Die Zwillinge

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Autor: E. von Wald-Zedtwitz
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Titel: Die Zwillinge
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 439–443
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[439]

Die Zwillinge.

Novelle von E. von Wald-Zedtwitz.


1.

In der sogenannten Hundetürkei, jenem Fleckchen Erde, das ungefähr durch die Städte Torgau, Herzberg und Jüterbog begrenzt wird, liegt ein einsames Heidedorf – nennen wir es Büttelstedt. Anmutig ist dessen Umgebung gerade nicht: feuchte Wiesen, auf denen Wasserlachen stehen, Schilf und Binsen ihr üppiges Dasein führen und der Storch die reichlichste Nahrung findet; einige dürftige Felder, deren Hafer- und Roggenähren man ohne Mühe zählen könnte, einzelne Aecker, mit Wolfsbohnen bepflanzt. Das Ganze umschlossen von endlosen Kiefernwaldungen.

Und nicht weniger arm an Reizen ist das Dorf selbst. Altersmüde Hütten drängen sich aneinander, als ob sie sich in ihrer Baufälligkeit gegenseitig stützen wollten, und die schweren bemoosten Strohdächer lassen sie noch kleiner erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Nur Pfarr- und Schulhaus zeichnen sich durch ein modernes Gesicht und bessere Bauart aus, während zu einer Erneuerung der Kirche die Mittel offenbar nicht gereicht haben. Schwer und plump aus Feldsteinen errichtet, an denen es hier nicht mangelte, war der Turm im ersten Ansatze stecken geblieben.

Ein elendes Nest, dieses Büttelstedt, und doch hängen die, welche hier geboren und erzogen werden oder eigentlich mehr wild aufwachsen, mit zärtlicher Liebe an der kargen Heimat. Von niemand aber mochte das mehr gelten als von dem Siebmacher Karl Schmallstein, der mit seinem Weibe Friederike dort wohnte. Der geistige Gesichtskreis der beiden war so eng wie ihr körperlicher; Büttelstedt, Büttelstedt und noch einmal Büttelstedt und allenfalls noch jene drei Städte, welche die „Hundetürkei“ begrenzen – das war alles.

Auch diese Städte hätten sie nie gesehen, wären sie nicht alljährlich zweimal zu den großen Märkten dorthin gefahren, um ihre Siebe an den Mann zu bringen. Selbstedend war das jedesmal ein Ereignis. Bei dieser Gelegenheit kaufte auch Schmallstein alles, was zu seinem Geschäft gehörte – die biegsame Umrandung der Siebe, den Draht, das Blech und die Pferdehaare.

Heute saß der Meister so recht in seinem Gott vergnügt in seiner niedrigen engen Werkstatt an der Arbeit, neben ihm seine Frau, deren Sache es war, die Pferdehaare zu einem feinen Gewebe zusammenzufügen. Aber dieses Geschäft ging ihr nicht so flott von der Hand wie sonst, eine beklemmende Bangigkeit beschlich ihr Herz, denn sie fühlte, daß die Stunde sich nahte, in welcher sie ihrem häuslichen Glücke durch die Geburt des ersten Schmallsteinschen Kindchens die Krone aufsetzen sollte.

Ihr lieber Karl schmiedete Pläne auf Pläne: wurde es ein Sohn, so mußte er natürlich einmal Siebmacher werden, schenkte ihnen aber der Himmel eine Tochter, so dünkte dem guten Meister der reichste Bauerssohn noch lange nicht gut genug für sie.

„Laß’ es werden, wie es will, Mann – was der liebe Gott schickt, nehmen wir dankbar auf; wenn das liebe Kind nur gesund, brav und tüchtig wird, dann soll’s uns recht sein.“

„Ja, bei Gott, das soll es,“ rief der Meister gerührt und streichelte seiner Frau zärtlich die Wangen.

„Und halten wollen wir’s wie Gottes Ebenbild. Hegen und pflegen und besser erziehen wie die anderen Kinder im Dorfe,“ setzte die Meisterin, einen bittenden Blick nach oben werfend, hinzu.

Frau Schmallstein stellte die Arbeit ein, begab sich in die Kammer und legte die kleinen Sachen zurecht, welche sie liebevoll gestickt und genäht hatte. Am nächsten Morgen herrschte Jubel in der Hütte, so daß sie wie vom Sonnenschein durchleuchtet erschien; denn der Storch hatte sich sanften Flügelschlages auf das alte wackelige Strohdach niedergelassen und einen kleinen männlichen Sprossen in die rohgezimmerte Wiege gelegt.

„Ein Erbe,“ sagte Karl gerührt, denn bei ihm stand es fest, daß der Neugeborene auch für den Fall, daß sich noch mehr Kinderchen einstellen sollten, so wie es seit undenklichen Zeiten in Büttelstedt Sitte war, einmal das Haus, das Geschäft mit der Kundschaft, sowie den Grasgarten, die anderthalb Morgen Ackerland, den kleinen Waldteil und das Gemeindehütungsrecht von sechs Gänsen auf der Pfarrwiese erben sollte.

„Der soll in der Wolle sitzen; die anderen mögen sehen, wie weit sie durch ihrer Hände Arbeit kommen.“

Schmallstein schmunzelte dabei das kleine schreiende Zappelding voll väterlicher Zärtlichkeit an, während die bleichen Lippen der Wöchnerin ein freundliches zustimmendes Lächeln umspielte.

„Ja, so soll es sein, dazu gebe Gott seinen Segen,“ flüsterte sie, ohne den Blick von dem Knaben zu wenden.

Aber plötzlich wurde sie unruhig, und ehe sie es selbst dachte, begrüßte ein zweiter kleiner Weltbürger mit lautem Geschrei das Licht des Tages.

„Gottes Segen über uns!“ rief der Vater, während die Mutter halb bewußtlos in den Kissen lag. Zu guter Zeit erschien, atemlos vom nächsten Dorfe kommend, die Wehmutter wieder, begrüßte mit lautem Eifer das zweite Söhnchen, bereitete auch ihm ein Bad und bettete es dann fein säuberlich neben das andere in die Wiege. Da fing der Erstgeborene an zu schreien, gleich darauf der zweite, der Vater nahm den einen, dann den andern, während sich die Wehmutter bereits wieder entfernt hatte. So ging es eine Weile fort, bis der gute Schmallstein, der wohl mit Sieben, aber nicht mit kleinen Kindern umzugehen verstand, nicht wußte, wo ihm der Kopf stand.

Friederike, welche nun wieder vollständig bei Sinnen war, richtete sich ein wenig empor.

„Gieb mir nur einmal unseren Aeltesten her, ich will den kleinen Schreihals schon ruhig bekommen.“

„Hier!“ Karl reichte ihr den einen doch nahm er ihn sofort wieder zurück. „Nein dieser ist es wohl? Nun weiß ich’s wahrhaftig selber nicht mehr.“

„Aber lieber Mann, dieser ist es,“ dabei deutete Friederike auf den, welchen Schmallstein im rechten Arme hielt.

„Der andere ist es, verlaß Dich darauf.“

„Ich glaube, Du gehst falsch.“

Karl sagte das mit einer solchen Bestimmtheit, daß seine Frau auch daran glaubte; aber bald kamen ihr doch wieder Zweifel. Einer sah aus wie der andere: beide rot wie gekochte Krebse, beide mit blauen Augen, und dazu brachten sie jeder einen ganzen Kopf voll schwarzer Haare mit auf die Welt. Es war ja rein zum Verzagen. Dem Vater wurde jetzt ganz wirr im Kopf, denn die Sache war gar nicht unwichtig; man bedenke doch das Haus, den Acker und was alles noch damit zusammenhing, was der Aelteste einmal nach altem Recht und gutem Brauch erben sollte.

War die Erstgeburt nicht festzustellen, so konnte ja das größte Unrecht begangen werden.

Das schoß dem Meister jetzt alles durch den Kopf, aber er verschwieg es seiner Ehehälfte noch, damit diese sich darüber nicht beunruhige. Dafür nahm er sich vor, morgen die Wehmutter zu fragen, die mußte es ja wissen.

Der guten Frau war in ihrer langjährigen Praxis schon mancher verschmitzte Fall vorgekommen, aber so einer doch noch nicht.

„Hm – hm – ist es nun der oder ist es der?“

„Das frage ich Sie ja eben,“ antwortete der Meister.

„Wir hatten alle Hoffnung auf Sie gesetzt,“ klang es ängstlich vom Bette her, wo sich Frau Schmallstein Sorge machte, daß nicht etwa der Aeltere für den Jüngeren gehalten und dadurch in seinen Ansprüchen, welche er an das Leben zu machen hatte, geschmälert würde.

„In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Kinder durch rote und blaue Bändchen zu kennzeichnen,“ sagte die Frau mit salbungsvoller Weisheit.

Das schlug bei dem Siebmacher dem Fasse den Boden aus. „Das hätten Sie nur vorher sagen sollen; wenn die Herren vom Rathause kommen, so ist es gewöhnlich zu spät.“ Damit schob er die erstaunt Dreinschauende unsanft zur Thür hinaus.

Die Wehmutter aber hatte nichts Eiligeres zu thun, als die wunderbare Geschichte, welche das stille Glück des Ehepaares [440] Schmallstein recht empfindlich störte, mit geschwätziger Zunge im Dorfe herumzuklatschen. Nun kamen die lieben Muhmen und Basen, die ganze Freund- und Verwandtschaft, betrachteten mit klugen Gesichtern, mit neugierigen Augen und langen Nasen die Neugeborenen, doch nur um festzustellen, daß man ihnen nicht ansehen konnte, welcher der Aeltere, und welcher der Jüngere war, fanden aber im übrigen, daß es gesunde und wohlgeformte Kinder seien.

„Sie haben zu zweien keinen Platz in der Wiege; sehen Sie nur, Frau Gevatterin, ein Würmchen will das andere hinausdrängen,“ bemerkte mit ahnungsvollem Kopfschütteln die Muhme Finken.

„Einer strampelt mit den Beinchen gegen den andern,“ setzte Frau Schneidermeister Heller hinzu. Die Weiber gingen, steckten draußen die Köpfe zusammen und meinten, daß es ein verzwickter Fall sei, wie er sich in der Geschichte Büttelstedts noch niemals zugetragen habe und der außerdem mit ungünstigen Zeichen für die Zukunft begleitet sei.

„Ja, ja! Den Leuten ist’s immer zu gut gegangen, nun haben sie die Bescherung.“ – „Und ein bißchen hochmütig waren sie immer.“ – „Der liebe Gott sorgt schon, daß die Bäume nicht bis in den Himmel wachsen, aber leid thun können einem die armen Eltern doch.“ So schwatzten die lieben Freundinnen durcheinander, schickten regelmäßig ihr Wochensüpplein und dankten Gott, daß sie nicht in derselben peinlichen Lage waren wie das Ehepaar Schmallstein.

Diese sorgten sich wirklich, und ihr Kummer wuchs, je näher die Taufe heranrückte, wo die Angelegenheit entschieden werden mußte. Endlich war es soweit und der Prediger schlug vor, der höheren Fügung die Lösung zu überlassen.

„Dieser soll der Aeltere sein,“ sagte er mit feierlicher Stimme, ergriff ein rotes Bändchen und band es dem einen um den rechten Arm; „und dieser sei der Jüngere und durch ein blaues Bändchen gekennzeichnet.“

Die Eltern waren es zufrieden, wenn auch mit sorgendem Herzen, und legten dem Aelteren den Namen Fritz, dem Jüngeren den Namen Otto bei; der Volksmund aber kehrte sich nicht daran und nannte die Buben fürder nur den roten und den blauen Schmallstein.


2.

Die Knaben waren munter herangewachsen, der Ehebund der Eltern aber durch keinen weiteren Sprößling gesegnet worden. Man sprach nur noch wenig von der Angelegenheit aber vergessen war sie deshalb doch nicht. Wie hätte das auch in einem Dorfe, wie Büttelstedt eins war, geschehen können. Als Fritz und Otto, welche im besten Einvernehmen miteinander lebten und sich den Teufel drum scherten, wer älter oder jünger war, zum erstenmal die Dorfschule besuchten, lebte die Erinnerung an jene Begebenheit wieder einmal auf.

„Wie soll ich Euch denn nun setzen?“ sagte der Lehrer, „Du bist Fritz, nicht wahr, also der Aelteste, und kommst demnach über Otto zu sitzen.“

„Das wissen sie selber nicht genau,“ rief in diesem Augenblick ein vorwitziges Bürschchen, dem andere lachend beistimmten, denn gerade gestern war in den verschiedenen Häusern die Sache wieder lebhaft besprochen worden.

„Ich bin Fritz und bin älter als Otto,“ stritt der angeblich Erstgeborene dagegen, indem er keck den bevorzugten Platz einnahm, doch da stiegen plötzlich bei Otto Zweifel auf und er machte seinem Bruder denselben streitig. Ehe sich’s der Lehrer versah, lagen sich die Buben in den Haaren, so daß er sie mit Gewalt trennen mußte. Selbstredend fügten sie sich, grollten aber miteinander und setzten auf dem Heimwege sowohl als zu Hause die Streitigkeit fort.

„Aber Jungens, was habt Ihr denn nur?“ rief der Meister von seinem Schemel aus.

„Ihr habt Euch doch sonst so gut zusammen vertragen!“ mahnte Frau Schmallstein.

„Ich bin älter wie der,“ schrie Otto.

„Nein ich!“ behauptete Fritz.

„Ich!“ – „Ich!“ – „Ich!“ – „Ich!“ – „Ich!“ brüllten die Jungen durcheinander, wobei sie wie die Kampfhähne aufeinander einschlugen und sich an den Haareu zausten, bis der Vater mit der Haselgerte dazwischeu fuhr, den einen in die Kammer, den andern in den Holzstall steckte. Friederike aber hatte das Siebnetz, an welchem sie arbeitete, aus den Händen sinken lassen und schwamm in Thränen.

„Ach, diese unglückselige Verwechslung,“ rief sie klagend. „Meine Ahnungen haben mich nicht betrogen; nun ist der Streit da.“

„Die vertragen sich auch wieder,“ versuchte der Meister, sie zu trösten.

„Nein, nein, Mann, wenn so etwas erst anfängt, giebt’s kein Ende. Ich habe ’mal eine Geschichte gelesen von den feindlichen Brüdern, die war schrecklich, mit Blut und Totschlag hat sie geendet. Ach, du lieber Himmel, nun habe ich sie im eigenen Hause, da möchte man wohl fast sagen: lieber gar keine Kinder als solche, unter denen kein Vertragen ist.“ Frau Schmallstein führte die blauleinene Schürze gegen die Augen und weinte bitterlich; denn ihr schönes friedliches Dasein erschien ihr auf einmal vernichtet.

„Aber Frau, wer wird gleich so schwarz sehen,“ wandte Karl ein, aber es kam nur zögerud heraus und verfehlte deshalb auch seine Wirkung.

Schmallstein sah selbst düsteren Blickes in die Zukunft, und wenn er daran dachte, daß später einmal noch die tief einschneidende Frage über Mein und Dein da mit hineinspielen würde – o je! o je – o je! Er fuhr sich verzweifelt mit den Händen in die Haare.

Bei Tische saßen sich die beiden Knaben trotzig gegenüber; jeder versuchte zuerst mit dem Blechlöffel in die Schüssel zu langen, um für sich, in dem vermeintlichen Gefühl als Aeltester, den besten Bissen herauszufischen. Sonst war das nie der Fall gewesen und Friederike warf ihrem Manne einen verzweifelten Blick zu.

Bis dahin hatten die Knaben friedlich gemeinsam in einem Bett geschlafen, aber jetzt stießen und schlugen sie sich und einer wollte den Platz des andern haben. Vater Schmallstein fuhr zwar nicht nur mit einem Donnerwetter, sondern auch mit dem Stock dazwischen, aber das half gerade nur für die eine Nacht, so daß schließlich nichts anderes übrig blieb, als die feindlichen Brüder zu trennen.

Die Eltern bekümmerte dies tief. Sie hatten sich vorgenommen, ihre Kinder so recht gut und gottesfürchtig zu erziehen und nun prügelten sie sich auf der offenen Straße viel schlimmer als die anderen, warfen sich mit Steinen und kamen mit zerrissenen Kleidern und mit zerzausten Haaren nach Hause.

Weder Strafen noch gute Worte wollten helfen. Endlich erlahmte die Kraft der Eltern, sie ließen die Sache gehen, wie sie eben gehen wollte, härmten sich und kamen in ihrem grenzenlosen Kummer überein, daß es wirklich weit besser sei, gar keine Kinder zu besitzen als solche.

Je älter die Knaben wurden, desto mehr stieg ihre Feindschaft. Die Kinder in der Schule, mit denen sie spielten, nahmen Partei für den einen oder den andern, so daß sich die jugendliche Bevölkerung des Dorfes in zwei Heerlager teilte, von denen Otto das eine, Fritz das andere anführte. Auf den Gassen von Büttelstedt wurden jetzt förmliche Schlachten geschlagen und als der lahme Polizeidiener ein machtiges Halt geboten hatte, wurde ihr Schauplatz in den nahen Wald verlegt.

Die Eltern Schmallstein vergingen fast vor Kummer und sahen doch keinen Ausweg.

Fast ebenso schwer wie diese hatte die kleine Lina Vogelsang darunter zu leiden, ein niedliches flachsköpfiges Mädchen, deren Vater sich damit ernährte, daß er den Leuten von Büttelstedt die Stiefeln und die Schuhe ausbesserte, während er zur Anfertigung neuer sich nicht verstieg oder vielmehr seitens seiner Landsleute, welche sich das fertige Schuhwerk auf den Jahrmärkten kauften, nicht veranlaßt wurde.

Lina war sowohl mit Fritz wie mit Otto Schmallstein befreundet und beide Knaben überwachten eifersüchtigen Auges die Beweise von Zuneigung, welche das kleine Ding dem einen oder dem andern gab. Das arme Linchen – wie ein Federball wurde sie herumgeschleudert!

„Du spielst mit mir Verstecken,“ sagte Otto eben.

„Ja, ja!“ Und freudig lief sie mit ihm davon.

„Du sollst mit mir Kämmerchen vermieten,“ rief Fritz dagegen und riß sie mit sich fort.

„Ich wollte gern, aber –“

„Ach was, hierher gehörst Du!“ Fritz ergriff sie am einen, Otto beim andern Arm, Linchen brach in Thränen aus; die Knaben rauften sich und dabei erhielt sie Knüffe und Püffe sowohl von diesem als von jenem.

[442] Um sie zu versöhnen, kaufte ihr der rote Schmallstein bei dem Allerhandskrämer, welcher so leichtsinnig gewesen war, sein Glück in Büttelstedt zu versuchen, einen Gummiball, wahrend der blaue sich bis zu einer Fünfzigpfennigspuppe verstieg. Linchen war glücklich, nahm beide Geschenke, mußte jedoch zu ihrem Kummer erleben, daß Fritz ihren Ball in das Wasser warf, während Otto die Puppe bei den Beinen ergriff und sie mitten auseinander riß, so daß die Sägespäne, welche den ledernen Balg füllten, in alle Winde stoben.

„Etsch-etsch, ich habe von Linchen einen Apfel bekommen,“ höhnte ein andermal Fritz.

„Und ich eine Birne, ha – ha – ha –“ spottete Otto. Der Streit war wieder im Gange und endete damit, daß die beiden Knaben die Früchte dem beklagenswerten Mädchen an den Kopf warfen.

So gingen die Jahre hin, und wenn sich auch der Haß der Brüder nach und nach nicht mehr so offen bekundete, so glomm er dennoch wie der Funke unter der Asche fort. Ein Windzug – und er konnte sich zur offenen Flamme entfachen. Und dieser Anlaß kam.

Die Knaben waren zu Jünglingen gereift, Linchen zur Jungfrau, und die Freundschaft der Brüder zu dem Mädchen hatte sich in Liebe verwandelt. Heute abend war Pfingstbier, da durfte kein tanzfähiges Büttelstedter Menschenkind im Kruge fehlen.

Lina begab sich dahin nur mit Zittern und Zagen; denn das war wieder eine Gelegenheit, um den eifersüchtigen Zorn der Schmallsteinschen Brüder auflodern zu lassen. So recht lieb hatte sie keinen von beiden, aber das wagte sie aus Angst nicht zu gestehen und so tanzte sie abwechselnd mit dem einen und mit dem andern. Nun handelte es sich aber darum, neben welchem sie in der Kaffeepause sitzen sollte.

„Du kommst an meinen Tisch,“ sagte Otto.

„Das fehlte noch,“ rief Fritz, „hier gehörst Du her.“

Lina wagte den Streit nicht zu entscheiden, da mußte wieder die Faust der Brüder helfen, welche wutentbrannt hinaus auf den Dorfplatz stürzten, um ihre Sache dort auszufechten; sie aber, Schlimmes ahnend, eilte ihnen nach und trennte sie.

„Gut!“ sagte Otto, „entscheide, mit wem von uns beiden Du gehen willst!“

„Ja, sag’ ’mal aufrichtig, wen Du lieber hast, den oder mich?“ brauste Fritz auf.

Lina wurde es himmelangst, eine Entscheidung wollte sie nicht treffen und so lief sie denn nach Hause. Viel sollte ihr das nicht helfen, denn beide jagten ihr nach und langten fast gleichzeitig vor dem Schuhmacher Vogelsang an, welcher noch spät am Abend hinter der mit Wasser gefüllten Lichtglaskugel auf seinem dreibeinigen Schemel saß und die Stiefeln des Ortsschulzen ausbesserte.

Vogelsang sah über die große Hornbrille hinweg, die aufgeregt hereinstürmenden Drei voller Erstaunen betrachtend.

„Die Sache muß klär werden,“ rief der eine.

„Der Kram muß in Ordnung,“ der andere, während sich Linchen still weinend in die dunkelste Ecke des kleinen Zimmers drückte.

Nun trugen die Brüder, sich gegenseitig unterbrechend, dem Meister Vogelsang ihre Wünsche vor.

Der Alte zog den Fuß aus dem Knieriemen, mit dem er den Stiefel des Schultheißen festgehalten hatte, so daß er polternd auf den Boden fiel, und kratzte sich hinter dem Ohre.

„Hm – hm – das ist eine kitzlige Frage, die muß denn doch eigentlich die Line entscheiden; aber wenn es auf mich ankäme, so würde ich den zu meinem Schwiegersohn nehmen, der einmal das Anwesen kriegt und das Geschäft; aber wer es kriegt, das mag der Teufel wissen, denn Euere Eltern wissen ja selbst nicht, wer von Euch der Aelteste und der Jüngste ist.“

Das Anwesen? Das Geschäft? – Daran hatten sie beide noch gar nicht gedacht.

Die Liebesangelegenheit trat mit einem Schlage in den Hintergrund und der Eigennutz nahm deren Stelle in der Brust der jungen Leute ein.

„Vater, wie ist das? Wer bekommt Haus und Hof?“ fragten sie am nächsten Morgen alle beide.

Meister Schmallstein saß da wie versteinert und Friederike zitterte wie Espenlaub. Beide aber blieben die Antwort schuldig.

„Ich natürlich, ich bin der Aelteste,“ warf Fritz ein.

„Nein, ich! Denn kein Mensch kann beweisen, daß ich der Jüngste bin,“ donnerte Otto dagegen.

Der Siebmacher, welcher unter dem gegenseitigen Haß seiner Kinder vorzeitig zum alten Mann geworden war und einen guten Teil seiner früheren Willenskraft eingebüßt hatte, zog sich förmlich in sich zusammen und starrte trübe auf seinen Handwerckstisch.

„Leider muß ich bekennen,“ sagte er nach einer Weile mit gebrochener Stimme, „daß ich selbst nicht weiß, wer von Euch zuerst auf die Welt gekommen ist, und so hab’ ich denn beschlossen, wenn mich der liebe Gott abberuft, mein Anwesen unter Euch zu teilen; dann hat jeder sein Recht.“

Das entfesselte einen gewaltigen Sturm. Otto und Fritz wollten davon nichts wissen und beide beanspruchten das Erbe für sich ganz allein. Friederike rang in stummer Verzweiflung die Hände. Der Meister aber ermannte sich und sprang von seinem Sitze auf.

„Es bleibt so, wie ich es bestimmte, und wenn Ihr’s nicht zufrieden seid, gebe ich jedem seinen Pflichtteil und vermache das Ganze der Gemeinde.“

Die Brüder lachten höhnisch.

„Nun dann, adjes Vater, mich hast Du gehabt!“ Damit ging Otto, schnürte sein Bündel und wanderte zum Dorf hinaus.

„Und ich bleibe auch nicht hier,“ war Fritzens Antwort, und eine Stunde später verließ dieser seine Heimat in entgegengesetzter Richtung.

„Nun haben wir gar keine Kinder mehr,“ jammerte Frau Friederike.

„Lieber gar keine als solche,“ sagte der Meister mit thränenerstickter Stimme, dabei umarmte er sein unglückliches Weib, zärtlich wie in besseren Tagen; dann setzten sie sich nieder und arbeiteten schweigend an ihren Sieben.


3.

Jahr auf Jahr war vergangen, Otto und Fritz hatten nur einmal geschrieben, und zwar an die Ortsbehörde, um sich ihre Militärpapiere schicken zu lassen. Ein halbes Jahr später war die Nachricht gekommen, daß Otto bei einem Infanterieregiment in Breslau, der andere beim Füselierregiment in Saarlouis als Gemeine eingestellt worden seien. Sofort schrieb der Meister an beide, erhielt aber keine Antwort, und so grämten sich die alten Leute weiter, dabei fleißig ihr Geschäft besorgend.

Die Söhne lebten noch, das wußten sie wohl, denn sonst würden die Totenscheine eingegangen sein.

Da brach im Jahr 1870 die Zeit des großen Kriegs an. Ganz Deutschland starrte in Waffen und auch aus dem Dorfe Büttelstedt rückten die Reservisten und Landwehrmänner ab, um sich unter die Fahne zu stellen. Weithin gab man ihnen das Geleit, und auch Lina, welche einen ehrbaren Klempner geheiratet hatte, begleitete ihren Mann thränenden Auges ein gutes Stück.

Die Trennung wurde ihr herzlich schwer, denn sie hatte bisher sehr glücklich mit ihrem Johann gelebt, weit glücklicher, als sie es wohl mit Otto oder Fritz Schmallstein geworden wäre.

Doch hatte sie die Brüder keineswegs vergessen und den verlassenen Eltern derselben war sie getreulich zur Seite gestanden, um sie in ihrem Kummer zu trösten. Auch that sie gelegeutlich der alten Mutter, welche recht wackelig geworden war, allerhand Hilfeleistung. So war sie den gnten Leuten allmählich wie eine Tochter ans Herz gewachsen.

Der alte Schmallstein hatte ihren ersten Sohn und Friederike ihr kleines Mädchen aus der Taufe gehoben und beide nahmen sich jetzt in dieser schweren Kriegszeit der armen jungen Frau an, als wenn sie ihre Eltern wären.

Von allen Seiten strömte die bewaffnete Macht der französischen Grenze zu. Blitzende Bajonette, wohin das Auge sah, die Welt dröhnte vom Rasseln der Kanonen, und säbelklirrend, in Staub gehüllt, zog die deutsche Kavallerie dem Erbfeinde entgegen. Mitten unter ihnen König Wilhelm, umgeben von seinen bewährten Führern.

Sonnengoldig war der 16. August angebrochen, jenseit der Mosel, unweit Metz, tobte die Schlacht. Da brüllten die Geschütze, da knatterten die Salven, da dröhnte die Erde unter dem Hufschlage der anstürmenden Rosse.

Der Kanonendonner ist der Magnet, welcher den deutschen Kriegsmann unwiderstehlich anzieht, unaufhaltsam folgte ihm [443] Regiment auf Regiment und auch das ruhmreiche Breslauer, in dem Otto stand, veränderte die ursprüngliche Richtung seines Marsches und schlug den Weg ein, welcher ihm zu den alten neue unsterbliche Lorbeeren einbringen sollte.

Auf der Höhe jenseit des Städtchens Gorze machten sie Halt, um weitere Befehle abzuwarten.

„Hurra – hurra!“ Von der andern Seite rückten Füseliere heran und ein Kommando vereinte schnell die beiden Regimenter zu einer Brigade.

Die Kriegsfurie raste, dröhnendes Beben brauste von Metz her durch die Luft, Dörfer brannten und dicker Qualm zog über das Schlachtfeld. Granate auf Granate sauste über die Köpfe der beiden vereinigten Truppen, eine schlug hier, die andere dort ein, und der Tod hielt furchtbare Ernte in den Reihen der Lebenden.

„Avancieren!“ ertönte das Kommando. Gemeinsam betraten sie den Weg des Todes. Der Wald war durchschritten, in aufgelösten Schützenschwärmen erklommen die beiden Regimenter, das blaue und das gelbe, die dahinterliegenden Höhen, in der Aufregung des Kampfes bunt durcheinander gemischt.

Mannschaften und Führer fochten wie die Löwen. Zwei Sergeanteu aber – ein gelber und ein blauer –, welche dicht nebeneinander kämpften, thaten sich vor allen anderen hervor. Pulvergeschwärzt hatte einer kaum auf den anderen geachtet, jetzt aber, als es galt, den Graben dort gemeinsam zu besetzen, schritten sie aufeinander zu.

„Fritz!“

„Otto!“

Einen Augenblick starrten sie sich an, dann breiteten sie weit die Arme auseinander und lagen sich weinend an der tapferen Männerbrust. Angesichts des Todes, im Augenblicke, da die deutsche Waffenbrüderschaft mit Blut und Eisen für alle Zeit besiegelt ward dem großen mächtigen Erbfeind gegenüber, da hatte auch die unnatürliche Feindschaft der Brüder ein Ende und die reine schöne Liebe, welche die so lang entzweiten deutschen Volksstämme einte, einte auch ihre Herzen.

„Vorwärts!“ erscholl das Kommando des Offiziers.

Die Brüder lösten sich aus der Umarmung.

„Jetzt schütze uns Gott!“ rief Fritz.

„Damit wir nun endlich unseren Eltern Freude machen können,“ entgegnete der andere, ebenso weich gestimmt wie dieser, denn beide wußten jetzt, da sie selbst Kinder hatten, was es für ein schönes Ding um die Elternfreude ist.

Und der Herrgott, der Lenker der Schlachten, hielt seine schirmenden Flügel über sie.

Als nun die Friedenstrompete durch das Land erschallte, als Deutschland geeint erstanden war, da marschierten zwei schmucke bärtige Sergeanten, der eine mit gelben, der andere mit blauen Achselklappen, beide geehrt durch das Eiserne Kreuz, in das stille weltvergessene Büttelstedt ein.

Vor dem Häuschen des Siebmachers hielten sie an und sahen durch das blankgeputzte Fenster. Da saßen die beiden grauen Alten, fleißig an der Arbeit wie immer.

Gemeinsam klopften die beiden Soldaten an die Scheibe, der Meister rückte die Brille, die Meisterin erhob das Auge, dann standen sie langsam auf und gingen zu der Thür.

„Mutter, wir bekommen Einquartierung.“

„Mir soll’s recht sein, Vater.“

„Ja, Einquartierung, und was für welche!“ tönte es ihnen da entgegen, und ehe sie es dachten, wurden sie unter Lachen und Weinen von ihren wiedergekommenen und versöhnten Zwillingen umhalst.

Der schönste Friede, für sie noch schöner als der, welchen die streitenden Völker geschlossen, hatte sich auf das Häuschen des Siebmachers in der sandigen Heide niedergesenkt. Froher als die vier glücklichen Menschen stimmte am nächsten Sonntage in der kleinen ruinenhaften Kirche wohl niemand mit ein in das alte Lied „Nun danket alle Gott!“

Doch, eine! – Lina, die, umgeben von Mann und Kindern, neben den glücklichen Schmallsteins saß.

Und doch wäre es beinahe zwischen ihnen wieder zu Streitigkeiten gekommen. Otto wollte, daß Fritz das Anwesen erbe, während dieser es dem Bruder zu überlassen wünschte.

„Ihr teilt!“ entschied der Meister. „Gott gebe nur, daß ich jetzt noch recht, recht lange mein Häuschen und mein Geschäft mit meiner Alten allein verwalten kann.“

„Ja, das gebe er,“ sagten die Zwillingsbrüder, dann verließen sie das Dorf mit dem Versprechen, im nächsten Jahre wiederzukommen und Weib und Kind mitzubringen, was sie des öftern gehalten haben.