasi, indem sie sich hastig nach der Redenden wandte.
„Das kannst Dir denken. Der Mathies ist der zweite Bub vom Bichler; der ältere, der Sepp, kriegt einmal den Hof; der Hies muß also schaun, daß er wo einheirathen kann; bringt einen schönen Stumpf Geld mit, ist sonst auch ein ordentlicher Bursch, der darf nirgends lang’ warten, bis man ihm aufmacht – drum hat sich der Vater auch nit lang’ besonnen’ und hat Ja gesagt.“
„So? Hat er Ja gesagt?“ rief Stasi, die an den Herd getreten war, mit funkelnden Augen und störte in den Brand, daß die Funken bis an die Decke sprühten. „Ich mein’, da hätt’ ich auch ein Wörtl drein zu reden! Ich will mich nit verhandeln lassen wie –“
„Wer verlangt denn das?“ unterbrach sie die Base. „Zünd’ nur nit die Hütt’n an! Der Vater hat auch ein Wort – er sagt:
‚Der Bub’ ist mir der Rechte; nachher kommt’s an’s Madel, das muß sagen, ob der Rechte auch der Richtige ist.‘ Brauchst Dich aber nimmer zu strapazir’n, Stasi – hast schon eine Ruh’ vor dem Hies! Dem Vater wär’ die Heirath ganz recht gewesen; er hat sich gedenkt, Du würdest auch nit so viel dawider haben; aber am andern Sonntag, wie der Bichler hätt’ wiederkommen sollen, damit die Sach’ wär’ festgemacht worden, da ist statt seiner ein Briefel gekommen, in dem hat er Botschaft gethan, er hätt’ sich’s anders überlegt, und wenn der Vater wissen wollt’, warum, nachher sollt’ er nur beim Wirth in der Jachenau nachfragen wegen dem Bocktanze; er hätt’ gern den Frieden und die Ruh’ in seinem Haus und in dem Haus auch, in das sein Sohn einheirathen sollt’ – und Du – na, mit Einem Wort: Du wärst ihm halt zu bös zu einer Schwiegertochter!“
Stasi erwiderte nichts; sie konnte nicht, sie war in Thränen ausgebrochen, in Thränen des Zornes und machtlosen Grimms, dabei hielt sie den Schurz, den sie vor die Augen gedrückt, so fest gefaßt und zerrte und zog daran, daß das starke Gewebe zu reißen begann. „Und das muß ich mir gefallen lassen,“ schluchzte sie, „blos weil ich Niemand hab’, der sich um mich annimmt.“
„So mach’, daß sich Einer annimmt um Dich! Mach’ aber zuerst auch, daß er sich annehmen kann, daß er Dich gern haben kann!“
„Willst Du mir vielleicht lernen, wie ich das anstellen muß?“
„Wenn Du noch so spöttisch d’reinschaust, vielleicht könnt’ ich’s doch!“ erwiderte die Base. „Schau’ mich an – thu’ ich nit mein’ Sach’ richtig? Jedes kriegt von mir ein freundliches Gesicht und ein gutes Wort, und wenn ich einmal gestorben bin, wird’s von mir heißen: ‚’s ist ein gutes altes Weibl gewesen‘ … O mein Dirndl, glaubst Du, deswegen ist auch inwendig Alles in mir so glatt und still gewesen? Muß man denn Alles den Leuten auf die Nasen binden? Müssen denn, wenn sich am Grund was rührt, droben die Wellen gleich zu stürmen anfangen? Ich hab’ wohl Ursach’ gehabt, harb zu sein, und es wär’ kein Wunder, wenn ich ganz erbittert worden wär’ und mein Lebtag kein freundliches Gesicht mehr gemacht hätt’.“
„Wie das?“ fragte Stasi und wandte sich nach der Redenden zu. „Davon hast mir ja noch nie was erzählt.“
„Weil ich nie davon red’, weil ich das Alles lang’ in mir eingegraben hab’ wie auf dem Friedhof, und hab’ ein Kreuz darauf gesteckt wie auf ein Grab – und wenn ich auch für mich manchmal die Grabschrift überles’, bist doch Du nie darnach gewesen, daß ich Dich noch hätt’ mitlesen lassen können.“
„Du machst mich ja völlig neugierig,“ sagte Stasi, etwas näher rückend.
[189] „Ah nein – es ist nit der Müh’ werth,“ sagte die Alte, indem sie sich über die Augen fuhr. „So was geschieht alle Tag’, und es kümmert sich kein Mensch darum als der, den’s halt gerad’ angeht. Kannst Dir wohl denken, ich bin auch einmal jung gewesen und sauber und eine lebfrische Dirn’; ich hab’ gejuchzt, wenn die Sonn’ heraufkommen ist, und hab’ einen Kreuzsprung gemacht, wenn sie untergegangen ist. Ich bin auch da heroben gewesen als Sennerin auf der Brettenalm, vor so ein vierzig Jährl’n bin ich da gesessen, wo wir jetzt sitzen, hab’ gesungen und Cither gespielt und gemeint, die ganze Welt gehört mein. Einmal, wie ich in der Fruh die Hütt’n aufgemacht hab’, ist auf der Schwell’n, auf’m Antritt – siehst? gerad’ da, wo jetzt das Feuer hinscheint – ein Buschen gelegen von Edelweiß und Steinräutel, die wachsen nirgends schöner als an der Brettenwand, die gleich hinter der Hütt’n in die Höh’ geht, und der Buschen war so frisch, daß der Thau noch d’rangehängt ist, und mir ist so eigen um’s Herz worden, wie noch niemals zuvor; es ist mir heiß aufgestiegen, und doch ist mir wieder gewesen, als wenn ich anfangen wollt’ zu frieren. Ich hab’ mir wohl einbilden können, von wem der Buschen sein könnt’; ich hätt’ ja blind sein müssen, wenn ich nit gesehen hätt’, daß mir der Jagdg’hilf’ von der Jachenau schon lang’ zu Gefallen ’gangen ist! Er hat sich in der Kirch’ alleweil’ so gestellt, daß er mich hat sehen können, und beim Tanz bin ich die Erst’ und die Einzige gewesen, die er aufgezogen hat. Und wie ich den Buschen aufgehoben hab’ und hab’ herumgeschaut um mich, ist er, der Jäger, auch schon vor mir dagestanden … gerad’ dort, wo der Zaun ist und wo das Bergbachl ’nuntergeht in die Tiefen. Nachher ist er zu mir herkommen und bei mir gesessen, und nachher haben wir miteinander geschwatzt, und so ist er oft und nachher jeden Tag ’kommen, bis es Herbst ’worden ist und bis wir abgetrieben haben von der Alm. Da ist’s aus gewesen mit der ganzen Glückseligkeit, die ist abgefallen wie die Lauber von unsere Kerschbäum’. Der Vater hat nix hören wollen davon, daß ich ein’ Jäger heirathen sollt’; Dein Vater aber, mein Bruder, der Lipp, der ist noch wilder gewesen und hat gescholten und gedroht: wenn er den Jäger treffen thät’, so thät’s ein Unglück geben. So lang’ man denkt, hat er gesagt, hat keine Jachenauerin einen Fremden geheirath’t; das wär’ eine Schand’, und bei so was sollt’ auf dem Kurzenhof nit der Anfang gemacht werden. Erst hab’ ich mich auf’s Bitten gelegt, dann auf’s Weinen und zuletzt auf’s Trotzen – aber es hat Alles nix geholfen; bei mir ist’s wahr gewesen, es hat sich Niemand angenommen um mich – ich hab’s ’nunterschlucken müssen in mir, und wie der Auswärts wiederkommen ist, da hat’s geheißen, der Jäger, dem’s verleid’t gewesen ist in der Jachenau, der wär’ fort – wohin, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß ich ihn nimmer gesehen hab’ und daß die Zeit da heroben auf der Brettenalm meine letzte fröhliche Stund’ gewesen ist … So, jetzt weißt meine ganze Lebensgeschicht’,“ schloß die Alte, indem sie sich erhob. „Jetzt überleg’ Dir’s, Madel, ob Du eine Ursach’ hast, so feindselig und trotzig zu sein! Und jetzt, denk’ ich, wird’s auch Zeit sein, Du löschest das Feuer aus und machst die Hütt’n zu … Ich will mich derweil’ niederlegen – ich bin ordentlich müd’, und morgen vor’m Tag muß ich wieder unterwegs sein, damit ich drunten bin, wenn die Arbeit losgeht.
Sie that, wie gesagt, und lag bald still auf dem Heulager, während Stasi noch eine Weile am Herd und in der Hütte beschäftigt war und dann vor die Thür trat, um in den klaren sternigen Nachthimmel hinauszublicken – ein Hauch unendlicher Ruhe und unsäglichen Friedens wehte ihr daraus entgegen; sie athmete ihn begierig ein, mit ihm die Ahnung eines ungekannten, sehnsüchtig erwarteten Glücks. Spät erst ging auch sie zur Ruhe und nahm ihren Platz neben der Mahm ein, die entweder fest schlief, oder, weil ältere Leute der Schlaf nicht mehr so dauernd besucht, in stillem Sinnen und Beten lautlos verharrte, als ob sie schliefe; noch ehe aber drunten in den Dörfern die Hähne sich zu regen begannen, war sie schon wieder rüstig auf den Beinen und wanderte den Weg in die Jachenau hinunter; Stasi ließ sich nicht nehmen, sie eine Strecke zu geleiten, nachdem sie noch im Stalle nachgesehen und die hintere Thür geöffnet hatte. Als sie von einander schieden, geschah es zum ersten Male ohne Streit; kein gereiztes Wort ging hin und wieder. Stasi sah lange der sich Entfernenden nach; es war ihr immer zu Muthe, als müsse sie sie zurückrufen, als habe sie etwas Wichtiges vergessen, um das sie nothwendig fragen müsse.
Langsam kehrte sie wieder zurück; gesenkten Blickes der Hinterthür zu, ging durch den Stall in die Hütte und stieß die Thür auf, trat aber sogleich mit einem leichten Aufschrei zurück: auf der Schwelle lag ein Busch von Edelweiß und Steinraute, so schön, wie er nur auf den höchsten Graten der Brettenwand vorkommt, so frisch, daß der rings aufsteigende Morgenschein in den daran [190] hängenden Thautropfen schimmerte. Ueber die aus dem Schlafe erwachende, in weißes Duftgewölk gehüllte Welt ergoß sich unten rosiges Licht und drang verklärend bis in ihre Seele: es ward ihr eigen um das Herz wie noch nie, heiß wallte das Blut empor und pochte in den Schläfen, und doch schauerte sie zusammen, als ob sie anfangen wollte zu frieren. Die Erzählung der Base fiel ihr ein – erging es ihr doch gerade wie dieser! Nur ein Umstand traf nicht zu; denn dort vor ihr stand die leichte Umzäunung, welche den Felseneinschnitt umgab, in dem der Bergbach zur Tiefe sauste; aber keine Spur war zu gewahren, wer den Strauß gebracht haben könnte. Die Base hatte es auch leicht gehabt, den Geber zu errathen, der sich schon um sie beworben, Stasi hatte keine solche Erinnerungen, die ihr als Spur dienen konnten, und wenn eine Vermuthung in ihr aufblitzte, war sie auch im Entstehen mit der Schnelligkeit des Blitzes wieder verschwunden; sie wußte sich nur von Haß und Groll zu erzählen – konnten Haß und Groll eine Gabe der Liebe bringen? Einen Augenblick schwankte Stasi, was sie thun solle: eine freudige Regung zog ihre Hand, den Strauß aufzuheben; der Stolz hielt sie zurück; dennoch siegte die erstere, von der Neugier unterstützt, sie ergriff den Strauß, und sinnend ruhte ihr Blick auf den mattweißen Sammetsternen, dem trefflichen Bilde einer Treue, die nicht durch welkende Farben und verfliegende Düfte blendet, aber dafür durch bleibende, immer schöner sich entfaltende Anmuth zu fesseln weiß. Immer näher kam der Strauß ihren Lippen, natürlich nur, um ihn näher und genauer zu betrachten und den Hauch der Frische einzusaugen, der ihn statt des Duftes umwehte. Plötzlich fuhr sie zusammen: neben der Hütte war das Geräusch von Schritten laut geworden, sie blickte auf und ihre Augen trafen mit dem Augenpaar zusammen, in das sie nur ein einziges Mal geschaut hatte, und das sie dennoch unter Tausenden wiedererkannt haben würde. … Sie bebte erbleichend zusammen und vermochte nicht zu sprechen.
Auch Martl stand einen Augenblick unbeweglich; seine Stimme zitterte merklich, als er ihr seinen Gruß zurief: „Grüß Gott, Sennerin!“ sagte er, indem er sich den Anschein gab, als ob er sie nicht wiedererkenne. „Du bist ja schon gar vor der Sonn’ auf der Höh’.“
Stasi blickte fester nach ihm hin; schon wollte sie unwillig antworten, aber sie hielt inne, denn in dem auf sie gerichteten Blicke lag etwas, wogegen sie vergeblich ankämpfte. Da stand der verwegene Bursche wieder vor ihr, als Holzknecht, die Hacke auf der Schulter, den Bergstock in der Hand und denselben schäbigen Hut auf dem Kopfe wie beim ersten Begegnen. Dennoch kam er ihr bei Weitem nicht mehr so unsauber vor, und hatte sie dort über dem Gewande den Träger weniger beachtet, so ruhte diesmal ihr Auge nur auf dem Manne und sah kaum, wie er gekleidet war. Wie von einem Wirbelwinde umgejagt, drehten sich ihr die Gedanken. Wie kam er hierher? War es Zufall oder Absicht, was ihn hierher geführt? Erkannte er sie wirklich nicht, oder wollte er sich verstellen? Wenn er wirklich die Blumen gebracht, welchen Grund konnte er haben, als ihr ein Zeichen zu geben, daß er fühle, wie sehr er ihr Unrecht gethan, daß es ihn reue und dränge, das wieder gut zu machen? Das Alles klang im leisen Beben ihrer Stimme nach, als sie ihm nach einigem Zögern antwortend entgegenrief: „Grüß Gott auch! Bist ja noch früher unterwegs, weil Du schon auf der Brettenalm bist. Ist Dir Niemand begegnet auf der Alm?“
„Ich hab’ Niemand gesehn … Warum fragst, Sennerin?“
„Weil da vor meiner Thür der Busch’n gelegen ist, und weil ich gern wissen möcht’, wer ihn etwa verloren hat.“
„Das ist wohl kein Platz zum Verlieren,“ sagte Martl mit Beziehung, „ich bild’ mir ein, wer den Strauß hingelegt hat, der hat ihn wohl verlieren wollen … Wird wohl ein Bue sein, der Dir als seinem Schatz ein’ Ehr’ anthun will.“
„Könnt’ mir nit einbilden, wie ich zu einer solchen Ehr’ käm’ … und von wem … Da müßt’ Einer schon erst fragen, ob’s mir ein’ Ehr’ wär’.“
„Warum, Sennerin? Ist denn das was Unrechtes?“ sagte Martl, den Hut lüftend, unter dem es ihm schon wieder heiß zu werden begann. „Das ist wohl niemalen keine Schand’ für ein Dirndl, wenn ihr ein ordentlicher Bursch zeigen will, daß er was auf sie halt’ … Aber mir kommt’s vor, als wenn’s der Bursch – wer’s auch ist – bei Dir nit recht getroffen hätt’! Bist mit’m linken Fuß zuerst heut aufg’standen, Sennerin, oder bist alleweil so z’wider.“
So geneigt Stasi anfangs gewesen, das unerwartete Begegnen eine freundliche Wendung nehmen zu lassen, war es ihr doch wie Martl ergangen: ihn hatte die leise Andeutung ihres Stolzes abgekühlt, sie fühlte sich verletzt, weil seine Rede im Grunde nichts Anderes war, als ein kaum nothdürftig verkleideter Liebesantrag, der nach dem Vorgefallenen nur eine neue Beleidigung war. „Wird schon so sein,“ sagte sie mit fliegendem Roth auf den Wangen. „Was kommst her und fragst und thust, als wenn Du mich nit kennen thätst’? Weißt ja eh’, wie ich bin – was bind’st an mit einer solchen Z’widerwurz’n?“
„Ah so,“ sagte Martl und nahm den Hut vollends von der erglühenden Stirn, „Du kennst mich also noch? Dann hab’ ich meine Sach’ freilich verkehrt angepackt … hab’ mir halt nit eingebild’t, daß Du mich noch so gut im Andenken haben thätst …“
„Na – ich mein’, Du hast mir einen ordentlichen Denkzettel gegeben!“
„Und Du mir gar eine Denkmünz’!“ rief er hitzig. „Es ist wahr, was Du sagst, aber hinterher hat’s mir gleich leid gethan, ich hätt’s gern wieder gut machen mögen, und das – das hab’ ich Dir zeigen wollen, und deswegen hab’ ich Dir den Busch’n vor Deine Thür gelegt.“
„Gut machen?“ fragte Stasi mit vollem Hohne. „Bildest Du Dir ein, Du hättest so viel Gewalt, daß Du was hättest schlecht machen können bei mir? Was frag’ ich nach Dir und nach dem Gered’ von den Leuten! Und wenn der Buschen von Dir ist, nachher nimm Deinen Daunderlaun (Bagatelle) nur wieder! Da liegt er – Schad’, daß Du Dich in aller Früh’ schon so d’rum hast plagen müssen!“
„Ja wohl hab’ ich gut machen wollen,“ rief Martl außer sich, „aber blos meinetwegen, weil ich keinem Menschen mit meinem Willen Unrecht thun mag, weil ich selbigesmal zu hitzig gewesen bin und vergessen hab’, daß ich mit einer Dirndl gered’t hab’, mit einer reichen Bauerntochter, – ich, ein armer Holzknecht, der nix hat als eine Büchs’ und eine Hacke und ein Paar Arm’ zum Regieren dazu! Ja, von mir ist der Busch’n, ich will’s nur eingesteh’n, und schäm’ mich nit derentwegen! Ich hab’ ihn zuhöchst von der Brettenwand heruntergeholt – es steigt nit leicht Einer so hoch hinauf, als das Edelweiß gewachsen ist … Ich hab’ gemeint, Du sollt’st es errathen, von wem der Buschen ist, und sollt’st es merken, was er zu bedeuten hat – Du willst es nit verstehn, meinetwegen; aber das sag’ ich Dir, jetzt ist meine Rechnung ausgewischt, und Du stehst jetzt ganz allein noch in meinem Schuldenbüchl! Schau’ zu, hoffärtige Sennerin, wie Du fertig wirst mit den Leuten und mit Dir selber! Den Buschen aber, den nimm’ ich wieder, weil er Dir doch für nichts gut ist …“ Raschen Griffes hatte er den Strauß, der auf die Bank gefallen war, erfaßt und hoch über die Umzäunung in die Schlucht des abstürzenden Bergbaches geschleudert. „Für was wär’ auch ein solcher Daunderlaun gut bei einer solchen Z’widerwurz’n!“
Der Abend desselben Tages lag verglühend auf der Jachenau und ließ die Wiesen und Aenger in jenem eigenthümlich grünen Glanze erscheinen, den der Landmann im richtigen Gefühle mit dem Spruche bezeichnet, wenn man seine Wiese verkaufen wolle, müsse man den Käufer Abends auf dieselbe führen. Der Bauer beim Kurzen am Berg saß wieder wie an jenem Ostermorgen vor dem geöffneten Fenster der großen Wohnstube, das jetzt so dicht und reich von den Blättern der Weinrebe umgittert war, daß es kaum genügend Raum bot, den Duft des Grummets hereinwehen zu lassen, das draußen noch einmal gerecht wurde, um am andern Morgen wieder ausgebreitet und von der Sonne zur Aufbewahrung vollends reif gemacht zu werden. Wieder war der Bauer in Gedanken versunken; sie waren nicht so angenehm, wie sie damals bei ihm eingekehrt. Die letzten Wochen hatten ihn unwohl gemacht, und mit der Kränklichkeit war auch die Grämlichkeit eingekehrt; ein bedenkliches Reißen in den Gliedern, wie es die Schwester auch verspürte, wollte nicht weichen, und der Alte ließ es sich nicht nehmen, er sei kerngesund, es müsse ihm angethan worden sein, denn gesunde Beine seien ein Erbstück in der Familie. Die Schwester saß ihm gegenüber; sie hatte über den vielen Geschäften des Hauses [191] erst jetzt Zeit gefunden, dem Bruder vollständigen Bericht über ihre Wanderung nach der Brettenalm zu erstatten. Das Ergebniß war nicht dazu angethan gewesen, ihn besonders erfreulich zu stimmen; schweigend hatte er zugehört, und den Kopf in die Hand gestützt, saß er noch eine Weile schweigend da, bis er dem gepreßten Herzen fast unwillkürlich in einem Seufzer Luft machte:
„Wenn sie nur erst wieder da wär’!“ sagte er. „Ich mein’, mir wär’s dann gleich leichter, ich hätt’ auch nit so viel Weillang auszustehn – das Madel könnt’ mir wenigstens vorlesen; denn Du kommst ja den ganzen Tag kaum ein paar Minuten in die Stuben.“
„Ja, Ein’s muß sich halt doch um den Hof und um die Wirthschaft annehmen,“ sagte die Base, „sonst kommt das Hinterste vor’s Vöderste zu stehn! Es giebt Arbeit genug: das Grummet muß ’rein, und ich fürcht’, das Wetter halt nit mehr lang’, und wenn man nit alleweil’ hinter den Eh’halten her ist, so legen sie die Hände in den Schooß. Laß Du die Stasi nur noch eine Weil’ droben auf der Brettenalm! Die Einöd’ thut ihr ganz gut, da lernt sie fein ein Bissel einsehen, was es ist um die G’sellschaft und um die Leut’ – wirst die paar Wochen schon auch so hinüber bringen! Und bild’ Dir nur ja nit ein, daß sie Dir vorlesen thät’ – das wär’ das erste Mal, daß sie mir oder Dir in irgend etwas den Willen gemacht hätt’. Verzeih’ mir Gott die Sünd’, wenn’s eine ist – aber mir ist völlig gut, wenn sie nit da ist! Es ist eine ordentliche Ruh’ und ein Frieden im Haus; man hört den ganzen Tag keinen Streit und keinen Zank … wenn das Dirndl da ist, ist’s ja nit anders, als wenn alle Augenblick der Wecker ablaufen thät’ an der Uhr.“
„Na ja, das kennen wir schon,“ sagte der Bauer, „ihr Weiberleut’ thut’s einmal nit anders, als daß ihr die Sachen übertreibt – thät’s doch was nützen, wenn ich ihr einmal recht zureden thät’. Ich glaub’s wohl, daß sie die Stichelreden und die Geschicht’ mit dem Spitznam’ nit so leicht verwinden kann – es geht mir auch nit anders, und wenn ich erst an die zurückgegangene Heirath denk, könnt’ ich vor Gift in der Mitt’ abspringen wie eine Blindschleich’! Aber eben deswegen möcht’ ich haben, daß ein End’ hergeht. Das Madel verschlagt sich sonst ganz, und es kommt noch so weit, daß sie mitsammt ihrem saubern Gesicht und mit ihrem Geld ledig bleibt, und daß gar Keiner mehr einheirathen will auf den Kurzenhof.“
Die Base war aufgestanden und zum Bruder getreten. „Na,“ sagte sie, „das fürcht’ ich g’rad’ nit – die Mannsleut’ sind nit so heikel; aber wenn’s wär’, Bruder, dann müßt’st Du Dich halt auch d’rein finden und denken, daß Du’s an mir verschuld’t hast.“
Sie verließ die Stube, in der es so still wurde, daß hell und deutlich das Abendläuten aus der Pfarrkirche herauftönte und mit dem letzten rothen Abendstrahl in’s Zimmer drang. Die Erinnerung, die durch die letzten Worte der Schwester in dem Alten geweckt worden, mochte nicht angenehm sein; er hatte keine Antwort und fuhr sich ein Mal um das andere über den kahlen Kopf, und wieder drang etwas, das sich wie ein Seufzer anhörte, aus der beklommenen Brust.
Da wurde es plötzlich draußen laut, und ein kleiner Knabe kam athemlos und schreiend in die Stube getrampelt; es war der Geisbub’ von der Brettenalm. „Du sollst nit erschrecken, Bauer“, rief er schon auf der Thürschwelle; „aber der Z’widerwurz’n ist ein Leids g’scheh’n.“
„Was? Wem ist ein Leid passirt?“ rief der Bauer und hatte mit seinem langen Arm den Buben, der ihm zu nahe gekommen war, am Kopfe erwischt. „Wie red’st Du von der Tochter von Dein’ Bauern?“ setzte er hinzu, indem er ihn tüchtig an den Haaren schüttelte. Im nämlichen Augenblick aber ließ er ihn auch wieder los, denn ein Knecht stand bereits als zweiter Unglücksbote in der Thür und wiederholte die Mahnung, nicht zu erschrecken, es habe auf der Alm ein kleines Unglück abgegeben. Der Bauer konnte nicht mehr erschrecken, als er schon erschrocken war; er versuchte vergebens, sich aus dem Stuhle zu erheben – die Füße trugen ihn nicht und zwar nicht blos des Reißens wegen; ein ängstlich gestammeltes: „Was ist’s denn … was ist denn geschehn?“ war Alles, was er hervorbrachte.
„No, no, macht die Sach’ nur nit ärger, als sie ist!“ rief die Mahm herbeieilend dazwischen, während der gebeutelte Geisbube laut heulend davon lief. „Ich hab’s von dem dummen Bub’n schon draußen erfragt – die Stasi ist halt gefallen und hat sich den Fuß verstaucht, daß sie nit auftreten und gehen kann, – das ist Alles! Die anderen Sennerinnen haben eine Tragen zurecht gemacht und haben sie über die Bergweg’ heruntergetragen und haben den Bub’ vorausgeschickt, man soll ihnen das Wagel entgegenschicken, soweit die Fahrstraßen geht.“ Der Bauer wollte wieder aufstehen, brachte es aber noch immer nicht zu Stande und die Base drückte ihn in den Stuhl nieder. „Bleib sitzen,“ sagte sie, „ich hab’s schon dem Knecht draußen g’sagt, er hat gerad’ eingeschirrt g’habt, um die letzte Fuhr’ Grummet hereinzuholen, da hat er gleich das Wägerl ang’spannt – sei nur nit gleich so aus dem Häusel, es wird wohl so weit nit g’fehlt sein; sie werden sie bald bringen, glaub’ ich!“
„Bringen!“ jammerte der Bauer. „Was das für Reden sind! Am End’ wollt Ihr mir’s nit sagen, und sie ist gar schon todt!“
„Warum nit gar!“ erwiderte die Schwester. „Der Bub’ sagt, sie hat ihm erst, wie er von ihr fort ist, noch ein’ Renner gegeben, daß er fast über und über gekugelt ist. Zum Sterben muß sie also noch nit sein! Wie sie dazu ’kommen ist, weiß ich freilich nit, der Bub’ sagt, sie hat Edelweiß brocken woll’n und ist ausgerutscht dabei!“
Der Bauer fuhr aus seinem Stuhle empor; so groß der Schmerz in seinen Knieen war, er empfand oder beachtete ihn nicht in der augenblicklichen Erregung. „Was hat sie gethan?“ rief er. „Edelweiß gebrockt? Ja ist denn das Dirndl völlig übergeschnappt? Wo wachst denn auf der Brettenalm und d’rum herum ein Edelweiß, als zuhöchst auf der Brettenwand, auf die sich kaum die allerverwegensten Gamsjager hinaufzukraxeln trau’n?“
„Nu geduld’ Dich nur!“ sagte die Schwester. „Wir werden’s ja bald hör’n; sie wird nimmer lang’ ausbleiben – ich freu’ mich jetzt nur, wie das werden wird, wenn sie daheim ist und sich nit rühr’n kann wegen dem Wehthun an ihrem Fuß, und mit ihrem guten Humor! Da kann’s recht unterhaltlich werden auf’m Kurzenhof – Du sitz’st in dem einen Eck’ und brummst, sie in dem andern und zankt, da gefreut mich mein Leben! Da werd’ ich mein Bündel schnüren, daß es hergericht’t ist, wenn ich’s nimmer aushalten kann.“
Der Bauer stieß einen Laut schmerzlichen Unwillens aus, wie wenn ihn die Worte der Schwester wie ein Stich getroffen, oder als ob es ihm einen Stich in dem kranken Beine gegeben hätte, nach welchem er ängstlich tastete. „Schwester,“ stöhnte er, „Du thust mir auch Alles an, was mich ärgert – auf Dich thät ein g’wisser Spitznam’ auch ganz gut taugen; Du kannst Dich gleich d’rauf vormerken lassen, wenn er einmal frei werden sollt’!“
„Damit hat’s kein’ G’fahr,“ antwortete die Schwester lachend. „Gestern früh, wie wir auseinandergegangen sind, ist sie mir wohl ein bissel dasig (kleinlaut) vorgekommen, das hat aber nit mehr bei ihr zu bedeuten, als wenn im April die Sonn’ scheint; deswegen stürmt’s doch wieder in der nächsten Minuten. Am Abend zuvor wenigstens ist sie noch so schiech gewesen, daß ich nit gewußt hab’, wie ich sie anfassen soll, wie ein Ei, das ohne Schalen auf die Welt gekommen ist.“ Die Mahm benutzte hier die willkommene Gelegenheit, das Erlebte noch einmal zu erzählen und zu schildern, wie Stasi die Kunde über das Zurückgehen der beabsichtigten Heirath, von welcher der Vater sich so starke Wirkungen versprochen hatte, ganz gleichgültig und in ihrer gewohnten spitzigen Weise aufgenommen, und wie also blutwenig Hoffnung vorhanden sei, daß Worte mehr nützen sollten als Thatsachen. Mitten im vollsten Flusse hielt sie jedoch inne, wie Jemand, der in der Nacht dahinwandert und dem unvermuthet Licht und mit ihm das Ziel seiner Wanderung entgegenblitzt. „Wie, wenn das wär’ –!“ rief sie. „Ja, wo hab’ ich denn meine Augen gehabt? Wenn sie sich zuletzt selber schon einen Hochzeiter ausgesucht hätt’, und wenn sie desweg’n so letz (böse) gewes’n wär, weil sie denkt, sie kann ihn nit hab’n!“
„Was nit noch?“ rief Lipp lachend. „Wer sollte denn das sein! Unten im Dorf seh’ und kenn’ ich jeden Christenmenschen, der in’s Haus kommt, und droben auf der Alm da ist nix daheim, als Jäger und Schwärzer, Kohlenbrenner und Holzknecht’ – da schaut mein’ Tochter nit hin, das weiß ich! Na, da laßt Dich Deine Weisheit wieder einmal sitzen, Schwester – aber ich kann mir schon einbilden, wie Du darauf kommst: das ist bloß, weil Du eamal selber in denen Schuh’ gestanden …“
Er vollendete nicht, denn die Schwester stand mit einem [192] Male ganz nahe und kerzengerade vor ihm, hochaufgerichtet und mit funkelnden Augen – es war wohl zu erkennen, daß auf dem Kurzenhofe unter den weiblichen Gliedern der Familie trotziger Sinn und entschiedenes Wesen keine Fremdlinge waren und daß Stasi nur einen besonders starken Theil dieser Familienerbschaft erhalten hatte. „Lipp,“ sagte sie mühsam und ballte die Schürze zwischen den Fäusten „wenn Du mit mir Ruh’ haben willst, so fang’ mir von dem Capitel nit an! Du hast gewiß von mir noch nie ein böses Wort darüber gehört; aber wenn Du deswegen meinst, ich hätt’s vergessen, dann bist weit irr’ – ich hab’ Dir’s wohl in ein Wachs’l gedruckt … wann Du gescheidt bist, mahn’ mich nit selber daran, was Du noch bei mir auf der Nadel hast!“
Der verblüffte Bauer hatte nicht Zeit, sich auf eine Antwort zu besinnen, denn vor dem Hause war es laut, ein wirres Durcheinander von Stimmen verkündete das Herannahen des Fuhrwerks, das die erwartete Kranke oder Verunglückte bringen sollte. „Kreuzbirnbaum, da ist sie schon!“ fluchte der Bauer, indem er sich zusammennahm und ziemlich raschen und kräftigen Schrittes durch das Fletz auf die Stufen eilte, vor denen das Fuhrwerk eben anhielt. Es war ein leichtes, offenes Gefährte von der Art, wie sie auf dem Lande als Schweizer Wägelchen bezeichnet werden; auf dem Sitze neben dem Knecht, der die Zügel führte, lehnte Stasi: das schöne, von Schmerz verzogene Antlitz war wie ermüdet zur Seite gesunken, den kranken Fuß hatte sie vor sich auf eine Unterlage von Stroh gestellt, neben ihr, halb auf ihrem Schooße, lag ihr Hut, in dessen Band ein paar Edelweißblüthen steckten.
„Kreuzbirnbaum!“ rief der Alte, von dem Anblick ergriffen, in einer Mischung von Zorn und Rührung. „Stasi, Du verfluchte Dirn’ – was treibst denn für narretes Zeug? Was fallt denn Dir ein, daß Du selber in’s Edelweißbrocken gehst? Kannst es ja genug haben! kannst Dir holen lassen, so viel Du willst, wenn Du gar so versessen bist auf solchen Daunderlaun.“
Stasi biß die Zähne zusammen; das Wort war ihr vom Morgen her noch so frisch im Gedächtniß, daß sie zuckte, als hätte eine rauhe Hand eine schlecht vernarbte Wunde berührt; sie that aber, als habe ihr der Wagen, der eben mit einem tüchtigen Ruck anhielt, einen Stoß an den Fuß gegeben.
„So gieb doch Acht!“ rief der Vater dem Knechte zu, der den Pferden die Zügel über den Rücken gelegt hatte und nun herbeikam, um beim Absteigen behülflich zu sein „Könntest auch langsam herfahren, wenn Du weißt, daß Du ein Krankes auf dem Wagen hast! … Gebt’s Acht, Leut’ – thut’s ihr nit weh – Kreuzbirnbaum, wie wer’n wir das Dirndl vom Wagen ’runterbringen?“
„Mach’ nit so viel Aufhebens, Vater!“ unterbrach ihn Stasi. „Ich hab’ mir den Fuß vertreten – in ein paar Tagen ist Alles wieder gut. Den weiten Weg hab’ ich freilich nit geh’n können; aber über den Wagen kann ich schon herunter, wann mir Eins ein wengel hilft.“ Sie erhob sich rasch, stützte sich mit der Hand auf die Schulter des Knechtes und schwang sich kräftig herab, während der Vater davonging, Hut und Kleidungsstücke aus dem Wagen zu nehmen und in das Haus zu tragen. Das Absteigen ging indessen doch nicht so ganz leicht von statten – beim Auftreten zuckte Stasi schmerzlich zusammen und rief, indem dunkle Zornesgluth ihr Gesicht überflog, dem Knechte eine derbe Verwünschung zu. „Du Hackstock!“ sagte sie, „glaubst wohl, Du hast ein Fuhr’ Holz zum Abladen? Wie kannst mich so grob anfassen?“ Sie schien noch mehr sagen zu wollen; aber sie unterbrach sich selbst: es war, als ob neuer Schmerz ihr das Wort im Munde stocken mache; von der Base geleitet, die sie am Arme unterfangen hatte, ging sie mühsam und hinkend einige Schritte vorwärts, blieb aber bald wieder stehen und brach plötzlich ganz in den alten, gewohnten Unmuth aus. Auf die Gefahr hin, daß sie nicht allein zu stehen vermöge und zusammenbrechen würde, riß sie sich von der Base los und rief mit greller, keifender Stimme dem Vater nach, der bereits auf der Schwelle des Hauses angelangt war: „Was treibt denn der Vater? Warum giebt er nit Acht auf meine Sachen? Wenn er Alles auf dem Erdboden herumstreut, nachher hätt’s der Geisbub’ auch besorgen können!“
Der Mahm stieg wegen der umstehenden Dienstboten eine Röthe unwilliger Beschämung in’s Gesicht, der Bauer wandte sich verdutzt auf der Schwelle um und sah forschend auf die Steinstufen und den Weg zurück, den er zurückgelegt hatte. „Was hast denn so Kostbares bei Dir,“ sagte er, „das ich verstreut haben soll? Ich seh’ ja nix.“
„Was ist denn nachher das da, was da auf der Staffel liegt?“ rief sie, indem sie ungestüm dem Vater ihren Hut aus der Hand riß und sich zugleich nach dem bezeichneten Gegenstande bückte – es waren ein paar ziemlich unscheinbare Zweiglein Edelweiß, die im Tragen von dem abwärts gewendeten Hute weggefallen waren.
„Ja, ist denn das auch der Müh’ werth?“ sagte der Bauer. „Wegen einen solchen Bettel machst ein’ Lärm, als wenn schon das Feuer zum Dach ’rausschlagen thät’!“
Stasi stand jetzt gerade vor dem Bauer; sie schlug die Augen nicht auf, sondern hielt sie fest auf den Hut und auf die Blumen gesenkt, die sie wieder daran festzustecken versuchte. Sie war todesbleich geworden, um im nächsten Athemzuge wieder wie eine Pfingstrose zu glühen; ein Erbeben ging sichtbar über ihren ganzen Körper, wie wenn der Wind leicht über Wellen oder Saaten streicht. „Vater,“ sagte sie dann leise, aber sicher und bestimmt, „ich glaub’, ich bin am End’ doch kränker, als ich selber mein’. Von dem mag’s wohl herkommen, daß ich Euch so angefahren hab’. Verzeih’ mir der Vater nur; ich will’s nit wieder thun.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er wie mechanisch ergriff; wenn unmittelbar vor ihm die Erde geborsten, oder ein Stern vom Himmel ihm vor die Füße gefallen wäre, er hätte nicht erstaunter und betroffener sein können, als über diese Worte, wie er sie aus dem Munde seiner Tochter noch nie vernommen. Ihm gegenüber hinter Stasi stand die Mahm ebenfalls erstarrt, als habe sie wie Lot’s Frau in das brennende Sodoma hineingeblickt. Beide gewahrten kaum, daß der Knecht und die Magd die Leidende in die Wohnstube führten, und standen noch eine Secunde wie festgewachsen an ihren Plätzen. Die Base gewann zuerst Leben und Bewegung wieder; sie fuhr sich mit der Schürze über die Augen, als ob sie etwas wegzuwischen hätte, und that ein paar Schritte gegen die Thür. „Na Lipp,“ sagte sie innehaltend, „willst nit auch hereinkommen in die Stuben?“
„Ja, ja, ich komm’ schon,“ entgegnete der Bauer, indem er sich auf die Bank vor dem Hause niederließ. „Ich muß nur zuerst ein Bissel ausrasten. Ich weiß nit, sind’s meine Füß’, oder ist mir sonst was in die Glieder gefahren … aber ich bin völlig wie erschlagen … ich komm’ gleich nach – muß mich erst erholen von dem Unglück.“
„Sei doch gescheidt!“ erwiderte die Schwester. „Verlier’ nit gleich den Kopf! In ein paar Wochen ist der Fuß geheilt und Alles wieder beim Alten.“
„Na,“ sagte der Bauer mit traurigem Kopfschütteln, „dassel’ glaub’ ich nit! Hast nit gehört und geseg’n, wie das Madel so ganz verwandelt ist? Sie hat mich um Verzeihung bitt’, weil sie mich angefahren hat … das hat s’ in ihrem ganzen Leben noch nit gethan … So geht’s mit denen Leuten, hab’ ich mir sagen lassen, die bald sterben. Du wirst sehn, das bedeutet nichts Gutes! Das Mad’l ist wohl auswendig gesund; aber sie muß sich beim Fallen inwendig was gethan haben – Du wirst sehn, Schwester, die Stasi treibt’s nimmer lang’!“
[209] Die zankende Stimme des Mädchens, die laut und gellend aus der Stube erklang, unterbrach den Sprechenden. „Steh’ auf, Lipp,“ sagte die Schwester lachend, „und geh’ hinein! Du hörst ja, daß es noch nit so gefährlich ist – ihrem Stimmstock wenigstens fehlt nix.“
Der Bauer erhob sich und eilte, so rasch er konnte, in die Stube; die Mahm folgte langsam und kopfschüttelnd. „Zum Sterben ist’s nit mit dem Mad’l,“ sagte sie vor sich hin; „aber sie kommt nit ’runter von der Alm, wie sie hinauf’gangen ist – das ist gewiß! Vielleicht hat mein Zureden doch was geholfen; oder es ist, wie ich mir denk’ – es ist warm ’worden in ihr – die Rinden ist gesprungen … ich mein’ alleweil, der Eisstoß will gehn.“
Die Witterungskunde trog die kluge Base nicht. In der That waren die Tage, welche jetzt auf dem Kurzenhofe folgten, nicht so sehr schlimm, als sie sich dieselben vorgestellt hatte, dennoch war in ihnen nicht allzuviel von der friedlichen Behaglichkeit zu sprechen, die der in sein schönes Töchterlein vergaffte Vater sich ausgemalt hatte. Sie hatten wirklich Aehnlichkeit mit dem Wetter des beginnenden Frühlings, wo bald trübes Gewölk vom Sturmwind über den Himmel gejagt wird, bald Regen herniedergießt, und Schneeflocken, die letzten Geschosse des noch auf dem Rückzuge kämpfenden Winters, darunter hineinwirbeln, wo manchmal der Frost über Nacht die schlafende Erde in demantene Ketten schlägt, die die erste Morgenstunde sprengt; wo aber das Alles doch nichts Anderes mehr ist, als der Kampf um eine verlorene Sache. Die Sonne ist schon zu mächtig, vor ihrer unwiderstehlichen Gluth schmilzt alle Erstarrung, und träufelnd und befruchtend wird gerade das, was zum bittersten Verderben gemeint war, zum Segen. Der Frühlingseinzug ist nicht mehr aufzuhalten, die Gräser lassen es sich nicht wehren, dem beglückenden Sieger ihren grünen Teppich unter den Fuß zu breiten, Baum und Strauch wetteifern, Knospen zu treiben und zu öffnen, damit es nicht an Blattgewinden und Blumen fehle beim Einzug. Aehnliches begab sich in Stasi’s Gemüth. Das Eine war schon in der ersten Stunde Allen klar geworden: sie war nicht zurückgekommen, wie sie gegangen.
Während sonst trauriger Eigensinn und widersprecherische Herrschsucht die überwiegende und ständige Stimmung gebildet, hatte jetzt der Wechsel die Oberhand; die Sturmzeichen waren nicht seltener als sonst, aber das Gewitter, das sie verkündeten, kam meistens gar nicht zum Ausbruch, sondern verzog sich mit einigem Wetterleuchten und verschwand ganz und gar, wie wenn in den oberen Luftschichten der Wind umspringt und ein Gewölk verjagt, dessen Entladung man schon gewärtig war. Stasi kämpfte mit sich selbst einen schweren Kampf. Zur Erkenntniß ihrer Unart erwacht, bemühte sie sich, gut und sanftmüthig zu sein, und die unangenehmen peinlichen Auftritte der alten Art, an denen immer noch kein Mangel war, waren nur vorübergehend und kurz, wie verloderndes Feuer, dem die Nahrung entzogen wird, ober wie versiechendes Wildwasser.
Noch am Abend ihrer Ankunft hatte sich das gezeigt, als man sie in die Wohnstube brachte, an welche seitwärts die Kammer stieß, in der sie und die Mahm ihre gewöhnliche Lagerstätte hatten. Der Knecht und die Magd, die sie geführt, wollten sie dahin geleiten; aber sie litt es nicht, stieß beide unsanft zurück und jammerte laut, daß man sie in eine dunkle Kammer sperren und schon bei lebendigem Leibe begraben wolle. Der verschüchterte Vater suchte sie zu begütigen, als er nachgekommen und die Base redete ihr zu, sie solle sich’s nur die Eine Nacht noch in der Kammer gefallen lassen, am andern Morgen könne sie dann nach Belieben das Zimmer aussuchen, in dem sie ihr Bett aufgeschlagen haben wolle. Es bedurfte aber all’ dieser Bemühungen nicht; denn schon die ersten Worte genügten, den Sturm verflattern und den Strom vertrocknen zu machen. Stasi nahm schweigend den Arm der Base und hinkte der Kammerthür zu.
„Sie ist ganz ruhig in’s Bett ’gangen und hat sich auf die andere Seiten gelegt, als wenn sie schlafen wollt’,“ flüsterte die Base, als sie nach kurzer Zeit aus der Kammer zurückkam. „Ich hab’ ihren Fuß angeschaut; er ist um den Knöchel herum stark angeschwollen – sonst ist nix daran zu sehn. Ich hab’ ihr ein Bissel Baldrianwasser übergeschlagen, und eh’ acht Tag’ in’s Land gehn, wird sie wieder so munter auf die Bein’ sein, wie ein Hirschel …“
Der Vater schien diese freudige Hoffnung noch immer nicht theilen zu können; er näherte sich der Thür und klopfte leise daran. „Gut’ Nacht, Stasi!“ rief er und erschrak förmlich, als die Stimme seiner Tochter freundlich und in fast weichem Tone mit einem „Gut’ Nacht, Vater!“ erwiderte, das sich anhörte, als wäre es durch verhaltene Thränen gesprochen. Ihm selber stand das Weinen nahe; so hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht zu ihm gesprochen. „Ich bleib’ dabei,“ sagte er vor sich hin, indem [210] er in seine Schlafstube humpelte, „das Madl’ ist mir ausgewechselt worden, oder es redet schon der Tod aus ihr.“
Stasi’s Gemüthsart war zu lebhaft und ihr Uebel zu unbedeutend, als daß sie sich an’s Bett hätte fesseln lassen. Als der Bauer am andern Tage zur gewöhnlichen Zeit in die Wohnstube trat, traf er sie schon vollständig angekleidet am Tische sitzen, dem Fenster gegenüber, das die Aussicht nach dem Thale bot, den kranken Fuß durch einen Schemel unterstützt. Sie sah gesund aus und frisch, und doch wollte es den Vater bedünken, als wäre das Roth ihrer Wangen um einen Hauch blässer geworden. Sie schaute in die Morgenlandschaft hinaus, deren Vordergrund durch das am Bergabhang liegende Krämerhaus mit dem Gebüsch und Hohlweg gebildet wurde, in welchem am Ostertage die verhängnißvolle Begegnung stattgefunden, und die Erinnerung daran oder die durch Unthätigkeit veranlaßte Langeweile stand auf dem hübschen Gesichte als eine Wolke des Unmuths, der auch aus dem Morgengruße grollte, den sie dem Vater entgegenrief: der Vater solle nur gleich zum Tischler in’s Dorf hinunterschicken, sagte sie, und solle das Maß zu ihrer Truhe hinuntergeben, denn die Weillang bringe sie um.
„Da laßt sich helfen,“ sagte die Base, die inzwischen eingetreten war und das Frühstück auf den Tisch stellte, eine mächtige Schüssel dampfender Milchsuppe sammt einem nicht minder ansehnlichen Laib schwarzen Brodes, der sich von dem blanken Holzteller recht einladend abhob. „Mußt sie halt doppelt nehmen, wenn Dir die Zeit zu lang wird – oder arbeit’ was – es giebt genug zu thun; wenn Du Dich um die Nähterei annehmen willst, hast Du drei Wochen vollauf zu schaffen …“
„Das ging’ mir gerad’ ab!“ entgegnete Stasi und warf die Lippen auf. „Ich soll wohl die Hausnähterin ersparen helfen? Soll Dir den Pudel machen und die Arbeit thun, die Dir zu schlecht ist?“
„Na, na,“ fiel der Bauer ein, um dem Zanke vorzubeugen, den er schon auflodern sah. „Weiß auch nit, was Dir einfallt, Schwester, daß das Madl hersitzen und nähen soll wie eine Nähterin, die auf der Stöhr ist! Thu’ was Du magst, Madl, und wenn Du Weillang hast, nachher schicken wir in’s Dorf und lassen die Nachbarn in’n Heimgarten kommen.“
„Damit sie mich wieder ausrichten,“ rief Stasi zornig, „und mich in den Mäulern herumtragen? Das wär’ mir schon zu dumm, Vater … ich müßt’ ihnen in die Augen fahren, Einem nach dem Andern!“
„Nachher kannst was lesen,“ sagte der Vater begütigend. „Giebt ja allerhand schöne Bücher; da ist ‚die große biblische Geschicht’‘, oder ‚die sieben schlafenden Jungfrau’n‘, oder ‚der Schatz in der unsichtbar’n Höhl’n Xaxa‘, und wenn Du ein ander’s lesen willst, kannst es beim Schullehrer haben oder beim Herrn Pfarrer. Dabei kannst mir auch einen Gefallen thun, weil ich doch wegen dem dummen Reißen im Fuß stillsitzen und Dir Gesellschaft leisten muß. Du lies’st vor und ich hör’ zu, dann haben wir alle Zwei ’was davon!“
Stasi schlug ein spöttisches, unwilliges Gelächter auf, brach aber mitten drinnen ab und griff nach ihrem kranken Fuß, als hätte sie dort plötzlich wieder Schmerz empfunden. Schweigend nahm sie einige Löffel Suppe, stützte dann die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen. In dieser Stellung verblieb sie, bis die Ehehalten, die zum Frühstück in die Stube kamen, dieselbe wieder verlassen hatten. Wohl riefen und nickten sie der Tochter des Hauses ihr „Grüßgott“ zu; aber sie wunderten sich nicht, daß sie keine Erwiderung fanden, sie waren es nicht anders gewöhnt. Als das Gebet gesprochen und die Stube wieder leer war, erhob sich Stasi und langte, sich mühsam vorbeugend, nach dem Fenstersims, wo die große Hausbibel lag.
„Was willst denn?“ fragte der Vater, der sich eilfertig erhob. „Bleib’ doch lieber sitzen und sag’s, wenn Du was willst! Ich helf’ Dir ja gern und trag’ Dir’s herbei!“
„Du willst mir helfen?“ lachte Stasi, aber diesmal klang ihr Lachen fröhlich und frei. „Du brauchst ja selber einen Helfer! O mein Vater, wir sind ein schön’s Paar Leut’! Ich hab’ aber schon, was ich gewollt hab’ – das Buch hab’ ich mir geholt und will Dir was vorlesen d’raus.“
„Vor –?“ sagte der Bauer, der nicht mehr herausbrachte vor Verwunderung und Betrübniß; denn mit jedem Zeichen geänderten Sinnes stieg auch seine Besorgniß wegen ihrer Gesundheit wieder in ihm auf. Sie hatte das Buch bereits ergriffen und darin zu blättern begonnen.
„Was soll ich denn lesen?“ sagte sie. „Aha! Da liegt die Nasenbrill’n; das wird wohl ein Merksel sein, wo der Vater zuletzt stehn geblieb’n ist.“ Ohne weiter nachzusehen, begann sie zu lesen; es war die Geschichte von Vasthi, der stolzen Königin, und von ihrer Verstoßung durch König Ahasver. Stasi las die ersten Sätze mit wohlklingender Stimme, doch in dem geschraubten singenden Tone, den man in den Landschulen häufig als unerläßliche Beigabe eines schönen Vortrags findet; aber bald schien ihr das Lesen nicht mehr zu behagen, und als es dazu kam, daß die stolze Vasthi wirklich verstoßen werden sollte, brach sie plötzlich ab, klappte das Buch zu und rief: „Es geht nit, Vater – es greift mir die Augen an. Ich mag auch die alten G’schichten nit lesen, die ich schon hundertmal in der Schul’ gehört hab’.“
„So laß Dir ein ander’s Lesen kommen!“ sagte eifrig der Bauer. „Schick’ zum Schullehrer hinüber, der hat allerhand Bücher! Schick’ um den boarischen Hiesel! Weißt, das ist ein Wildschütz’ gewesen, der die Kugeln in seinem Hut aufg’fangen hat, der niemals einen Punkten g’fehlt und die Cithern so gut g’schlag’n hat wie gar kein Anderer.“
In Stasi’s Gedanken mochte eine naheliegende Aehnlichkeit auftauchen; denn sie unterbrach den Vater abwehrend und rief: „Von einem solchen G’sellen will ich auch nix wissen – ich werd’ schon sehn, daß mir der Herr Pfarrer was zum Lesen giebt, wenn ich was will – derweil aber will ich mir der Mahm ihre Nähterei hersuchen.“
„Kreuzbirnbaum und Hollerstaud’n!“ sagte der Bauer, in welchem augenblicklich die Besorgniß vom Vergnügen überwältigt wurde. „Deandl, wie red’st Du daher? Du bist ja auf einmal völlig ein andres Leut’ worden … was ist mit Dir auf der Alm passirt? Ich hab’s schon oft gehört, es giebt allerhand Zauberei und Hexerei droben – hat Dir wer was angethan? Bist vielleicht auf eine Irrwurz’n treten?“
So freundlich Stasi’s Angesicht eben dem Alten zugelächelt, ebenso grimmig funkelte es ihm plötzlich aus ihren Augen entgegen; sie warf die Näharbeit, die sie an sich gezogen hatte, mitten in die Stube, daß die Knäuel herumflogen und die Scheere im Fußboden stecken blieb, und eilte dann, so gut es mit ihrem beschädigten Fuße anging, in die Kammer. Der Vater wollte ihr nach; aber er holte sie erst ein, als sie schon hinter sich die Thür zuschlug und klirrend den Riegel vorschob; und so oft er auch an der Thür pochte, so freundlich er auch bat, doch wieder herauszukommen, es erfolgte keine Antwort; das bloße Wort „Irrwurz’n“ hatte an ein verwandtes Wort erinnert und den alten Sturm im Gemüthe des Mädchens in alter Heftigkeit aufgewühlt. Sich bedenklich hinter den Ohren krauend, hinkte der Alte zurück und brummte: „Da kennt sich bald Niemand mehr aus – jetzt möcht’ ich schon bald glauben, das Madel ist nit krank, sondern hat den bösen Feind in sich.“
Tage vergingen so und reihten sich unter ähnlichen Auftritten zu Wochen. Sie glichen einander, helles Wetter wechselte mit Stürmen, nur mit dem Unterschiede, daß letztere immer mehr an Heftigkeit abnahmen. Die Heilung des verrenkten Fußes schritt dabei langsam, aber sicher fort, und nach nicht sehr langer Zeit wanderte Stasi wieder im Hause und vor demselben hin und her, als ob nichts vorgefallen wäre. Wer sie sah, bemerkte kaum eine Veränderung an ihr; nur die Hausgenossen steckten die Köpfe zusammen und wunderten sich, daß sie, während sie sonst so rasch gegangen, als ob ihr der Boden unter den Füßen brennte, nun so bedächtig und wie nachdenklich einhergehe, und daß sie, die oft den ganzen Tag ihre Stimme hatte erschallen lassen, jetzt oft stundenlang den Mund nicht aufthat zu einem armseligen Wörtchen, daß sie immerwährend „um’s Kennen“ an der Frische ihrer Farbe verlor. Dabei war sie förmlich leutscheu geworden; wenn es nicht ganz und gar unvermeidlich war, bekam Niemand von den Nachbarn oder Vorübergehenden sie zu Gesicht, und galt es, Sonntags zur Kirche zu gehen, so hatte sie immer eine oder die andere Ausflucht, um sich davon loszumachen; sie vermochte noch nicht, den Leuten zu begegnen; sie wollte die Orte nicht sehen, die sie an die Stunden erinnerten, die für ihr ganzes Leben von so ernsten Folgen geworden. Am liebsten saß sie an der Langseite des Hauses, der Brettenwand gegenüber, an deren jenseitigem Abhange die Brettenalm lag; wenn das Gestein in der Abendsonne erglänzte, konnte sie stundenlang auf der Bank sitzen und starrte regungslos in das [211] Glühen und allmähliche Erlöschen hinauf, unzugänglich für jedes Gespräch, für alles Zureden unempfänglich. Der Vater hatte mehrmals versucht, etwas aus ihr herauszubringen, was zur Aufklärung ihres veränderten Benehmens dienen konnte: er hatte den Pfarrer in’s Haus gerufen, daß er sie ausforsche, hatte unter einem Vorwande den Bader kommen lassen – aber Stasi hatte Niemandem Rede gestanden, und die Meinung Aller ging übereinstimmend dahin, daß sie an einem geheimen Uebel leide, das als Gemüthskrankheit sich unheilbar in ihr festzusetzen drohe.
„Das kennt man,“ sagte der Bader, indem er mit wichtiger Miene auf seine Dose klopfte. „Hab’ den Fall in meiner Praxis schon öfter gehabt. Die Leber hat sich mit der Milz verfeindet; davon kommen die Wallungen in der Lunge, Melankolei nennt man das, die eingetheilt wird in eine graue und eine schwarze. Noch ist es die graue, aber wenn nicht bald geholfen wird, kann’s wohl g’schehn, daß es die Kopfnerven angreift und die schwarze Melankolei sich dazu schlagt.“
Eines Abends trat der Vater, zum Ausgehen bereit, vor das Haus; auch sein Uebel hatte sich gemindert, daß er wieder im Stande war, ohne Ermüdung den Gang in das Dorf zu unternehmen: er hatte dort ein Geschäft zu besorgen und blieb verwundert stehen, als er Stasi wieder bemerkte, auf der Bank sitzend, vom Glanz des Abendroths beschienen, den Kopf an die Wand zurückgelehnt und die Augen geschlossen, wie Jemand, der eine innere Gedankenwelt beschaut und in dieser Betrachtung durch kein äußeres Bild gestört sein will. „Sie ist wirklich schon ganz traumhapig!“ sagte er vor sich hin. „Ich werd’ mich schon nochmal auf’n Weg zum Bader machen müssen; er muß ihr was eingeben, daß die Feindschaft von der Leber und von der Milz wieder aufhört – so kann’s auf keinen Fall fortgehn! – Sag’ mir nur ’mal, Stasi,“ rief er dann laut, „was Du hast! Schlafst vielleicht gar am hellichten Tag? Kreuz-Birnbaum und Hollerstaud’n, Madel – es ist mir wohl recht, daß Du nimmer gar so rasch und schneidig bist, wie früher – aber desweg’n brauchst doch nit gar so leimig z’sein! Da wollt’ ich am End’ noch lieber hör’n, wenn Du im Haus herumschelten und die Schüsseln durcheinander werfen thät’st, als daß Du so dasitz’st wie Ein’s, das keinen gesunden Tropfen Blut mehr in die Adern hot – was hast denn? Thut Dir was weh? Soll ich einen Doctor hol’n?“
„Zu was? Ich bin nit krank,“ sagte Stasi lachend, mit Augen, in denen die Bestätigung dieser Worte glänzte.
„Wenn Du nit krank bist, was fehlt Dir nachher sunst?“
„Mir fehlt auch nix, Vater – ich hab’ Alles, was ich nur verlang’! Hat der Vater was auszustellen an mir? Bin ich etwa nit richtig – thu’ ich die Arbeit nit, wie sich’s gehört?“
„Du arbeitest für Zwei,“ antwortete der Bauer. „Du arbeitest mir schier gar zu viel – das braucht’s nit, und das macht’s auch nit allein aus – der Mensch muß auch sonst rigelsam sein und eine Freud’ an ’was haben. Sag’ mir wenigstens, mit was ich Dir eine Freud’ machen kann! Geh’ mit ’nunter in’s Dorf … es ist oft allerhand Gesellschaft drunten – vielleicht zerstreut’s Dir Deine Gedanken und Du unterhaltst Dich dabei.“
„Ich mag nit, Vater,“ sagte sie und schüttelte den Kopf. „Ich bin am liebsten allein – die Leut’ im Dorf sind mir alle zuwider.“
„Na meinetwegen, wenn Dir die Leut’ im Dorf zuwider sind, so gehn wir fort, machen wir eine Reis’. Ich spann’s Wagerl an – fahren wir ’nüber auf den heiligen Berg nach Andechs, oder nach Mittenwald in’s Tirol hinüber und machen wir eine Wallfahrt nach Ettal oder kutschiren wir gar in die Münchnerstadt hinein … Du darfst es ja nur sagen; hast ja’s Aussuchen.“
„Ich will das Alles nit, Vater,“ sagte sie in unwilligem Tone. „Ich hab’ nirgends eine Freud’.“
Der Bauer, der sich neben ihr auf die Bank gesetzt hatte, sprang auf; er hatte ebenfalls eine unwillige Erwiderung auf der Zunge; aber er schluckte sie hinunter und wandte sich ohne weitern Gruß und Abschied dem Wege in’s Dorf zu.
Stasi beachtete seine Entfernung nicht; sie war in ihre vorige Stellung zurückgesunken und regte sich nicht, selbst als in ihrer Nähe neues Geräusch hörbar wurde – erst das völlige Näherkommen von Fußtritten weckte sie aus ihrer Träumerei. Vor ihr stand ein wandernder Tabuletkrämer, der goldene Ringe, silberne Häckchen und anderes kleines Geschmeide in die einsamen und abgelegenen Bergdörfer hausiren trug und klug die weibliche Freude an Putz und Schmuck auszubeuten wußte, die überall verbreitet und überall dieselbe ist wie grünes Gras. Im ersten Augenblicke wollte Stasi unwillig den Störer zurückweisen; dann ließ sie ihn doch näher treten und hinderte ihn nicht, seinen Kram auszulegen; sie hatte sonst wohl Freude an solchen blinkenden Sächelchen gehabt, die alte Neigung regte sich um so mehr, als der Händler in der Gegend fremd war, und sie konnte also wohl mit ihm sprechen, ohne Besorgniß, durch irgend etwas an der Stelle berührt zu werden, wo ihre geheime Wunde saß. Bald waren ein paar Kleinigkeiten gefunden, die ihr behagten, die angeregte heitere Stimmung, in die sie dadurch versetzt war, ließ sie nicht allzu sehr markten, und der erfreute Händler hatte hinwider nichts Besseres zu thun, als seine Waaren auf’ Gesprächigste herauszustreichen und die reiche Bauerntochter durch allerlei Scherzreden und Erzählungen zu noch andern Käufen zu reizen.
„Da hab’ ich noch etwas ganz Besonderes,“ sagte er, „ein goldenes Medaillon, mit einem Deckel! Das feinste, vierundzwanzigkrätige Gold, aus dem die Kremnitzer Dukaten geschlagen werden, und oben ist’s von purem Krystall, daß man durchsieht, wie durch ein Fenster, was drinnen liegt; hat auch ein Oehr, daß man es anhängen und um den Hals tragen kann. So eine schöne Jungfer wird gewiß etwas haben, was sie drinnen aufheben kann, – ein Löckchen von ihrem Schatz oder ein Blümchen, das er ihr verehrt hat, oder einen vierblätt’rigen Klee, den sie mit ihm gefunden hat …“ Der Mann war so in Zug gerathen, daß er nicht gewahrte, wie Stasi über und über erröthete, und in seiner Anpreisung unermüdet fortfuhr. „Kauf’ die Jungfer die Medaille doch – ich hab’ nur noch die einzige, und weil Sie so eine schöne Jungfer ist, geb’ ich sie Ihr wohlfeil; Sie soll sie um fünf Gulden haben; kostet mich selbst wahrhaftig mehr – die Zweite, den Cameraden dazu, hab’ ich erst heut’ in Lenggries verkauft.“
Stasi hielt das kleine Goldgehäuse, das ihr nicht mißfiel, prüfend in der Hand; ohne eigentlichen Zweck, nur um etwas zu erwidern, fragte sie, wer wohl das andre gekauft habe.
„Wer das andre gekauft hat?“ rief der Händler lachend. „Ja, das hat einen sonderbaren Herrn gefunden; das hat mir nicht ein Mädel abgekauft, sondern ein Mannsbild, ein Bursch. Die Jungfer wird wissen, daß heut’ ein großes Scheibenschießen ist draußen in Lenggries; da ist Musik und Tanz, das kracht und schmettert durcheinander, daß Einem Hören und Sehen vergeht. Die jungen Burschen üben sich ein zu dem großen Schießen, das dem König gegeben wird. Und wie ich so dastand mitten unter dem Gedränge und das Medaillon gerade einigen Mädchen zeigte, trat einer von den Schützen, ein bildhübscher Mensch, gewachsen wie ein Tannenbaum, aus dem Schießstand heraus, wo er eben einen Punkt geschossen hatte, und stellte die rauchende Büchse an den Ständer. ‚Halt!‘ rief er, als er die Medaille sah, und riß sie mir aus der Hand. ‚Was kost’t das Ding? Das lass’ ich nimmer aus; das muß mein gehören, das kann ich gerade brauchen!‘ Ich fand das ganz natürlich, machte einen guten Preis und dachte, der Bursch werde wohl ein Mädel haben, für das er den Schmuck kaufe, aber ich hatte mich geirrt – er hat ihn für sich selbst gekauft. An seinem Rock im Knopfloch hatte er etwas hängen wie einen Orden oder wie eine Denkmünze, wie die Soldaten sie aus dem Kriege heimbringen; die nahm er herunter, legte sie in die Medaille und hing sie dann um den Hals! Und was war’s, was er hinein legte? Rathet einmal – aber Ihr kommt nicht darauf und wenn Ihr ein Jahr lang fort rathen würdet, denn es könnte Einem im Traum nicht närrischer einfallen! Ein schlechter, abgegriffener alter Sechser war’s, der in der goldenen Kapsel und unter dem Krystalldeckel aussah, als wenn man einem Bettelmann einen Königsmantel umgehängt hätte …“
„Es ist schon gut – ich b’halt’ die Medalli,“ sagte Stasi, die abgewendet stand und bei der Erzählung so oft die Farbe gewechselt, als ob sie im Fieber liege. „Geht nur in’s Haus voran! Ich komm’ gleich nach und geb’ Euch das Geld.“
Der Händler packte eiligst seinen Kram zusammen; in seiner Freude beachtete er Stasi’s Erschütterung nicht und fuhr lachend in der Erzählung fort. „Muß ein närrischer Bursch sein,“ rief er. „Ich hab’ gefragt, wer er ist: nur ein armer Holzknecht, hat’s geheißen, aber Alle haben gesagt, er wär’ der beste Schütz’ und der beste Citherschläger und der bravste Bursch in der ganzen Gegend. Sie haben ihn auch zu ihrem Hauptmann gewählt, mit dem sie zum Schießen nach München marschiren wollen.“
[212] Die Base, welche herbeikommend die letzten Reden gehört und das Uebrige errathen hatte, sorgte, daß der Hausirer in’s Haus kam und dort erhielt, was ihm gehörte. Es dauerte lange, bis Stasi nachkam und sich, wie draußen, in der Stube auf die Bank setzte, lautlos und regungslos wie zuvor. Die Hälfte des Jahres war bereits längst überschritten. Längst hatten die Sonnwendfeuer von den Bergen geleuchtet; in der Ebene ging der Wind bereits über die Stoppeln der Kornfelder, der ermüdete Sommer eilte jeden Tag früher zur Ruhe. Eine der höchsten Bergkuppen, die am Abend noch im grauen Felsenrocke geprangt, hatte über Nacht einen Schneemantel umgeschlagen; im Thale begannen die Blätter der Kirschbäume zu vergilben, während an den Berghängen sich das nachdunkelnde Schwarz der Tannen mit dem Roth der Buchen- und Ahornkronen mischte. Der Herbst war gekommen. Es war beinahe völlig finster, als Stasi in die Stube trat; sie zündete aber die Lampe mit dem matten Oeldocht nicht an, sondern schaute durch das Fenster in die Nacht hinaus, das, noch geöffnet, mit der Nachtkühle die verhallenden Klänge des Abendläutens hereindringen ließ.
Der heimkehrende Vater fand sie so. Er staunte nicht weniger darüber, wie er sie fand, als, mit welch sonderbarem Verlangen sie ihn empfing.
„Ich hab’ mit dem Vater was zu red’n,“ sagte sie, indem sie nun die Lampe anzündete und sich anschickte, in ihre Schlafkammer zu gehen. „Ich hab’ eine Bitt’ an den Vater.“
Dem Alten wurde das Herz weich von dem bloßen Tone, in dem sie das sprach, er gewährte die Bitte, noch ehe sie ausgesprochen war. „Was willst denn, Dirndl?“ rief er. „So red’! Ist’s etwas, was Dich wieder gesund machen kann?“
„Ja,“, sagte Stasi mit Nachdruck, „das Einzige, was mich wieder machen kann wie eh’vor.“
„No, das wär’ just nit g’rad’ nöthig,“ erwiderte der Vater kopfschüttelnd. „Aber meinetweg’n, wenn’s nit anders sein kann, ’raus mit der Farb’!“
„Der Vater weiß, was mir g’scheh’n ist,“ sagte sie und hielt die Hand an den Docht, als wenn sie ihn aufstören wollte, so daß ihr Gesicht vollständig im Schatten war, „selbige Mal am Ostertag, was mir für eine Schand’ angethan worden ist mit dem Spitznam’.“
„Freilich weiß ich’s,“ sagte der Bauer wild. „Ich weiß auch, wer’s gewesen ist, und hab’ mich schon oft abgestudirt d’rüber, was ich ihm anthun soll – der Nam’ g’hört Dir auch gar nimmer; es sagen’s alle Leut’ im Haus, und die Nachbarn auch; Du bist gar nimmer die –“
„Nix soll ihm der Vater anthun!“ unterbrach ihn Stasi rasch, um das verhaßte Wort nicht aussprechen zu hören, das er auf der Zunge hatte. „Derselbige – der Vater weiß schon, wen ich mein’ – hat den Sechser, den ich ihm damals ’geben hab’, an ein Bandl gefaßt, und jetzt hat er sich gar ein goldnes Gehäus dazu gekauft, und wenn’s auch so wär’ wie der Vater meint, wenn ich den Namen nimmer verdien’, so kann ich ihn doch nit los werden, so lang’ der Bursch den Sechser umhängen hat und damit herumgeht vor aller Welt.“
„No, jetzt weißt,“ entgegnete der Vater, „dasselbige begreif’ ich justament nit! Was geht Dich und mich ein solcher Nothnickel, ein armseliger Holzknecht an? Wenn nur wir wissen, wie die Sach’ ist, und die andern Leut’ in der Jachenau.“
„Na, Vater, das ist nit so,“ rief Stasi eifrig. „Da versteht der Vater nit, und kurz und gut – wenn der Vater haben will, daß’s wieder werden soll wie früher, und wenn ich nit d’rüber zu Grund’ geh’n soll, so geh’ der Vater und schau’, daß ich den Sechser wieder krieg’ – eher hab’ ich keine ruhige Stund’ mehr und kein’ gesunden Augenblick.“
Unter mühsam verhaltenem Schluchzen verschwand sie in der Kammer. Der Bauer sah ihr bedächtig nach; dann nahm er der Schwester, die eben durch die Stube ging, das Licht ab und sagte: „Sag’ dem Knecht, er soll das Wagel schmier’n und den Rappen in aller Früh füttern; ich will morgen nach Lenggries hineinfahren. – Da ist ein Schießen – hab’ heut’ so viel davon erzählen hören, will mir auch einmal einen guten Tag aufthun.“
Es dämmerte kaum, als es am andern Tage vor dem Kurzenhofe schon laut wurde. Stasi, die die Nacht über wenig geschlafen, hörte durch den leichten Morgenschlummer, der sie endlich in die Arme genommen, wie der Knecht das Scheunenthor öffnete, das Wägelchen herausschob, und wie bald darauf das leichte Gespann gegen den Abhang dahinrollte. Es stieg ihr heiß in die Wangen, wenn ihr einfiel, wohin das Fuhrwerk seinen Weg nahm, und es überfröstelte sie wieder, wenn sie bedachte, mit welchem Bescheid es vielleicht zurückkommen würde – diese Gedanken streiften wie böse Kobolde das letzte Mohnkörnlein aus ihren Augen, daß sie so klar wurden, als wären sie, um mit dem Volke zu reden, mit dem Besen ausgekehrt. Statt des Schlummers stellten sich aber bald andere Gäste in ihren Augen ein, Gäste, die in letzterer Zeit so häufig dort eingekehrt waren, daß sie beinahe anfingen, dort heimisch zu sein: es waren Thränen, deren sie sich nicht zu erwehren vermochte, und die sie mit dem Gesichte tief in das Kissen vergrub. Die Base lag ja in der Stube nebenan; sie durfte um Alles in der Welt nichts hören, wenn etwa wider Willen ein Seufzer zum Verräther ihrer geheimen Gedanken oder Gefühle geworden wäre. Die Base hörte aber doch, was vorging, und ihr gutes Herz ließ sie nicht ruhig zuhören; leise huschte sie vom Lager, schlüpfte in’s Gewand und setzte sich geräuschlos an Stasi’s Bett, daß das Mädchen erschrocken auffuhr, als die Base ihre auf der Decke ruhende Hand ergriff. „Nun, erschrick nur nit!“ sagte sie halblaut. „Bleib’ ruhig liegen, aber red’! Schau, jetzt sind wir Zwei allein; kein Mensch hört uns. – Jetzt sag’, was es denn mit Dir ist! Meinst, ich hab’s nit g’hört, wie Du Dich die ganze Nacht herumgeworfen hast? Es schlafen nit alle Leut’, die die Augen zuhaben. Meinst, ich hab’s nit gehört, wie Du in Dein’ Polster hineinflennst? Geh’, Stasi,“ fuhr sie noch herzlicher fort, als diese noch immer schwieg, aber ihr schmerzliches Schluchzen nicht mehr zu unterdrücken suchte, „Du weißt, wie gut ich’s mit[WS 1] Dir mein’ – Du bist jetzt doch schon einmal im Anderswerden drinn’, bist nimmer so schief’rig und so z’wider wie sonst; warum willst gerad’ in der Sach’ so versteint und verbeint sein? Du hast was auf’m Herzen, ich lass’ mir’s nit nehmen – also sag’ mir’s! Ich versteh’ mich d’rauf und kann Dir vielleicht ein’ guten Rath geben! Sag’, ist Dir was gescheh’n? Wann und wo und wer hat Dir was gethan?“
[238] Für Stasi war die Stunde gekommen, wo ihr Herz, von den lange verschluckten Thränen erweicht, völlig zerging; sie wandte sich im Bette der Base zu, legte ihr den Kopf an die Brust und schlang die Arme um ihren Hals, als wolle sie nicht gesehen werden bei dem, was zu sagen sie bitter mit sich rang. Das war aber unnöthig; die Fensterläden der Kammer waren geschlossen und verursachten so vollständige Dunkelheit, daß selbst der steigende Morgen nicht einzudringen vermochte, und eben dieses Dunkel war es wieder, was die Bekennende ermuthigte. Der alten Base aber ging, als das Mädchen so ganz in Liebe hingegeben und in Schmerz aufgelöst an ihre Brust sank, ein Freudenfeuer in der Seele auf, bei dessen Schein sie sich selbst und ihr armes, einsames Leben kaum wiedererkannte – Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart flossen ineinander wie die Linien einer schönen, nach langem Sturm vom Abendroth beschienenen Landschaft. Die Augen, die das Naßwerden lange vergessen hatten, gingen über, als Stasi erzählte, wie es ihr gerade so ergangen wie der Base, und daß sie, als diese kaum von der Brettenalm fortgewesen, gleich ihr auf der Schwelle der Almhütte einen Buschen von Edelweiß gefunden. Zögernder löste sich die Erzählung von den Lippen des Mädchens, als sie zu der Begegnung mit ihrem Feinde kam, zu der Trennung von ihm und der nur gesteigerten Feindseligkeit zwischen Beiden; sie stockte immer mehr, als es galt, zu berichten, was dann geschehen: die Entrüstung der ersten Stunden, das ruhigere Ueberlegen der darauffolgenden, das Aufwallen und Niedersinken der Gefühle, bis aus ihm ein Entschluß aufgetaucht, den sie selbst nicht zu begreifen vermochte – der Entschluß, den weggeworfenen Blumenbusch um jeden Preis zu besitzen. Sie hatte eine neue Kränkung darin gefunden, daß Martl den Strauß, nachdem er ihn einmal gebracht, wieder zu sich genommen und weggeworfen hatte; wenn sie ihn auch bei Seite gelegt, so war es ja doch noch immer bei ihr gestanden, ob sie das Geschenk annehmen oder zurückweisen wolle, und er mußte immerhin abwarten, ob sie sich nicht noch anders besinnen würde. Es war ihr zuletzt vollkommen klar geworden, daß der Busch mit vollem Rechte ihr gehörte; darum mußte und wollte sie ihn auch besitzen. Behutsam über das Geländer gebeugt, sah sie zuerst in den tosenden Sturzbach hinab; aber von den Blumen war nirgend eine Spur zu entdecken. Bald umging sie das Geländer, um den steilen Hang neben der Schlucht hinunterzuklettern, und siehe da, sie war noch nicht sehr weit gekommen, als sie wenigstens einen Theil dessen, was sie suchte, gewahr wurde. Der Busch hatte sich im Fallen aufgelöst, die meisten Blumen waren in’s Wasser gefallen und mit ihm in die Tiefe gestürzt; aber einige der schönsten Sterne hatte ein glückliches Ungefähr seitwärts auf ein Felsstück geschleudert, wo sie nun zierlich und frisch im Moose lagen, von dem stäubenden Wasserfalle besprüht, als hingen Thränen daran über die Verachtung und Mißhandlung, die ihnen zu Theil geworden. Es war eine bedenkliche Stelle, an der die Blumen lagen, und es gehörte ein wohlgeübter Kletterer dazu, um dahin zu gelangen; ein einziger unsicherer Tritt konnte zum Sturze in das Wasser oder über den nicht minder steilen Felsabhang werden. Langsam und vorsichtig schritt sie auf der gefährlichen Bahn dahin; die überhängende Wurzel eines umgehauenen Tannenstammes, die noch in der Wand steckte, bot ihr die einzige Stütze; während sie mit einer Hand sich daran anklammerte, vermochte sie die andere nach dem Felsstück mit den Blumen auszustrecken, schon war sie nahe daran, schon hatte sie, weit vorgebeugt, die Blumenstengel erreicht und ergriffen – als knackend die morsche Tannenwurzel brach, der sie vertraut hatte, und sie haltlos ein ansehnliches Stück des steilen Abhanges hinunter glitt oder stürzte; ohne einen Busch schützender Latschen, die sie im Fallen aufhielten und ihr Gelegenheit boten, sich anzuhalten und aufzuraffen, wäre der Ausgang wohl ein schlimmer geworden und die Tiefen der Felsschlucht hätten all’ ihrem Grimm und Gram auf einmal ein Ende gemacht.
Die Base erwiderte nicht viel auf Stasi’s Erzählung; sie unterbrach sie nur hier und da mit einem Ausruf der Verwunderung, einem Laute der Theilnahme; als sie geendet, blieben Beide eine Weile still. Dann legte die Alte Stasi’s Hand, die sie in der ihren gehalten, auf’s Bett zurück und erhob sich; es war Zeit, nach den Dienstboten und der Arbeit in Haus und Stall zu sehen; denn im Leben des Bauern hat das eigene Erlebniß nur den zweiten Rang: ob die Arbeit mit fröhlichem oder blutendem Herzen geschieht, ist gleich, aber geschehen muß sie unerbittlich in derselben Art und zu der nämlichen Stunde. „Es ist Tag, Stasi, ich muß fort,“ sagte sie dazu. „B’hüt’ Dich Gott! Ich will’s überlegen und in mir verkochen, was ich jetzt erfahr’n hab’; dann will ich Dir meine Meinung sagen – jetzt weiß ich freilich, wie viel’s bei Dir g’schlag’n hat, besser als Du selber. Wenn ich Dir helfen kann, thu’ ich’s gern; wie man aber helfen soll, das weiß ich noch nit – sei aber darum noch nit verzagt! Es geht oft ein End’ her, wo man’s am wenigsten enttraut. … Aber – aber,“ schloß sie im Fortgehen, „eine böse G’schicht’ ist’s und bleibt’s allemal; wirst einen harten Stand haben; ich sorg’ – ich sorg’ alleweil’, es geht auf’m Kurzenhof, wie’s schon einmal ’gangen hat.“ Sie entfernte sich. Den Tag über trafen sich Beide nicht mehr; Stasi schien eine Begegnung zu vermeiden, die Base suchte sie nicht. Beider Herz war zum Ueberquellen voll; aber nachdem die eine Mittheilung stattgefunden, hatte Jede mit [239] den eigenen Gedanken und Empfindungen so viel zu thun, daß sie ein Gespräch darüber wie eine Störung fürchtete.
Zehnmal hatte Stasi sich am Fenster zu schaffen gemacht oder war unter die Thüre getreten, wie wenn sie nach dem Wetter aufsehen wollte, obwohl der Himmel so klar und heiter blaute, daß auf lange Zeit hinaus ein Umschlag nicht zu befürchten war. Endlich rollte das ersehnte Fuhrwerk aus dem Gebüsche beim Kramerhause hervor. Stasi sah es vom Fenster aus und konnte nicht begreifen, warum es gar so langsam damit vorwärts ging; wie eine Schnecke kroch das Wägelchen den Hang herauf; es schien ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis es vor der Thür hielt, und der Vater, dem Knechte Zügel und Peitsche zuwerfend, von demselben herunterstieg. Die Schwester empfing den Ankommenden, dessen geröthetes Angesicht verrieth, daß er beim Scheibenschießen auch nicht müßig gewesen und sich statt mit der Büchse tüchtig mit Krug oder Flasche zu schaffen gemacht hatte. Er hatte jenen Grad künstlicher Heiterkeit erklommen, bei welchem die Herrschaft über Gedanken und Glieder zwar noch nicht verloren, der Zügel Beider aber locker geworden, und das Gespann im Begriffe ist, durchgehend dem Zurufe des Lenkers nicht mehr zu gehorchen. Stasi vermochte nicht, ihm entgegenzugehen; so sehr sie den Tag über sich nach dem Augenblicke gesehnt hatte, der die Entscheidung bringen mußte, von der ihr weiteres Thun und Lassen abhing, fühlte sie sich doch im Momente selbst von einem unerklärlichen Bangen erfaßt und suchte die Entscheidung noch um eines Pulsschlags Dauer zu verzögern. Sie sollte indeß so bald nicht erfahren, was sie wissen wollte; denn der Vater war so sehr mit den Erinnerungen an die genossenen Freuden beschäftigt, daß er vor Lachen und Plaudern nicht dazu kam, das Erlebte zusammenhängend zu erzählen. „Schön ist’s gewesen,“ rief er und schlug auf den Tisch, daß die Stube dröhnte. „Die Musikanten haben aufgerebellt, daß es nur so gehallt hat! Kaum haben s’ einen Punktschützen angeblasen gehabt, hat schon wieder ein Anderer die Maschin’ aufgeweckt; das Burschet (die Burschenschaft) hat geschossen, daß ’s eine wahre Freud’ ist! Kreuzbirnbaum und Hollerstaud’n – heut’ wann’s den Tirolern wieder einfallen thät’, zu uns hereinzukommen, die thäten sich wundern, wie wir ihnen auf’n Pelz brennen wollten! Die Zieler und die Böller und die Musikanten sind den ganzen Tag nicht zur Ruh’ ’kommen – kannst Dich’s reuen lassen, Stasi, daß Du nit mitgegangen bist – Du hätt’st Dich gewiß auch gut unterhalten.“
„Das glaub’ ich nit,“ sagte Stasi. „Ich kann das Gepulver und Geknall nit leiden. Hat’s denn sonst nix Merkwürdig’s ’geben?“ setzte sie mit Betonung hinzu, um den Vater auf den Punkt zu lenken, den er wie absichtlich zu übergehen schien.
„O, noch genug hat’s ’geben,“ rief der Vater wieder. „Laßt mich nur erst in’s Erzählen recht ’neinkommen! An dem Einen End’, da haben die Kramer ihre Stand’ln aufgeschlagen gehabt, am andern End’ war der Bräu von Hohenburg mit seiner Schenk’, und zu’gangen ist’s wie auf’m Kirta! Da haben’s Cithern geschlag’n und gesungen – die allerschönsten Gesangeln und Schnaderhüpfln, – ’s Herz im Leib hat mir mitgehupft, daß ich hätt’ juchez’n mög’n wie ein achtzehnjähriger Bursch. Besonders ein Schnaderhüpfl hat mir gar so gut gefallen – wart’ nur, wie heißt es denn gleich … ich werd’s wohl nit vergessen haben …“ Er fing zu singen an, brachte aber immer nur die ersten Zeilen des Liedes heraus:
„Ueber’n Baum, unter’n Baum
’S Eichkatzl springt,
Und jetz’ und jetz’ …
Kreuzbirnbaum, jetzt weiß ich richtig nimmer weiter! Gerade das Schönste, die Hauptsach’ fallt mir nimmer ein … Unter’n Baum, über’n Baum …“
„Ah mein, Vater,“ rief Stasi ärgerlich dazwischen, „das sind Dummheiten! Wenn das die ganze Schönheit gewesen ist –“
„Das verstehst Du nit,“ sagte der Bauer, noch immer nachsinnend und halblaut summend: „Ueber’n Baum, untern’ Baum –“
Stasi aber griff unwillig nach dem Licht, um zu Bette zu gehen. „Ich seh’ schon,“ sagte sie, „heut’ ist nix mehr zu reden mit’m Vater … ich will morgen fragen, wenn er ausgeschlafen hat. Gute Nacht!“
„Halt – da bleiben!“ rief der Bauer, indem er sie am Arme hielt. „Jetzt hab’ ich’s, jetzt ist es mir auf einmal eingefallen,“ und nun sang er mit voller Stimme, daß die Scheiben klirrten:
„Ueber’n Baum, unter’n Baum
’S Eichkatzl springt,
Sucht sich ein’ and’re Nuß,
Wenn’s die ein’ nit aufbringt.
Bleib’ nur da!“ fuhr er fort, das widerstrebende Mädchen noch immer festhaltend. „Ist das G’sangl nit eins von den ganz ausgestochenen? Und dann hat’s noch das Gute – das Schnaderhüpfl gemahnt mich jetzt erst d’ran, wegen was für einer Nuß ich eigentlich nach Länggries gegangen bin.“
„So?“ entgegnete das Mädchen anscheinend gleichgültig. „Ich hab’ schon geglaubt, der Vater hätt’ ganz d’rauf vergessen, oder hätt’ nit Zeit gefunden vor lauter Lustbarkeit …“
„Kreuz-Birnbaum, wär’ mir nit lieb, wenn mein eignes Fleisch und Blut so was von mir denken thät! Der Kurz am Berg hat noch allemal seine Sach’ ausgericht’t, wenn er sich um was angenommen hat. Das Schnaderhüpfl, mußt wissen, ist von demselbigen. No, Du wirst schon wissen, wen ich mein’ – von dem Gewissen halt, der sich so gut auf die allerhand Wurzen versteht, die in den Bergen herin wachsen. Er ist mitten unter den Burschen drinnen gesessen und hat Schnaderhüpfeln nur so daher gesungen, wie man die Birnen schüttelt, eins schneidiger und frischer, als das andere, und wie ich ihn recht anschau’ – richtig hat er um den Hals das Ding anhängen gehabt – Du weißt es schon.“
Stasi klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne. „Und wie ist’s damit?“ fragte sie halblaut. „Hat’s der Vater? Bringt er mir’s mit?“
„Na, dasselbige just nit,“ erwiderte der Bauer, indem er etwas verlegen über den kahlen Kopf fuhr. „Der Bursch ist ein gar bockbeiniger Ding – er könnt’ in Deine Freundschaft gehören. Ich wollt’ nit vor allen Leuten davon anfangen, drum bin ich ihm zu Gefallen ’gangen, und wie ich ihn so auf der Abseiten erwischt hab’, da hab’ ich g’rad herausgered’t, frisch von der Leber weg, er soll mir das Büchsel, das er anhängen hat, zum Kaufen geben, hab’ ich gesagt; es gefallt mir so gut. Zuerst hat’ er mich angeschaut nach der Seite, als wenn er mich nit kennen thät, und gar nit wüßte, von was die Red’ ist; nachher hat er gelacht und hat gesagt, das Büchsel gebet er nit her, es gefallt ihm selber grad’ so gut wie mir! Nachher hab’ ich wieder gesagt, ich wär’ halt ganz versessen auf das goldene Ding – er sollt’ mir’s doch ablassen, ich wollt’s gut zahlen, und wollt’ ihm hundert Gulden dafür geben. Er aber hat alleweil nur den Kopf geschüttelt und hat gelacht und mir seine Zähn’ gezeigt, wie ein Holzfuchs, der aus seinem Loch herausguckt! So gib ich Dir zweihundert, – dreihundert, ich gib Dir fünfhundert, hab’ ich gesagt, er aber hat sein Hüt’l geruckt und ist dabei blieben. ‚Und wann Du mir tausend Gulden gäbest, Kurzenbauer,‘ hat er gesagt, ‚so wär mir das Büchsel nit feil! Ich hab’ eine Verlöbniß gemacht, daß ich’s meiner Lebtag anhängen und tragen will, und daß ich’s keinem andern Menschen gib, als meinem Schatz – wenn ich einmal einen krieg.‘ Dabei hat er mich auf die Achsel aufgehaut und fort ist er gewesen und hat mich stehen lassen wie einen Maulaffen. Na, was ist denn aber mit Dir, Stasi?“ unterbrach er sich, „Du zitterst ja, als wannst umfallen wollt’st, Du bist käsweiß bis in den Mund hinein.“
„Ja, ich weiß nit, was es ist, aber es wird mir völli nit recht gut,“ sagte Stasi und wankte ihrer Kammer zu. „Laß mich der Vater nur! Es wird schon wieder vergehn – es vergeht ja Alles mit der Zeit.“
„Kreuzbirnbaum, jetzt wird mir die Geschicht’ dumm,“ sagte der Bauer, der wieder, wie so oft, das Nachsehen hatte und sich der danebenstehenden Schwester zuwandte. „Begreifst Du, was das Dirndl hat?“
„Ich schon,“ war die Antwort. „Ich will Dir auch sagen, wann Du’s hören willst.“
„Ah, da bin ich doch neugierig … Sie ist also nit krank?“
„Ein Fisch im Wasser ist nit gesünder – sie hat die Krankheit, die alle Mädeln in denen Jahren haben – es ist, wie ich Dir gestern schon gesagt hab’ … Sie ist verliebt.“
„Verliebt?“ rief unter lautem Lachen der Bauer. „Also hörst nit auf mit Deine Flausen? In wen sollt’ sie denn verliebt sein – da hätt’ ich doch auch was merken müssen!“
„Ja,“ sagte die Schwester, indem sie sein Lachen spöttisch erwidernd an ihn herantrat und ihn auf die Schulter klopfte, „Du [240] bist derselbige, mit dem man die Andern fangt – wenn man Dir mit dem Stadelthor winkt, merkst Du Alles!“
Sie ging, noch ein kleines Geschäft im Hause zu besorgen, und ließ den Alten mit sich und seinen Gedanken allein, die, wenn er es auch nicht eingestand, doch nicht mehr so recht in den alten Geleisen bleiben wollten und, von der Schwester angeregt, allerlei Kreuzsprünge machten. Er war nicht wenig verwundert, als einige Minuten später noch einmal die Thüre der Schlafkammer sich öffnete, und Stasi, wohl noch blaß, sonst aber wieder anscheinend völlig ruhig auf der Schwelle erschien. „Ich mein’ doch,“ sagte sie, „der Vater hat Recht gehabt neulich – es wird mir gut thun, wenn ich mich ein Bissel um eine Zerstreuung und Unterhaltung umschau’ … Richt’ sich der Vater darauf ein, auf’s Octoberfest will ich auch nach München hinauf.“ …
„Was, auf’s Octoberfest?“ rief der Bauer verwundert. „Und jetzt so auf einmal? Du bist doch über ein Wettermännl – bald aus dem Häusel, bald drinn. … Mir ist’s recht, ich mag mir die Gaudi selber gern anschaun … aber was Du so Besonderes dort suchen kannst, daß Du schier noch einmal vom Bett aufstehst, das begreif’ ich nit!“
„Ist auch nit nöthig, Vater,“ sagte Stasi, schon wieder an der Schwelle der Kammerthür. „Fragt nit lang’ und thut mir meinen Willen – es soll nachher das letztemal sein!“
[254]
Die ganze Jachenau hatte noch einmal ihr schönstglänzendes Festgewand angezogen, als das Schweizerwägelchen vom Kurzenhofe durch dieselbe dahinrollte. Obwohl Nachts schon Reif gefallen war und die geschorenen Halme gebräunt hatte, leuchteten die Matten und Hänge noch einmal auf mit einem Schimmer von Grün, als sollten eben die ersten Spitzen keimen, und als wären [255] die weißen Spinnweben, die der Herbst zum Zeichen seiner Ankunft an ihnen flattern ließ, nicht ein Wittwenschmuck, sondern ein Brautschleier, den die Erde zur Frühlingshochzeit angelegt. Der Himmel war so blau und die Luft so mild wie im Auswärts, und die beschneiten Bergrücken standen hell und sonnig, als hätten sie die Winterlast nicht eben erst auf sich genommen, sondern gingen schon wieder der Befreiung von ihr entgegen – es geschieht wohl öfter, daß ein Leben, das schon dem Ende zuneigt, sich noch einmal auf seine Jugend besinnt, und daß bei dem Gedanken noch ein letztes Mal Reiz und Schimmer der Jugend über die verwelkten Züge und den verblichenen Scheitel gleiten.
Auf dem Wägelchen saßen drei Personen, sämmtlich in Gott vergnügt, wie sie seit Monden nicht gewesen. Der Kurzenbauer ließ die Pferde traben und auftreten, als ob es gälte, noch in der nächsten Stunde das Ziel der Reise zu erreichen; hinter ihm, neben der Schwester, saß Stasi im schönsten Sonntagsstaat und in einer Stimmung, die nicht minder sonntäglich war, denn es geschah, woran Niemand seit langer Zeit sich zu erinnern vermochte – sie lachte hell auf und fing sogar halblaut zu singen an. Dem Alten ging das durch’s Gemüth, wie Schwalbenzwitschern im März, daß er nahe daran war, einzustimmen und mitzubrummen – er ließ es aber nicht merken, sondern lachte nur in sich hinein, denn darin irrte er sich gewiß nicht – die Weise, die sie sang, war ihm wohl bekannt – sie gehörte dem Schnaderhüpfel, das er neulich vom Schießen heimgebracht, und das ihr, so sehr sie auch anfangs darüber geschmäht, insgeheim doch gefallen haben mußte, denn das „Ueber’m Baum, unter’m Baum“ war mitunter ganz deutlich zu verstehen. Zum eigentlichen, hellen Singen kam es freilich nicht; immer nach den ersten Tönen war es, als ob der Sängerin etwas in die Kehle gekommen, was sie plötzlich verstummen machte. Die Base saß neben ihr und that, als habe sie nicht ausgeschlafen und müsse nickend den Morgenschlummer nachholen; dabei fand sie Gelegenheit genug, unter den Wimpern hervorzublinzeln und mit einem Blick auf das Antlitz der Nachbarin zu prüfen, ob die rothen Wangen, welche dort sichtbar zu werden anfingen, von der scharfen Morgenluft gefärbt oder von innen neu aufgegangene Rosen waren.
Stasi war unverkennbar aus dem langen ungewissen Schwanken zu einem Entschlusse gekommen – ein jeder Entschluß aber, und wäre sein erster Anblick noch so schmerzlich, hält hinter einer Maske immer das Antlitz eines Friedensengels verborgen.
So ging die Fahrt zwar meist schweigsam, dennoch aber fröhlich und rasch von statten, und der Abend dunkelte noch nicht völlig, als das leichte Wägelchen schon aus dem tannengrünen Hachinger Forst heraus gegen den Rand der Isarhöhen heranrollte, und vor seinen Insassen die Thürme von München emporstiegen, umlagert von Duft, Nebel und Qualm und überragt von den braunen Kuppelsäulen der Frauenkirche. Trotz der Dunkelheit war es noch lebendig in allen Gassen. Der Ruf der besonderen Pracht, mit welcher das Fest in diesem Jahre gefeiert werden sollte, hatte noch größere Volksmengen, als sonst, herbeigelockt, und auch das Wetter, das so spät im Jahre schon manchmal die Freude verdorben, verhieß, das Seine zum Gelingen des Festes beitragen zu wollen.
Die Erwartung wurde auch nicht getäuscht.
In tadelloser Schönheit lag am andern Morgen der Herbst auf der Festwiese, und lang vor Beginn des Festes war die sie umkränzende Hügelreihe schon Kopf an Kopf mit einem dichten Menschengewimmel besetzt, und noch strömte es über die Wiese heran von allen Seiten nach, als sei die ganze Stadt und das halbe Land auf der Wanderung, das seltene Schauspiel nicht zu versäumen.
Besonders lebhaft ging es auf dem Hügel selbst zu. Dort hatte, wie jedes Jahr, der Wirth von Thalkirchen seine Schenke aufgeschlagen, zwar nur aus rohen Brettern gezimmert und einer Scheune ähnlicher als einem Gasthause, dennoch aber fast immer von Gästen belagert, denn Meister Halbinger, der Wirth, ließ jedes Jahr seine Fässer in dem damals bierberühmten Tölz füllen, dessen Stoff selbst die damals noch unerreichte Münchener Bierbrauerei zu überflügeln drohte. Die feinsten Städter drängten sich, einen Krug an der Schenke zu erkämpfen, die kein anderes Abzeichen trug, als eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide „Tölzer Bier“ angeschrieben war, und darüber einen ausgestopften Raben, der auf die Schenke und das Gewühl davor spöttisch heruntersah, als sei es seine Aufgabe, die Fässer zu zählen und zu überwachen, die von Viertelstunde zu Viertelstunde schwerfällig herangewälzt wurden, um bald darnach spielend und hüpfend hinwegzukollern. Die größte Zahl von Gästen stellte aber doch das Oberland; denn Wirth Halbinger war aus dem schönen Tegernsee nach der Stadt übergesiedelt, und Alles, was aus den baierischen Bergen kam, machte daher dem bekannten und erprobten Landsmann seinen Besuch; und auch die Jachenauer Burschen hatten dort ihren Sammelpunkt. Es war also ganz natürlich, daß auch der Kurzenbauer mit seinen Weibsleuten dort seine Einkehr zu nehmen vorhatte, und daß man unter sich die feste Verabredung traf, wenn man etwa durch das Gedränge voneinander getrennt werden sollte, sich oben beim Halbinger entweder vor dem Festzuge oder doch nach dem Pferderennen wieder zusammenzufinden. Diese Vorsicht erwies sich auch sehr bald als höchst zweckmäßig, denn Wunsch und Geschmack der Drei stimmten nicht eben besonders überein. Während der Kurzenbauer sich nicht nehmen ließ, die in den blauweißen Ständen auf der Wiese hinter dem Königszelte aufgestellten Preispferde zu bewundern, fühlte die Schwester sich mehr auf die andere Seite gezogen, zu den Kühen mit den stattlichen Halsbändern, den bekränzten Hörnern und den melodisch bimmelnden Glocken; Stasi aber fand mehr Wohlgefallen an der Bude, in welcher gegenüber schöne bunte Tücher aus inländischer Seide feilgeboten oder durch ein Glücksrad ausgeloost wurden. Ehe sie sich’s versahen, waren die Drei getrennt und Jedes auf sich selber angewiesen.
Die Mahm war die Erste, welche, des Gewühls müde werdend, den Hügel zum Tölzer Wirth hinanstieg, um die Anderen zu erwarten, die ja doch wohl bald nachkommen mußten. Die Tische vor der Schenke waren eben nicht besetzt, nur seitwärts in der Ecke hatten ein paar Männer Platz genommen, die schon durch den Gegensatz ihres Aussehens die Aufmerksamkeit der Alten auf sich gelenkt haben würden, hätte sie auch nicht sofort in dem Einen den Störenfried oder den guten Engel des Hauses, den verhaßten Flößer-Martl aus Länggries erkannt, der in der Tracht als Hauptmann der Bergschützen noch schöner und stattlicher aussah, und fast mehr einem wirklichen Officier, als einem Bauern glich. Der lange hellgrüne Rock mit den thalergroßen, überzogenen Knöpfen von gleicher Farbe, war an Nähten und Knopflöchern zierlich mit gelber Seide ausgenäht, ebenso die Weste und das bis an’s Knie reichende weite Beinkleid; an dem breiten, gleichfalls grasgrünen Hute und dem darum geschlungenen Bande aber war die Seide durch Fransen, Schnüre und Quasten von Gold vertreten. Zum Zeichen seiner Hauptmannswürde prangten auf dem grünen Stehkragen des Rockes drei stattliche Goldborten; auf dem Hute aber neben Spielhahnfeder, Gemsbart und Adlerflaum erhob sich ein stattlicher weißer Federbusch mit blauer Spitze, während an einem über der Weste befestigten Gürtel das Commandoschwert herunterhing – ein alter stattlicher Reitersäbel – wohl eine Kriegsbeute aus längst vergangener Zeit und ihren Kämpfen – um den Hals, an einem silbernen Kettlein hing wie ein Orden die Kapsel mit dem Glasdeckel und dem Sechser darunter. Die Mahm betrachtete den Burschen nach allen Seiten; war er ihr doch durch Alles, was sie von ihm wußte und ahnte, merkwürdig genug geworden, als daß sich nicht der Wunsch in ihr hätte regen sollen, ihn in nächster Nähe zu beobachten, ja vielleicht Gelegenheit zu einer kleinen Zwiesprach zu erhalten oder doch den Inhalt der Unterredung zu erhaschen, die er mit seinem Cameraden führte, und die nach dem Eifer, mit dem sie geführt wurde, immerhin etwas sehr Wichtiges zum Gegenstande haben mußte.
Der Camerad sah durchweg aus, als wäre er eigens ausgesucht worden, um als Gegenstück des schmucken Burschen zu dienen; wie Martl auf dem Ansteig des Lebens sich befand, wandelte er schon stark auf dessen Niedersteig. Dichtes Haar hing um ein bartumwachsenes, verwittertes Gesicht; aber Haar und Bart waren wüst und grau. Im Eifer des Gespräches hatte der Mann den alten Hut achtlos hinter sich auf den Tisch geschleudert, daß er im Rücken Beider lag – er brauchte auch keine Sorge um denselben zu haben; denn der Filz war ebenso brüchig und löcherig, als der ganze Anzug fadenscheinig und abgetragen aussah. Unbeachtet stellte die Mahm ihren Krug auf den Tisch nebenan und setzte sich so, daß sie dem Paare den Rücken zuwendete.
„Für so dumm wirst mich nit halten,“ hörte sie den Schützenhauptmann [256] sagen, „daß ich Dir den Blimelblamel geglaubt hab’, den Du mir selbiges Mal vorgemacht hast! Ich hab’ mir gleich denkt, was das für eine Waar’ sein wird, die Du aus Tirol herausgeschwärzt hast – ein Wildschütz bist, ein nixnutziger, und wenn Du noch eine Viertelstund’ länger in meiner Hütten geblieben wärst, hätt’ Dich der Jäger erwischt.“
„Ich weiß wohl,“ erwiderte der Zerlumpte, und die Base fuhr beim ersten Laute seiner Stimme zusammen, wie wenn ein Donner ihr Ohr berührt hätte. Die Hand, die sie nach dem Kruge erhob, sank wie blitzgetroffen vom Henkel zurück, und halbgewendet starrte sie weitgeöffneten Auges den Wilddieb an, dessen Gesicht nur seitwärts und auch da nur halb zu sehen war, weil er es in der aufgestemmten Hand verbarg. „Ich hab’s wohl gemerkt, daß Du mich gern hast durchrutschen lassen und daß Du halt ein braver Kerl bist, der nur mir so in der Gutheit durchg’holfen hat – das vergess’ ich Dir niemals, und weil ich Dir’s durch nix Ander’s zeigen kann als durch’s Danken, so hab’ ich Dich angered’t, wie ich Dir vorhin begegnet bin, damit ich Dir’s wenigstens nochmal hab’ sagen können, wenn ich auch ein alter Lump bin und dem, den ich anred’, schier eine Schand’ anthu’!“
„Verdächtig siehst freilich uns,“ sagte Martl mit einem Seitenblicke auf den Mann; „aber wenn Du schon ein Lump bist, mußt denn nachher auch ein Lump bleiben?“
„Wird schon so sein müssen,“ entgegnete der Mann finster; „ich denk’, es ist einem Jeden aufgesetzt, wie’s ihm gehn soll in seinem Leben. Das ist, wie wenn man in ein Moos hineinfallt; da verschwind’t Einem der Boden unter’n Füßen, und je mehr man sich abarbeitet, um herauszukommen, um so tiefer sinkt man hinein, bis Einem der Morast zusammenschlägt über’m Kopf … meinetwegen,“ fuhr er fort, indem er den Krug gierig faßte wie Einer, der sich zu betäuben im Sinne hat. „Einmal muß ein End’ hergehn – bei mir wird’s bald so weit sein!“
„Was thust nachher in München?“ fragte Martl. „Bist nit in Tirol daheim?“
„Ich bin gar nirgends daheim – ich darf mich nirgends mehr recht sehn lassen! Aber nach München bin ich herein, weil ich ’denkt hab’, ich könnt’ vielleicht ein Platzl finden – aber es ist nix; es will halt nit sein, daß ich ein Glück hab’.“
„Du bist ein narrischer Kund’,“ sagte Martl theilnehmend. „Du kommst mir vor wie ein rechter Hallodri, und nachher ist doch wieder was in Deiner Art, daß ich mein’, es könnt’ noch nit ganz und gar gefehlt sein mit Dir … Wie ist’s denn nachher kommen, daß Du so hast werden müssen?“
„Wie ich so worden bin?“ sagte der Mann vor sich hin, als müßte er sich selbst erst darauf besinnen. „Das weiß ich schier selber nimmer. Ich kann’s nit sag’n – das ist, wie wenn Du eine Schüssel in’ Regen hinstellst: es fällt nur Tropfen für Tropfen hinein, und doch wird sie nach und nach voll und läuft über; oder wie wenn in einem G’wand ein Fädel reißt: das giebt erst nur ein kleines Löch’l, auf das man nit acht’t; bald aber wird’s größer, bis zuletzt die Fetzen herunterhängen … Man merkt’s anfangs gar nit, wenn’s bergab geht mit Einem; man hat wohl gar noch seine Freud’ daran, daß’s so gar lüftig dahingeht, bis man nachher in’s Fallen kommt, in’s Kugeln und Stürzen – da möcht’ man freilich anhalten, aber da hilft kein Besinnen mehr; und so ist’s besser, man schlagt sich gleich Alles aus’m Sinn und purzelt freiwillig kopfüber, kopfunter … Freilich,“ fuhr er nach einer Weile in einem Tone fort, der fast wie Rührung klang, „wenn man mich in meiner Jugend gefragt hätt’, hätt’ ich auch nit geglaubt, daß’s so weit mit mir kommen müßt’ … vielleicht hätt’ es auch nit so kommen müssen, aber ich hab’ halt kein Glück! Ich bin auch einmal ein junger Bursch gewesen, frisch und gesund und alert wie Du – Mein Unglück ist ein Madel gewesen; das will ich Dir erzählen, damit Du Dir’s merkst, damit Du nit auch so hineintappst … sie war eine reiche Bauerntochter, und ich bin nix als ein armer Jagdgehülf’.“
„Was Du mir da sagst!“ rief Martl mit eigenthümlicher Betonung. „Ich glaub’, ich kenn’ mich schon aus in der Geschicht’; aber erzähl’ nur zu – sie war reich und Du arm; ja, ja, das thut niemals nit gut. Sie ist wohl stolz und hoffärtig gewesen gegen Dich?“
„Nein,“ sagte der Alte kopfschüttelnd; „das Madel war gut und lieb und hat mich gern gehabt für sein Leben, und wie ich ihr mein Lieb’ gestanden hab’, hat sie das schlechte silberne Ring’l, das Einzige, was ich ihr hab’ geben können, angenommen und hat’s ’küßt, wie wenn’s das kostbarste Geschmeid’ wär’ … sie hätt’ wohl auch nit von mir gelassen; aber ihre Leut’ haben’s nit zugeben! Sie haben s’ gemartert bis auf’s Blut, mir aber haben s’ mit’m Erschießen gedroht, und weil mich das nit erschreckt hat, haben s’ mich beim Förster verklamperlt, daß er mich fortgeschickt hat und hat gemacht, daß mich kein Forstner in der Gegend mehr angenommen hat. Da bin ich eine Zeitlang herumgestrichen in der Irr’ voll Aerger und Verdruß, bis das Gerstel verklopft war, das ich mir zuvor zusammengehaust hab’ – und wie ich nix mehr gleich gesehn hab’, hab’ ich auch keinen mehr gefunden … Da ist das Schwärzen und ’s Wildschießen noch das einzige Geschäft gewesen, das mir frei war und bei dem sich wenigstens das Maul hat fortbringen lassen – so hab’ ich halt zu’griffen; es ist mir ja sonst auch nix Ander’s übrig geblieben.“
Martl erwiderte nichts; das Schicksal des Alten gab ihm überraschend viel zu denken und zu vergleichen.
„Bin mit allerhand Leuten in der Welt herumgefahren,“ begann der Alte wieder, „und jetzt, wie ich wieder in die Gegend gekommen bin, da hat’s geheißen, in München wär’ ein reicher Graf, der hätt’ große Güter in Ungarn oder gar in der Walachei und braucht tüchtige Jäger und Förster – da hab’ ich gemeint, so weit weg thät’ man’s vielleicht nit so genau nehmen und nit so viel nach der Kundschaft und nach’m Testimoni fragen; ich hab’s probiren wollen, ob ich nit wieder ein ehrlicher Kerl werden könnt’, wie ich einmal einer gewesen bin, aber mein Unstern will’s halt nit haben. Ich hab’ das Palais richtig gefunden, wo der Graf logirt, es ist auch Alles wahr gewesen, wie man mir’s gesagt hat; aber der Graf ist schon fortgereist nach Wien, und wenn ich aufgenommen werden wollte, so hat’s geheißen, müßt’ ich ihm halt nach Wien nachreisen. Wie soll ich armer Teufel das machen? Morgen geht freilich am Grünen Baum der Ordinarifloß hinunter – aber wenn ich mich auch zum Rudern verdingen wollt’, damit ich die freie Fahrt hätt’, was sollt ich drunten in Wien anfangen ohne einen Kreuzer Geld und in dem Aufzug? Sie thäten mich für einen Bettelmann halten oder gar für –“
„Sonst ist’s nix?“ rief Martl fröhlich. „No, wenn’s Dir blos da fehlt, Alter, da ist Dir g’holfen – ich hab’ freilich nit so viel bei mir; aber der Floßer-Martl von Länggries, der hat schon so viel Credit! Komm wieder daher, wenn das Pferd’rennen vorbei ist – ich will derweil’ schaun, daß ich so viel zusammenbring, als Du brauchst zu der Wienerreis’ und zu einer Ausstaffirung!“
Dem alten Jäger war es, als ob er plötzlich aus einem bösen Traume erwachte; er wußte sich in die Wirklichkeit nicht zu finden. „Wie? was?“ rief er lachend, während ihm zugleich ein paar dicke Thränen in den grauen Karl kugelten. „Mir sollt’ wirklich noch geholfen werden? Es giebt wirklich noch Jemand auf der weiten Gotteswelt, der sich um mich alten Kerl annimmt? Und Du wolltest es thun, der selber nichts hat, als was er mit seiner schweren Arbeit verdient?!“
Ein Kanonenschuß, der aus dem Wäldchen unweit der Schenke aus den Geschützen der dort aufgestellten Bürgerartillerie erdröhnte, unterbrach die Unterhaltung und verkündete, daß der König, dem das Fest gegeben wurde, sich von der Tafel erhoben und die Residenz verlassen habe. Einige Bergschützen kamen eilig heran, den Hauptmann zu rufen; sie mahnten, es sei hohe Zeit, sich aufzustellen; Martl hatte nur noch Zeit, flüchtig seine Zusage zu wiederholen, und eilte hinweg.
In dem Reden und Drängen hatte kein Mensch beachtet, daß auch die alte Base sich stillschweigend erhoben und davon gemacht hatte, nachdem sie zuvor einen Augenblick an dem Hute des Jägers herumgenestelt. Dieser blieb eine geraume Weile allein; er stützte den Kopf in beide Hände, wie um sich durch Nachsinnen zu überzeugen, daß, was er gehört, nicht Spott und Scherz war, daß wirklich Jemand noch an ihm Antheil nahm, daß am späten Abend seines Lebens noch das Gewölk sich zertheilen und die Sonne durchbrechen lassen wolle. Dann sprang er hastig auf und griff nach seinem Hute, zog aber rasch die Hand wieder zurück; denn der leichte Filz war plötzlich schwer geworden, und als er näher zuschauend die ungewohnte Last untersuchte und das im Hute befindliche Päckchen behutsam öffnete, blinkte ihm ein stattliches Häufchen Kronenthaler entgegen – er hielt mit ihnen die sichere Erfüllung seiner Lebenshoffnung in der Hand. „Ja, wie ist denn [258] das?“ rief der Erstarrte. „Wo kommt denn auf einmal das viele Geld her? Das kann kein anderer Mensch hingelegt haben als der Floßer-Martl – es war also nur eine Ausred’, daß er nit so viel bei sich hat; er hat mir’s nur so verstohlener Weis’ geben wollen, blos daß ich ihn nit soll danken können. O Du guter, Du braver Bursch! Du wärst werth, daß man Dich in Gold fassen ließ –“ Plötzlich verstummte der Ausbruch seiner Freude – zu unterst in dem Blatt Papier, in welches das Geld gewickelt war, lag ein kleiner silberner Ring, den er wie ein Träumender betrachtete. „Du kommst mir nochmal vor die Augen?“ sagte er in sich hinein. „Ich kenn’ dich gar gut, wenn ich auch nit gedacht hab’, daß du mir noch einmal vor die Augen kommst. … Das Geld ist also von ihr? Sie war also da, und ich hab’ sie nit erkannt und nit einmal gesehen. … Rosl, wo bist denn?“ rief er aufspringend und nach allen Seiten spähend. „Rosl, hör’ doch! Laß mich Dir wenigstens danken! Laß Dich wenigstens nochmal vor mir sehen!“ Nirgends war eine Spur der Gesuchten zu entdecken, nirgends eine Möglichkeit, die Gesuchte nach so langer Zeit in dem Gewühle wiederzuerkennen. Der Alte in seiner Freude überdachte das nicht; mit dem wiederholten Rufe „Rosl!“ drängte er durch die Menge, die ihn verwundert und lachend betrachtete und meinte, der alte weißhaarige Geselle hätte auch nicht mehr nöthig, so lebhaft nach seinem Schatz zu rufen.
Indessen hatte nicht ferne davon eine Begegnung von nicht minderer Wichtigkeit stattgefunden. Stasi war kaum gewahr geworden, daß sie sich von den Ihrigen verloren, als sie trotz ihres entschiedenen Wesens eine solche Anwandlung von Scheu und Muthlosigkeit verspürte, daß ihr die Wangen brannten, und sie die erste im Gewühl sich darbietende Lücke benützte, um hinaus auf eine freie Stelle und von da zum Tölzer Wirthe zu gelangen, denn dort mußten ihre Angehörigen bereits sein oder doch in kurzer Zeit eintreffen. Gesenkten Blickes und mit hastigen Schritten eilte sie über die Wiese, gejagt voll allerlei Bemerkungen und Ausrufungen der Städter, die einander verwundert die hübsche Oberländerin zeigten, die so ganz allein auf der Wiese herumspaziere. „Auf Cerevis, Bruder! “ rief ein Student. „Das ist einmal eine saubere Dirne! Der sollte man eigentlich nachsteigen.“ Früher wäre Stasi wohl nicht so furchtsam und blöde gewesen und hätte auf solche Zudringlichkeiten und Spöttereien zur Genüge zu erwidern gewußt; aber sie war eben so ganz von innen heraus eine Andere geworden, daß sie sich selbst nichts mehr zutraute: der trotzige Uebermuth, der ihr früher einen Halt gegeben, war gebrochen, und eine andere stützende Kraft hatte sie in sich noch nicht gefunden. Sie wußte kaum, wie sie den Fuß des Hügels erreichte und über denselben hinaufkam; sie athmete hoch auf, als sie, oben angelangt, die Hütte mit dem Raben erblickte. Schon war sie bis auf wenige Schritte herangekommen, als sie plötzlich anhielt, und wie ein Reh, das im Walde den spürenden Jäger wittert und vor demselben umschlägt, in das Gebüsch sprang, das sich an einem Feldrain in der Nähe der Schenke hinzog, eben so schnell aber hatte sie sich wieder eines Andern besonnen und blieb hart am Wege stehn, das Auge fest dahin gerichtet, von wo ihr der Schrecken gekommen war.
Dort stand der Flößer-Martl mit seinen Bergschützen zusammen.
Er schien ihnen Befehle zu ertheilen, und wie er so an ihrer Spitze herangeschritten kam, sah er vollends aus wie ein General, von seinem Stab und Commando umgeben. Noch wenige Schritte – dann mußte sie ihm gegenüberstehen; aber sie wartete seiner, festen Fußes und ruhigen Blutes, wenn ihr auch das Herzblut bis in die Kehle hinaufschlug und den Athem zuschnürte, daß sie dem Umsinken nahe war.
Der Augenblick, nach dem sie verlangt, auf dessen Eintritt sie gehofft, wegen dessen sie so gedrängt hatte, nach München zu kommen, war da.
Im Eifer des Dienstgespräches hatte der junge Hauptmann die seitwärts am Raine stehende Dirne kaum beachtet – er stand daher nicht minder betroffen, als sie, über und über mit Purpur bedeckt, plötzlich in seinen Weg trat. „Grüß Gott!“ sagte sie mit zitternder Stimme. „Gehts nur Eures Wegs, Ihr Bergschützen. Ich hab’ ein Wörtl mit Eurem Hauptmann zu reden.“
Martl hatte es die Sprache verschlagen; er konnte nur mit einem Wink seine Genossen verabschieden, die langsamen Schrittes, ein verwundertes Lächeln in den Mienen, sich entfernten.
„Hab’ ich denn recht gehört?“ fragte er. „Du hast was zu reden mit mir?“
„Ja“, entgegnete sie, „und Du kannst wohl errathen, was es ist … denn das wirst wohl auch begreifen, daß es nit so bleiben kann zwischen mir und Dir … drum hab’ ich eine Bitt’ an Dich.“
„Du? Eine Bitt’ an mich? Was soll das sein?“
„Frag’ nit!“ sagte sie, anfangs mit Anstrengung; allmählich aber wurde ihr leichter um’s Herz, und mit jedem Worte floß die Rede ihr natürlicher und so weichen Falles von den Lippen, daß sie den Eindruck nicht verfehlen konnte. Der Bursche, schon über Begegnung und Anrede betroffen, lauschte dem Tone, als wäre er in eine Märchenwelt verzaubert; allmählich und wie unbewußt hatte er den Hut vom Kopfe genommen, so war sie vor ihm gestanden beim ersten Begegnen, ehe die Wolken des Unmuths und Trotzes das schöne Angesicht entstellt hatten! Das waren die verstrickenden Augen, in die er damals geschaut, und deren ersten Eindruck, so sehr er sich selber gescholten, alle spätere Unbill nicht zu verwischen vermocht hatte! Sie stand wieder vor ihm, dieselbe an Schönheit, aber auch unendlich bestrickender durch die weiche, fast demüthige Haltung, mit der sie ihr Auge, das sonst so stolz zu blicken pflegte, gleichsam wie Schutz flehend zu ihm aufschlug. „Stell’ Dich nit so an!“ sagte sie. „Du errathst es wohl, was ich von Dir will; Da mußt es errathen, sonst wärst Du der Bursch nit, der Du bist! Es ist dieselbe Bitt’, wegen der ich mein’ Vater schon an Dich geschickt habe, und die Du mir damals abgeschlagen hast. –“
Martl antwortete nicht, und griff unwillkürlich nach der am Halse hängenden Goldkapsel. „Ah, Du willst dies da!“ rief er, nicht ohne Bitterkeit. „Jetz’ versteh’ ich Dich freilich. Es ist Dir nit recht, daß ich ein Andenken von Dir hab’; Du willst mir’s abnehmen und den Leuten damit die Mäuler stopfen.“
„Es ist nit derentwegen,“ entgegnete Stasi fest. „Ich verlang’s nit der Leut wegen, sondern Deinetwegen … es leid’t mich nimmer – ich muß Dir’s sagen, und wenn Du selbigesmal auf der Brettenalm nit gleich so fuchtig gewesen wärst, hätt’ ich Dir’s damals schon gesagt … Ich hab’ Dir Unrecht gethan – ich bin hoffärtig und trotzig gewesen gegen Dich … aber ich seh’s jetzt ein: ich bin das gewesen, was Du mich geheißen hast, aber ich hab’ auch angefangen, anders zu werden, und der gewisse Nam’ ist jetzt nimmer wahr. Wenn ich Dir das freiwillig sage und Dich um Verzeihung bitt’, dann kann das Ding da und was drinn’ ist doch keine Bedeutung mehr haben für Dich …“
„Weißt das so gewiß?“ sagte Martl warm werdend. „Wie ich den Sechser umgehängt und das Büchsel dazu ’kauft hab’, hab’ ich’s gethan aus Zorn über Dich, aus Gift und daß es mich alleweil mahnen sollt’ all den Spott, den Du mir angethan hast. – Freilich, wenn Du so mit mir redst, da ist’s mit Gift und Gall vorbei – da hat das Anhängen keine Bedeutung mehr, aber es ist mir derentwegen leid, – so gern ich Dir keine Bitt’ abschlagen möchte, das Büchsel kann ich Dir doch nit geben, – ich hab’ mir selber das Wort’ geben und hab’s verschworen, daß ich’s meiner Lebtag’ am Hals trag’ und Niemanden gib’, als –“
Er verstummte; Stasi hatte die Augen gesenkt. „Als Dein’ Schatz,“ setzte sie mit zitternder Stimme hinzu … „Ich weiß’s; der Vater hat mir’s erzählt … Aber gerad’ dann mußt Du mir’s geben und mußt Dein Wort halten – da hast mein’ Hand, Martl … Ich will Dein Schatz sein.“
„Stasi!“ rief Martl, und der Hut flog trotz Spielhahnstoß und Federbusch weithin in den Staub. „Träumt mir denn oder willst mich foppen? Na, das kannst nit; ich seh’s in Deinen Augen … es ist Dir wirklich Ernst mit dem, was Du red’st … Du wärst mir also nimmer bös, willst mir’s nimmer nachtragen, was ich Dir angethan hab’? Du könnt’st mich wirklich gern haben?“
„Von Herzensgrund,“ sagte das Mädchen, „wie stark ich mich dawider gespreizt hab’ – ich hab’ nit anders könnt … Du hast mich gezwungen dazu.“
„Und Du mich!“ jubelte Martl. „Du hast mir’s angethan vom ersten Augenblick und mit’m ersten Augenblick … aber ist denn das möglich, Stasi? Ich kann ja die Glückseligkeit gar nit glauben.“
„So schau’, Du ungläubiger Thomas!“ sagte sie, auf ihren Hut deutend. „Da steckt noch das Edelweiß, das Du mir’ auf die Brettenalm gebracht und über’n Berg hinuntergeworfen hast … Ich hab’ mir’s heraufg’holt mit Lebensgefahr.“
[259] „Und das tragst Du auf Deinem Hut? Du hast also wirklich an mich denkt, hast mich in Dein’ Sinn ’tragen und in Dein’ Herz? Ja, jetzt hast Recht, jetzt hat das Büchsel kein’ Bedeutung mehr für mich … da – da nimm’s! Ich verlang’ nix dafür als ein einzig’s von den Edelweißblümeln da auf Dein’ Hut.“ Er wollte das Medaillon von der Schnur am Halse reißen; aber Stasi hielt ihn zurück.
„Nit jetzt!“ sagte sie. „Behalt’s noch! Wir müssen erst mit mein’ Vater reden, daß Alles in Ordnung ist, wie sich’s gehört – am Hochzeitstag, vor’m Altar und mit’m Trauring gib mir das Büchs’l!“
„O Du – Du – Du Ausbund von einem Madl!“ rief Martl, indem er ihr beide Hände entgegenstreckte, in die sie freudig einschlug. „Wie soll ich’s denn nur anstellen, daß ich das Alles glauben kann?“
[273] Sie standen sich Aug’ in Auge gegenüber; zu anderer Zeit und an einem anderen Orte wären sie einander wohl in die Arme gefallen: statt dessen fuhren sie jetzt betroffen auseinander; denn der Kurzenbauer, der endlich auch die Seinigen vermißt hatte, war ebenfalls nach dem Treffpunkte geeilt und eben recht gekommen, um die Beiden zu sehen und den Schluß ihrer Unterredung mit anzuhören. Die Mahm, die er zuerst getroffen, stand neben ihm, schweigend, aber mit einer Miene, in welcher Rührung und Spott durcheinander zuckten, als wollle sie sagen: Ich hab’s gewußt, daß es so kommen wird – nun ist’s doch geworden, ohne daß Du etwas gemerkt hast.
„Brauchst Dich nit zu strapazir’n!“ rief der Bauer zornig, „es thät’ Dich doch nichts nutzen! Wenn Du den Glauben auch zuwegen bringst, es wär’ doch ein Aberglauben. Du und mein Deandl? Ein Holzknecht und die reichste Bauerntochter aus der Gemeind’? Ein Fremder und eine Jachenauerin? Kreuzbirnbaum und Hollerstaud’n, das wär’ eine schöne Zusammenstellung! Und wie ist’s nachher – ich mein’, da müßt’ ich doch wohl auch gefragt werden?“
„Das ist gewiß, Vater,“ sagte Stasi, die jetzt, nachdem alle Last von ihrem Herzen genommen war, die alte Festigkeit wieder fand. „Wenn Du doch schon einmal gehorcht hast, dann wirst auch gehört haben, daß ich Dir heut’ noch Alles hab’ selber sagen wollen – früher hab’ ich’s ja nit können; ich hab’s ja selber nit gewußt, Vater.“
„So?“ schrie der Bauer. „Und damit, meinst wohl, wär’ schon Alles in Richtigkeit? Wär’ ich Dir g’rad’ recht zum Jasagen? Also deswegen bist so dasig ’worden, weil Du Einen g’funden hast, der Dir Herr ’worden ist? Meinetwegen – aber mir wird er nit Herr! In die Jachenau kommt kein Fremder, so lang’ ich’s verhindern kann, und auf’n Kurzenhof schon gar nit.“
Ein zweiter Kanonenschuß unterbrach den Erguß seines Zornes; die Bergschützen, die ihres Hauptmanns gewärtig schon lange verwundert in der Nähe gestanden, kamen eilends heran, denn der Schuß zeigte an, daß der König und seine Escorte das Thor der Stadt verlassen habe und sich bereits der Festwiese nähere, es war also die höchste Zeit, sich im Zuge aufzustellen oder einen Platz zu wählen, von welchem aus wirklich etwas von den zu erwartenden Festlichkeiten zu sehen war.
„Ich geh’, weil ich muß,“ sagte Martl, indem er seinen Hut aufhob und kräftig auf die Stirne drückte. „Weil ich muß, sag’ ich, nit weil ich mich fürcht’! Ich fürcht’ Dich nit, Kurzenbauer, und wenn Du Dich noch so fuchtig anstellst – ich hab’ mich vor Deinem Madl auch nit g’fürcht’t, und das ist doch ein ander’s Korn; die trifft besser mit ihren Augen als Du, denn die hat mir gleich einen Kernschuß gegeben mitten in’s Herz hinein! – Ich geh; aber ich komm’ wieder, und nachher wirst wohl anders reden.“
„Ja, Martl, geh’,“ sagte Stasi, „und komm’ wieder, und wenn der Vater nit anders red’t, – ich bin g’wiß nit anders; ich halt’ aus bei Dir, und wann ich zu Dir nach Lenggries zieh’n müßt’ in die Hütten von Dein’ alten Mutterl.“
Sie boten sich nochmal, wie zur Bestätigung des Gelöbnisses, die Hand; dann schritt Martl mit seinen Burschen hinweg; Stasi trat vor an den Bergrand, der Bauer wollte folgen, denn trotz seines Aergers wollte er doch von dem Schauspiel nichts versäumen. „Schon recht,“ zürnte er weiter. „Wir werden schon sehen, wer Herr im Haus ist und wer das letzte Wort behält.“
In diesem Selbstgespräche fühlte er sich am Arme gefaßt und erblickte seine Schwester neben sich, die ihn zurückhielt. „Du nit, Bruder,“ sagte sie; „Du wirst’s letzte Wort nit b’halten, – und wenn Du’s behalt’st, nachher wird’s letzte Wort Ja heißen. Die Stasi geht, Du hast es g’hört: sie hat die Schneid’ und die Resch’n, die ich vor dreißig Jahr’n nit gehabt hab’ – probir’s nachher, wie Du allein auf’m Kurzenhof zurecht kommst; denn ich – das sag’ ich Dir – ich nehm’ mein Sachel und geh’ mit ihr! Ich hab oft mit’m Davongeh’n gedroht und hab’ niemals Ernst gemacht, jetzt aber wird nimmer viel gered’t, jetzt geschieht’s. Wenn Du also gescheidt sein willst – wenn Du in Deinen alten Tagen nit erfahren willst, was es heißt, kein’ Menschen bei sich haben, der Einen gern hat, dann sagst Ja, Bruder! Du solltest froh [274] sein, daß sich Einer gefunden hat, der sich von dem dornigen Zaun nit hat schrecken lassen und hat’s Röserl herausgeholt aus’m Garten; Du sollt’st den prächtigen Burschen auf den Händen tragen, und sollt’st froh sein, wenn Du Deiner Tochter ein freudig’s und vergnügt’s Leben schaffen und hinterlassen kannst, wenn Du einmal Deine Augen zumachst. – Und Eins will ich Dir noch sagend Lipp,“ setzte sie leiser, aber mit steigendem Nachdruck hinzu. „Wenn Du willst, daß ich Dir verzeih’ und das, was Du mir angethan hast, nit in die Ewigkeit mitnehmen soll, nachher sagst Ja … ich hab’ seit derselbigen Zeit kein Sterbenswörtl mehr von ihm gehört – Du weißt wohl, wen ich mein’ – ich hab’ ihn nimmer unter’n Lebendigen gesucht. Heut’ aber hab’ ich ihn wieder g’sehn – als einen alten Lumpen, Bruder – als einen Vagabunden, das ist er durch Dich ’worden, Bruder; Du hast ihn auf’m G’wissen, wie mich … das ist eine schwere Bürd’, Bruder – mach’, daß sie Dir leichter und Dein Sterbkissen einmal linder wird – und sag’ Ja; – sonst reisen wir nimmer zusammen heim in die Jachenau.“
Der Bauer sagte gar nichts; er schritt nur in zorniger Eile den Berg hinab, gerade auf das Königszelt zu; dort, meinte er, müsse man Alles am Besten sehen können, denn dort war noch der einzige von Menschen nicht überfüllte Raum. Darin hatte er auch ganz Recht; nur wußte er nicht, daß der Platz vor dem Zelt frei bleiben mußte, und daß berittene Landwehr und Gensd’armerie die Aufgabe hatten, die Zuschauer in weiten Kreisen zurückzuhalten. Eben als er hinein wollte und sich darüber mit den Reitern herumstritt, krachte ein dritter Schuß; der König fuhr heran und hielt vor dem Zelte. Er bemerkte beim Aussteigen den kleinen Auflauf, warf einen flüchtigen Blick auf die drei Gebirgsleute, und rief einem Lakai zu, er solle die Gesellschaft neben das Zelt führen und vor demselben in einer Ecke postiren. Von dort aus konnten sie Alles unmittelbar und in größter Bequemlichkeit betrachten; es war, als gehörten sie auch zu den Vornehmen, den Beamten und Officieren, die sich im Zelte um den König versammelten.
Der Festzug begann; schon weithin verkündet und begrüßt vom Brausen der Volksstimmen, rollte eine lange Reihe geschmückter Wagen vorüber, in welchen jeder Bezirk seine Sitten, Gebräuche, seinen hauptsächlichen Erwerb und seine überwiegende Beschäftigung darzustellen versucht hatte. Den Anfang machte ein Bezirk, der, durch die Zucht schöner Pferde berühmt, mit einer Abtheilung stattlicher junger Bursche auf nicht minder stattlichen Rossen angezogen kam. Dann folgte ein Wagen, auf welchem ein Garten nachgebildet, war, mit Gemüse- und Blumenbeeten und fruchtbeladenen Obstbäumen; dann ein Floß, wie sie auf der Isar üblich sind, aus unbehauenen Baumstämmen zusammengefügt, mit einer Bretterhütte darauf, vor welcher eine reisende Gesellschaft um das Feuer gelagert sich ihr Mittagsmahl bereitete und mit Gesang und Citherspiel würzte. Als trefflicher Gegensatz schloß sich ein Wagen mit einem mächtigen Kornfuder an, das sich von Zeit zu Zeit auf beiden Seiten öffnete und das Innere einer Dreschtenne zeigte, auf welcher ein halbes Dutzend schmucker Bursche und Mädchen lustig die Drischel im sechstheiligen Tacte klappern ließ. Auf dem nächsten Wagen befand sich ein Kahn, mit Fischern besetzt, deren einige die Ruder schwangen wie zum Wettfahren und Schifferstechen, während Andere eifrigst beschäftigt waren, Netze auszuwerfen und wieder einzuziehen, wieder Andere aber als Wasserjäger den Tauben nachschossen, die man von Zeit zu Zeit fliegen ließ, und welche die Möven vorstellen sollten, die es lieben, im Geröhricht der Bergseen zu nisten. Wieder ein Wagen war mit Felstrümmern künstlich zu einer Art Gebirge gestaltet; dazwischen auf einem kleinen, mit grünem Rasen ausgelegten Platze stand die Sennhütte und saß die Sennerin.
So kam noch manche hübsche Augenweide, manch stattliches Schaugepränge, bis als trefflicher Schluß die Bergschützen von Lenggries und Jachenau heranschritten, voran die Trommler mit den langen, schmalen Trommeln und den lustigen Schwegelpfeifen, und die alte Fahne, die den Söhnen der Berge schon zu der Schlacht in der Mordweihnacht von Sendling vorgetragen worden. Sie erregten nicht minder allgemeines Aufsehen und Wohlgefallen, als die Reiter und Wagen.
Der König aber kam die Stufen des Zeltes herunter, ließ den schmucken Hauptmann vor sich kommen und unterhielt sich mit ihm.
„Ein Kernschlag von Männern,“ sagte er zu seinen Begleitern, „das sind die echten Nachkömmlinge der Kämpfer von Sendling. Das giebt wieder ein stattliches Geschlecht, denn ich bin gewiß, ein so schmucker Bursche, wie dieser Hauptmann, hat sich auch einen ebenso schönen Schatz ausgesucht.“
„Ja, Herr König,“ sagte Martl mit einem Seitenblicke nach der Ecke, in welcher Stasi mit dem Vater stand. An einem Schatz thät’s nit fehlen, und an der Schönheit auch nit … Da steht sie im Eck, kannst sie selber anschaun, Herr König!“
„Die ist’s?“ sagte der Fürst vergnügt. „Dann hab’ ich es ja recht gut gemacht, daß ich die Leutchen hier untergebracht habe. Hast einen guten Geschmack, Bursche, – in der That ein bildhübsches Mädchen! Sehen Sie nur, meine Herren!“ fuhr er fort und wandte sich zu den bekreuzten und besternten Officieren und Beamten im Zelte, die sich zustimmend verneigten. „Nun, da wird’s wohl bald Hochzeit geben?“
„Ja, das ist justement noch nit ausg’macht,“ sagten Martl und Stasi wie aus Einem Munde, indem sie nach dem Bauer blickten, der in bodenloser Verlegenheit seinen Hut in den Händen hin und wieder drehte.
„Das ist wohl der Vater,“ fuhr der König, dadurch aufmerksam gemacht, fort, „und Ihr wollt wohl sagen, daß die Bestimmung der Hochzeit noch vom Vater abhängt? Also wann soll die Hochzeit sein, Alter?“
„Ja, Herr König,“ sagte der Bauer, als er endlich ein Wort hervorzubringen vermochte, „da hat’s halt einen Haken damit. Du mußt wissen, ich bin der Kurzenbauer am Berg in der Jachenau, und das da ist der Floßermartl aus’m Lenggries, und das ist noch nie g’schehn und darf auch nit sein nach einem alten Brauch, daß ein Fremder in die Gemeind’ hineinheirath’t.“
„Ah, ich verstehe,“ sagte der König, „die Nachbarn sind dagegen; Du aber, Alter, bist klüger, nicht wahr? Du willst den albernen Brauch abschaffen. Recht so,“ fuhr er fort, indem er dem Alten auf die Schulter klopfte. „Das lob’ ich; das gefällt mir … Nun, sorge dafür, daß die Hochzeit bald ist, und wenn das junge Paar einen Gevatter braucht, da komm’ nach München, Kurzenbauer, und laß mich’s wissen!“
Er winkte, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung, von den Scheibenschützen mit den Preisfahnen gedrängt, die auch an die Reihe kommen wollten, wie hinter ihnen die Rennpferde, Rennmeister und Rennbuben. Jauchzend zogen die Schützen hinweg, mit ihnen Stasi, die Martl nicht mehr von der Seite ließ, unmittelbar hinterdrein trabte der alte Bauer, der nicht wußte, wie ihm geschah.
Die Festfreuden, die noch kamen, der Volksjubel und die Erregung über das Pferderennen gingen an der Gesellschaft vom Kurzenhofe ziemlich unbeachtet vorüber; sie waren Alle zu sehr mit Dem beschäftigt was sie erlebt hatten, und noch mehr mit Dem, was nun noch kommen sollte. Stasi’s Antlitz war wie eine frisch aufgebrochene Rose; Freude, Hoffnung, Erwartung glühte in deren Blättern, und die leichten Schatten, welche Sorge, Furcht und Erregung dazwischen streuten, dienten nur dazu, die Schönheit der Färbung zu erhöhen. Sie sprach nichts vor innerer Bewegung, ebensowenig die Mahm, die es vor Rührung nicht konnte und der immerwährend die Lippen zuckten, als wolle sie zu weinen anfangen. Der Bauer war ebenfalls stumm; es war kein kleiner Kampf, den die geschmeichelte Eitelkeit mit dem angestammten und eingewurzelten Vorurtheil in seinem Innern ausfocht; er brummte nur halblaut mit sich selbst und gesticulirte eifrig vor sich hin, bald grimmig die Faust ballend, bald sich mit honigsüßem Lächeln zu einem unterthänigen Bückling anschickend.
Vor der Schenke zum Raben beim Tölzer Wirth sank endlich die letzte Hülle des Räthsels. Noch immer stumm saßen die Drei um den ebenfalls stummen Bierkrug, der sich über die Vernachlässigung zu wundern schien, die ihm zu Theil wurde, als festen Schrittes und blitzenden Auges, umgeben von seinen Schützen, Martl hinzutrat. „Ich hab’s gesagt, daß ich wiederkomm’,“ rief er. „Da bin ich jetzt, Kurzenbauer, und frag’ Dich, ob Du noch so red’st wie zuvor?“
„Wie werd’ ich denn reden?“ antwortete der Bauer, sich zusammennehmend und mit absichtlich erhobener Stimme, als wolle er sich dadurch selbst alles Schwanken und einen etwaigen Widerruf unmöglich machen. „Kreuzbirnbaum und Hollerstauden! Hast denn nit gemerkt, daß ich Dich nur gestimmt hab’? Da ist unser Herr König ein anderer Mann – der hat nur gleich über’s [275] Gesicht und über’s Gewand angesehn, wie ich gesinnt bin. Hast Du ’glaubt, der Kurzenbauer ist ein Hackstock, daß er sich an solche dumme alte Bräuch’ hängt? Ich hab’ nie anders gered’t und red’ noch so: Gerad’ weil Du kein Jachenauer bist, mußt’ mein Schwiegersohn wer’n! Wie wir heimkommen, ist der erste Weg zum Landrichter und der zweite zum Pfarrer – Gebt ’s einander d’ Händ’! Die Schützen alle san Zeugen.“
Das glückliche Paar ließ sich den Befehl nicht zwei Mal sagen; es reichte sich die Hände und wäre sich wohl in die Arme gesunken, wäre es nicht zum ersten Male und vor der unbekannten Menschenmenge gewesen, die von der Neugier herbeigerufen war. Alles rief Beifall; die Schützen aber schwenkten die Hüte und jauchzten dazu, als ob es bis an die fernen Berge hallen und die Botschaft bis in die Jachenau tragen sollte. Nun, da das Eis gebrochen war, ging der Strom der Freude bald immer freier und in immer rauschenderen Wellen dahin; der Alte war selig, einen Kreis von Zuhörern um sich zu sehen, die ihn lobten, und er wurde nicht müde, zu erzählen, wie der König ihm gleich durch und durch gesehen, wie er sich ihm selber zum Gevatter angetragen und ihm auf die Schulter geklopft habe, als wäre er Seinesgleichen. Die Schwester saß unbeachtet in der lauten Freude: sie hatte ihr Lebenlang Thränen und Leid niedergekämpft; sie that es auch jetzt – aber es ward ihr leicht; denn ihr Blick ruhte auf dem Liebesglücke, das dem jungen Paare aufgegangen war, wie über Nacht der Frühling kommt.
Stasi und Martl selbst wußten sich in das ungeahnte, ungehoffte und unerwartete Glück kaum zu finden; Hand in Hand saßen sie nebeneinander, Aug’ in Auge und im eifrigsten Gespräche; sie hatten sich so viel zu sagen, daß weit eher die Zeit zum Erzählen fehlen konnte, als der Stoff dazu. Für sie war das ganze Fest und die Menge der Gäste nicht da; denn sie feierten das Brautfest ihrer Herzen und machten den Volksspruch wahr, daß ein Paar Verliebter immer wie unter einem Glassturz sitze und, weil es von der übrigen Welt abgeschlossen sei, von ihr auch nicht gesehen zu sein glaube.
„Und wie ist es jetzt? Wirst Wort halten?“ fragte Stasi leise. „Wirst mir das goldene Büchsel geben?“
„Jeden Augenblick,“ entgegnete Martl ebenso. „Aber warum liegt Dir denn jetzt noch gar so viel d’ran? Was willst thun damit?“
„Errathst es nit? Statt Deiner will ich’s anhängen und will’s tragen zum Andenken – und wenn mich die Z’widerwurz’n wieder grüßen laßt, will ich d’ran hinlangen; aber es wird nimmer g’schehen.“
„Ja, das weiß ich g’wiß. Wie Du mir damals in der Krepp’n (Hohlweg) begegn’t bist, hast mich, eh’ Dir der Zorn ’kommen ist, gar so freundlich und so eigen angeschaut, das ist Deine Seel’ gewes’n, die mich gegrüßt hat – alles And’re, das war nur ein Nebel, wie er auf’n Berg’n liegt, der verfliegt, wenn die Sonn’ ’raufkommt.“
„Und Du?“ fragte Stasi wieder, indem sie sich näher zu ihm hinneigte. „Wirst auch alleweil lieb und gut bleib’n mit mir? Wirst es nit machen, wie’s in dem Schnaderhüpfl heißt, das Du auf’m Schieß’n in Länggries gesungen hast? Du weißt es schon:
Ueber’n Baum, unter’n Baum
’S Eichkatzl springt;
Sucht sich an and’re Nuß,
Bald’s die oa nit aufbringt.“
„Na, jetzt geht’s aus einem andern Ton,“ rief Martl, indem er seinen Hut schwenkte. „Jetzt heißt’s so:
Ueber’n Baum, unter’n Baum
’S Eichkatzl springt;
Laßt nit von sein’ Nuß’n,
Bis daß sie’s aufbringt.
Und die härteste Nuß
Hat den süßesten Kern,
Und diem (manchmal) kann auch a Röserl
Aus a Z’widerwurz’ wer’n.“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: mir