Die beiden Culturträger in Centralasien
Es ist nicht unsere Absicht, hier auf die Vorgänge in Afghanistan, wie sie in den letzten Monaten durch die Zeitungen bekannt geworden, abermals zurückzukommen. Nichts liegt uns ferner. Aber bei der fortdauernden hohen Bedeutsamkeit der Ereignisse wollen wir versuchen, einige Erscheinungen, die in Land und Leuten, in Natur und Geschichte Afghanistans tief begründet sind, hervorzuheben und damit zugleich auf den sich hier abspielenden unvermeidlichen Naturproceß – Darwinscher Kampf um’s Dasein möchte man sagen – andeutend hinzuweisen.
Wie zwei drohende Wetterwolken, die verderbenschwer mit elektrischer Materie überfüllt sind, nähern sich in Centralasien Rußland und England. Früher oder später – das ist klar – werden sie an einander stoßen und sich furchtbar entladen. Ob und wann diese Entladung einem neuen Völkerleben gedeihlich werden wird, wie ein Wettersturm, der Wohnstätten niederwirft, Wälder entwurzelt und weite Strecken verheert, aber die Luft reinigt vom Pesthauch einer verderblichen Stagnation, und ferner: welchen Verlauf und welche Folgen der russische und indobritische Zusammenstoß für Centralasien, für die turkestanischen, turanischen, für die indischen Länder und Völker haben wird – dies heute vorauszusagen, liegt außer der Fähigkeit menschlicher Beurtheilung. Aber es gewährt schon hohen Reiz, die Vorbereitung und Entwickelung dieser asiatischen Vorgänge zu belauschen und die Merkmale nahe bevorstehender Wandlungen wenigstens versuchsweise zu deuten.
Die Cultur, die Civilisation der Menschheit ging bekanntlich Jahrtausende in der Richtung des Sonnenlaufes, von dem Morgenlande Asien nach dem Abendlande Europa, von hier weiter nach Amerika und endlich in vollendetem Kreise wieder nach Asien zurück. Die Vereinigten Staaten trugen abendländische Cultur nach den ältesten Culturstaaten des Morgenlandes, nach Japan und China. So wird nunmehr das Wort von dem rückläufigen Culturgange vom Abendlande zum Morgenlande zur Wahrheit, und die Aufgabe Europas ist jetzt, das älteste Festland, die Heimath aller Religionen und Culturen zu europäisiren. Russen und Briten haben seit geraumer Zeit vom Norden und Süden diese Mission übernommen und stehen nunmehr in Centralasien als Rivalen einander gegenüber.
Wie sehr verschieden sind die Mittel, Wege und Werke dieser beiden Culturträger in diesem Erdgebiet! Rußland rückt auf großen, nur von Flüssen durchschnittenen Ebenen vor; das Mutterland wächst gleichsam gegen Asien hinaus; der Zusammenhang mit der Eroberung wird nie unterbrochen. Großbritannien hat keinen Zusammenhang mit seinen fernen Besitzungen, oder es bietet ihn nur das Meer und die Herrschaft über das Meer, das vergänglichste Moment politischer Kraft. – Die Russen dehnten sich bisher unter derselben Zone aus, die sie geboren hatte. Das Klima ist dasselbe in Sibirien und den turkestanischen Steppen, wie im südlichen Rußland. Wäre Rußland diesseits des Kaukasus geblieben, wäre es nicht hinabgestiegen in die Ebene des Kur und Araxes, wo der Wein wild seine Rebe um die Ulme spinnt, wo die Früchte der Citrusarten ungeschützt reifen, wo die Seidenzucht, ja sogar der Indigobau gelingt – man könnte behaupten, das russische Reich erfreue sich mit geringen Abweichungen einer meteorologischen, klimatischen Einheit. Die Briten dagegen haben sich aus einem vor Extremen völlig geschützten Seeklima der gemäßigten Zone in das Palmenklima gewagt, wo der Europäer die senkrechten Strahlen der Sonne nicht ungestraft auf seinen Scheitel fallen läßt.
Aus diesen Ursachen folgte einfach, daß die Engländer wohl asiatische Reiche erobern, beherrschen und ausbeuten, sie aber nie bevölkern konnten. Rußland dagegen hat nicht bloß die große sibirische Ebene entdeckt, es hat sie auch zuerst der Cultur gewonnen. Wenn heute Indien den Briten entrissen würde, so bliebe von der ehemaligen Herrschaft nichts übrig, als der Raum, den sie in den Jahrbüchern der beherrschten Völker einnehmen wird. Wenn heute dagegen Sibirien sich vom Mutterlande losreißt, so wird dieser Theil asiatischer Cultur immer seinen russischen Charakter behalten, wie Nord- und Südamerika ihre europäische Abkunft nie verleugnen können.
Die Russen haben sich ferner über eine beinahe unbewohnte Welt ausgebreitet. Die Völker, die sie fanden und sich unterwarfen, waren entweder Wilde oder Hirten oder Jägervölker. Sie brachten zuerst den Ackerbau nach dem Norden und Nordosten Asiens. Jedenfalls waren sie geistig unendlich jenen Wanderstämmen überlegen, und wie es immer geschieht, wo ein stärkeres und höher geartetes Volk andere Menschenstämme berührt, die physisch und geistig tief unter ihm stehen und in minder geschlossenem gesellschaftlichem Verband leben: die stärkere Race entzieht der schwächeren die Lebensbedingungen, und das eine Geschlecht stirbt unrettbar hinweg, wenn man auch nicht sagen kann, es sterbe eines gewaltsamen Todes.
Ganz anders sind die Briten in einem der dichtest bevölkerten Reiche vorgedrungen, wo nicht blos Ackerbau, sondern auch Gartenwirthschaft und Fruchtbaumpflege herrschte. Sie stießen auf hochcultivirte Völker, die ihre eigene originelle Entwickelung hinter sich hatten, welche wenig oder nichts von der fremden Civilisation brauchen mochten, welche nur durch ihres Gleichen, nicht durch den fremden Eroberer regiert werden konnten. Und so wenig hat sich durch die britische Herrschaft in den inneren gesellschaftlichen Verhältnissen Indiens geändert, daß dort noch wie vor länger als 2000 Jahren tatsächlich die höchste Kaste herrscht, die Brahminen.
So besteht denn auch zwischen der civilisirenden Thätigkeit der Russen und derjenigen der Briten ein großer Unterschied. Jene erwerben die Welt, die sie erobern, der abendländischen christlichen Cultur; die Eroberungen dieser haben wenig oder gar nichts mit der Ausbreitung unserer Cultur zu thun. Völkerschaften, die eine originelle geistige Entwickelung hinter sich haben, gehen ihren eigenen Weg, sie können beherrscht, unterdrückt und ausgerottet, sie können auch materiell erzogen, gehoben, administrativ gepflegt werden – sittlich vermag man nichts an ihnen zu ändern. In diesem Sinne darf man wohl sagen, daß die Ausbreitung der russischen Herrschaft dauerhaft, nicht episodisch sei, wie die britischen Eroberungen, die mit Hülfe der schwankenden See ihren Anfang nahmen und mit der Wellenbeherrschung ihr Ende erreichen werden. Es ist schwer zu sagen, wer von Beiden, Russen oder Briten, hier größere Eroberungen gemacht hat. Zählen wir die Bevölkerung, die unterworfen wurde, so haben die Briten den Löwenantheil, denn sie haben seit noch nicht anderthalb Jahrhunderten im Durchschnitt jährlich fast zwei Millionen Menschen dem britischen Reiche gewonnen. Nehmen wir dagegen den Raum als Maßstab, so übertrifft die Ausdehnung der russischen Eroberung alle bisherigen Erfahrungen der Geschichte.
Bis zum Jahre 1747 erstreckte sich das persische Reich vom Fuße des Kaukasus bis zum Indusdelta. Damals war Persien noch eine asiatische Großmacht, Indien ein noch im Wachsthum begriffenes Actiengeschäft von Engländern, Rußland von ehrgeizigen Vergrößerungsinstincten nach allen Seiten ergriffen und die Türkei noch nicht zum bloßen geographischen Begriffe hinabgesunken. Von eifersüchtigem Bewachen des beiderseitigen Vorgehens, von einem Rivalisiren konnte damals nicht die Rede sein. Heute ist das Sultanreich kaum mehr ein geographischer Begriff; Persien ist aus den activen Staaten gestrichen; Rußland steht in Mittelasien mit gesicherter Position und fester politischer Tendenz; Indien ist in natürliche Grenzen abgerundet und aus einer Kaufmannscolonie ein integrirender Theil des großbritannischen Reiches unter der gemeinsamen Königin als Kaiserin geworden; in unverhohlener Eifersucht stehen die beiden Rivalen an den Grenzen des letzten Bollwerks, das sie trennt, einander gegenüber – an den Grenzen Afghanistans.
Das erste französische Kaiserreich war es, welches zuerst das Gegenüberstehen beider Mächte in Mittelasien zu einem politischen Gegensatze zupitzte; und schon damals wurde Afghanistan mit in Rücksicht genommen. Napoleon’s Eroberung Aegyptens und seine abenteuerlichen phantastischen Pläne zu einem modernen Alexanderzuge nach Indien ließen die Regierung von Britisch-Indien mit Afghanistan und Persien ein Schutzbündniß schließen, während andrerseits Napoleon nach dem Frieden zu Tilsit mit Rußland sich verbündete, um England in Indien zu bekämpfen.
„Man sprach damals zu St. Petersburg,“ erzählt Thiers, „in vertraulichen Stunden viel und häufig von einem Zug gegen die Engländer in Indien. ‚Wenn nur die große Entfernung, [288] wenn nur die Wüsten nicht wären,’ meinte der Czar, ‚und Lebensmittel für Menschen und Thiere leicht herbeigeschafft werden könnten.’ – ‚Nun,’ erwiderte der französische Gesandte Caulaincourt, der sich wenig um die Erdkunde Asiens bekümmert haben mochte, ,die russischen Truppen, welche von Irkutsk an die Ufer des Rheins gekommen sind, werden auch mit derselben Leichtigkeit zu dem Indus kommen.’“ – –
Mit dem Fall Napoleon’s waren auch diese Pläne gefallen und vergessen und England vernachlässigte es gründlich, eine engere Verbindung mit Afghanistan zu gewinnen. Seitdem aber hat Rußland erst vorsichtig, dann immer dreister die Bewegung nach dem südlichen Asien begonnen, indem es zugleich die Türkei und Persien von seinen dortigen Wegen abschnitt; Kaiser Nicolaus wie Alexander der Zweite – Beide haben ihre Eroberungsgelüste mit großer Ausdauer gegen die mittelasiatischen, vom Padischah und vom persischen Khan losgelösten Fürsten gerichtet. Zuerst durch Räuberanfälle aus Turkmanien, Chiwa und Persien auf die ostasiatischen Karawanen, welche die russische Grenze zum Austausche ihrer Producte gegen europäische aufsuchen , ist Rußland bewogen worden, vom Aralsee östlich vorzudringen. Dann mischte es sich in die Prätendentenstreitigkeiten asiatischer Dynastien bis zum Hindukusch, dem Paropamisus der Alten, der immer die westliche Grenzscheide im Norden Indiens von Centralasien gewesen war. 1876 schritt es endlich zur Einverleibung von Khokan. So haben die Ereignisse zuletzt Afghanistan für Rußland und England die höchste Bedeutung gegeben, als der Barrière, welche den Zusammenstoß der beiden feindlichen Mächte zurückhalten und verhindern kann, und es lag daher seit geraumer Zeit im Interesse der Russen und Briten, die Herrscher von Afghanistan für sich und ihre Absichten zu gewinnen.
Der Hof von Kabul und Kandahar wurde der Schauplatz für das diplomatische Lügenspiel, der feile Markt für erkaufte Bündnisse und Wortbruch. Der Afghanenfürst und die räuberischen Turkmanenstämme der Nachbarschaft streckten die habgierigen Hände nach allen Richtungen, nahmen von Russen und Briten und täuschten beide. Die neuesten Vorgänge, die Flucht und der Tod Schir Ali’s, der den problematischen Muth hatte, den Briten den Fehdehandschuh hinzuwerfen, setzen wir als bekannt voraus, und geben nur in einem kurzen Nekrolog desselben ein typisches Bild eines Afghanenfürsten.
Dost Mohammed Khan, der Vater Schir Ali’s, hatte mehr als sechszehn Söhne und etwa noch einmal so viel Töchter. Schir Ali war der jüngere, 1825 geborene Sprosse von einer der späteren Frauen. Seine Jugend verbrachte er, wie alle afghanischen Prinzen, in Uebung der noblen Passionen und des Kriegshandwerks; seine Bildung war mäßig. Obgleich ein jüngerer Sprößling, wurde er mit Hintansetzung des älteren Bruders früh zum Nachfolger bestimmt.
Schir Ali war vor Allem Krieger und gefiel sich am meisten in der turkmanischen Reitertracht, in langem Oberrock und Pelzmütze, wie ihn unser Bild zeigt. Er war von kräftiger, gedrungener Gestalt, mit breitem Kopf und etwas länglicher Nase. Seine Gesichtszüge hatten das Gepräge von Ruhe, fast Melancholie, während sein Blick Schlauheit und Tücke verrieth. In einem Lande, wie das seinige, wo Herrschermacht und Einfluß nur durch reiche Besoldung der zahlreichen hungerigen Khane und Serdare zu bewerkstelligen ist, und wo der Feinde so viele auf ihren Posten lauern, ist es leicht erklärlich, daß er vor Allem nach Vermehrung der Geldmittel strebte. So hat er denn auch wie ein cultivirter Depossedirter und fürstlicher Durchgänger ein namhaftes Vermögen auf seiner Flucht mitgenommen. Als Kind dem Bruderneid ausgesetzt, hatte Schir Ali schon früh in der Schule der Ränke viel gelernt. Er war mißtrauisch gegen seine Umgebung, noch mehr gegen seine Brüder. Seit 1863 auf dem väterlichen Thron, hatte er einen langen ränkevollen Kampf mit seinen Brüdern zu bestehen, dem, nach siegreicher Beendigung desselben, alsbald ein neuer blutiger Intriguenkampf mit dem eigenen Sohn, nunmehrigen Nachfolger, Jakub Khan sich anschloß.
Möglich, daß Schir Ali ohne diese harten Schicksalsschläge [289] ein besserer Fürst geworden wäre, da auch ein Fall von Gutmüthigkeit und Liebe ihm nacherzählt wird. Es wird berichtet: Im Bruderkriege um die Krone standen beide ziemlich gleichen Heere einander gegenüber. Ein jüngerer Sohn Schir Ali’s befehligte die Vorhut der Truppen seines Vaters. Der Andrang des feindlichen Onkels ward unerwartet stark, und der Neffe mußte einige Schritte zurückweichen. Dieses bemerkend, stürmte der Vater auf denselben ein, schalt ihn einen Feigling und befahl ihm, den Kampf sofort zu erneuern.
Der Sohn stürzt sich nun mit verdoppelter Wuth auf den Gegner, trifft im Handgemenge mit dem befehligenden Onkel zusammen und fällt im tapferen Zweikampfe. Die Schlacht war für Schir Ali gewonnen, sein Thron befestigt. Doch der Tod seines Lieblings betrübte ihn so sehr, daß er in Tiefsinn verfiel, tagelang keine Speise zu sich nahm und immer den Namen seines geliebten Sohnes ausrief. Kein Wunder, wenn damals in Centralasien von seinem Wahnsinn gesprochen worden ist. Trotz dieser Zartheit des väterlichen Herzens war Schir Ali gegen seinen zweiten Sohn, Jakub Khan, ein ungerechter, barbarischer Vater.
Ehe wir von dieser seiner Eigenschaft Näheres berichten, sei zuvor bemerkt: Schir Ali lebte, wie alle orientalischen Fürsten, in Polygamie. Sein Harem zählte an dreihundert Landestöchter. Die Polygamie der Fürsten ist höchst gefährlich. Die Nachfolge wird unter einer übergroßen Zahl von Söhnen immer streitig bleiben, und für jeden der Sprößlinge werden im Palaste des Sultans Umtriebe gesponnen. Die heiligsten Bande der Familie, die Geschwisterliebe, die religiöse Verehrung des greisen Vaterhauptes und das berauschende Entzücken vor dem Augenlicht des eigenen Kindes fehlen in den asiatischen Regentenhäusern gänzlich. Die Söhne einer und derselben Mutter und noch weit mehr diejenigen von verschiedenen Müttern sind sich fremd, und schlimmer als fremd, denn sie werden im Haß gegen einander aufgezogen; der tödtlichste Feind eines asiatischen Prinzen ist stets der leibliche Bruder, nach dem Bruder aber der Vater. Daß Geschwister einander vergiften, daß Söhne ihre Väter enthaupten, Väter ihre Söhne blenden ließen, sind dort die allergewöhnlichsten Vorkommnisse; der Verwandtenmord ist sogar zur Regel geworden. Daher der häufige Wechsel der Dynastien, der häufige Uebergang vom Glanz zum tiefsten Verfall. Daß ein mohammedanisches Regentenhaus, die osmanische Dynastie, über sechstehalb Jahrhunderte sich auf dem Throne behaupten konnte, würde ein Wunder scheinen, wenn wir nicht wüßten, daß es Staatsgesetz im osmanischen Reiche ist, sobald Erben des regierenden Sultans vorhanden sind, die Brüder des Khalifen zu erwürgen, und daß die Wehmütter in dem Augenblick, wo die Tochter eines Sultans einen Knaben gebärt, mit dem ersten Schrei das Leben des Kindes ersticken. Diese grauenhafte Ordnung ist Weisheit und Erbarmen, denn es ist hier besser, daß ein Prinz stirbt, als daß seinetwegen im Aufruhr Tausende umkommen. Daß aber der politische Mord sich durch Menschlichkeitsrücksichten empfehlen läßt, beweist eben, ein wie großes sociales Uebel überhaupt die Polygamie ist. Es bedarf daher zum Umsturz eines solchen Reiches, in dem die Polygamie auf dem Throne heimisch ist, nur außerordentlich geringer Anstrengung, wenn man aus der Nachbarschaft desselben mit Geschick die politische Praxis beobachtet, wie sich die Dynastien dort zu bekriegen pflegen. Dank der Polygamie, giebt es überall im Orient für die Throne einen großen Vorrath von Prätendenten, Brüdern, Oheimen und Söhnen, welche am Nachbarhofe für den etwaigen Gebrauch gefüttert werden. Von Vaterlandsliebe, patriotischer Entsagung und Anhänglichkeit an das herrschende Geschlecht kann bei Asiaten kaum jemals die Rede sein.
So war auch die Empörung Jakub Khans gegen den Vater in den Ränken der Familie begründet. Als Schir Ali den Thron bestieg, war die Mutter des ältesten Sohnes, Jakub Khan’s, die Tochter eines Dschemschidenhäuptlings, in seiner besonderen Gunst, daher auch ihr Sohn überall in den Vordergrund trat. An so manchen harten Kämpfen seines Vaters rühmlich betheiligt, wurde er zum Thronfolger bestimmt. Später wechselte die Neigung des Emir. Von der brünetten Dschemschidentochter [290] wandte er sich zu einer Afghanin, die aber schon Mutter eines elfjährigen Sohnes, Namens Abdullah-Dschan, war. Diese zweite Favoritin, welche sich in unserm Bilde präsentirt, benutzte die Gunst ihres hohen Herrn dazu, daß derselbe ihren lieben Sohn, Abdullah-Dschan, dem bereits genannten Jakub vorzog und zum künftigen Herrscher proclamiren ließ.
Wie gewöhnlich zurückgesetzte Thronfolger, empörte sich Jakub Khan gegen seinen Vater, wurde von diesem besiegt, durch List nach Kabul berufen und in’s Gefängniß geworfen, aus dem er erst nach der Flucht des Vaters wieder frei wurde. Inzwischen ist auch der bevorzugte, aber unfähige Thronfolger, Abdullah-Dschan, gestorben, und der schlaue, entschlossene, thatkräftige und populäre Jakub Khan wieder in den Vordergrund getreten.
Charakteristisch für die afghanische Regierungsform ist die Unterhaltung des französischen Reisenden Ferrier mit Kohendil Khan, dem Herrscher von Kandahar und Bruder Dost Mohammed’s von Kabul. Der Khan, erzählt Ferrier, wurde plötzlich sehr ernst, denn ich sollte ihm das Geheimniß enthüllen, wie sich europäische Fürsten den Gehorsam ihrer Unterthanen ohne Zuflucht zu Gewaltmitteln zu erwerben wüßten. „Ich habe Güter eingezogen, die Bastonade, die Folter geben lassen, Köpfe abgeschlagen,“ rief der asiatische Monarch, „und dennoch haben die wilden Afghanen nie meinen Gesetzen gehorcht. In meinem Fürstenthum giebt es keinen Serdar – keinen! – meine Brüder, Söhne, Neffen nicht ausgenommen, der nicht mit Begierde mir die monarchische Gewalt aus der Hand ringen würde, wenn er Aussicht hätte, daß es gelänge. Hier ist Stärke das Recht, warum sollte es anders sein in Europa?“
Ferrier bemerkte, daß europäische Fürsten ihre Gewalt nicht für persönliche Zwecke gebrauchten, daß alle Regierungshandlungen vom Gesetz beherrscht und nur zum Wohle des Landes ersonnen würden.
„Aber,“ rief der Erstaunte, „was nützt die Gewalt, wenn sie nicht zu Reichthümern führt? Was ist das für eine Regierung ohne unbeschränkte Gewalt? Was ist ein König, der nicht nach Belieben einem Unterthanen die Bastonade geben und ihm den Kopf abschlagen kann?“
Das ist also die Physiognomie des Reiches, von dessen Willen einstweilen die Verhinderung eines englisch-russischen Zusammenstoßes in Mittelasien abhängt. Die Aufgabe Englands, das im Wesentlichen seine Annexionen nach dieser Seite abgeschlossen hat und nur gesicherte Grenzen anstrebt, liegt in einer Gewinnung der afghanischen Sympathien zu dem Zwecke, um die Russen fernzuhalten. Rußland auf der andern Seite kann nur die Absicht haben, Afghanistan gegen England immer auf’s Neue zum Conflict zu reizen, bis ihm das erschöpfte Land als reife Frucht in den Schooß fällt; dann unterliegt Britisch Indien bei dem hohen militärischen Werth des afghanischen Grenzgebirgs einer fortwährenden Bedrohung, welche über kurz oder lang den englischen Besitz Indiens in Frage stellen wird. Das macht das Bestreben Englands begreiflich, aus dem gegenwärtigen englisch-afghanischen Kampf den Besitz der Gebirgsgrenze herauszuschlagen.
Wir sehen mit Spannung dem einstigen Kampf zwischen Rußland und England entgegen. Dieser Kampf gleicht dem eines Elephanten mit einem Walfisch. Jeder dieser Staaten besitzt riesige Kräfte, aber jeder ist auch schwach, ja ohnmächtig, wenn er sein eigenes Terrain verläßt und das seines Gegners betritt. Jedenfalls trifft England im Bewußtsein seiner von Haus aus nicht eben günstigen Lage Vorbereitungen, welche seine Position günstiger zu gestalten geeignet sind. Es hat sich durch den letzten englisch-türkischen Vertrag nicht blos die freie Bahn zur südöstlichen Flankirung Rußlands eröffnet, es hält auch durch den Einfluß auf die Verwaltung von Anatolien und Armenien Persien im Zaum, kann englische Interessen am Euphrat und in Mesopotamien an dessen Grenze fördern und schützen, hat von beiden Seiten die Schlüssel zum Suezcanal in Händen und darf auf ein gutes Aufgebot von türkischen und ägyptischen Truppen rechnen, wo es nicht nöthig hat, englische zu verwenden. Die Lage der Dinge scheint hierdurch so geändert, daß Rußland in seinen durch Mittelasien gegen Indien gerichteten Operationen zum ersten Mal ernstlich gelähmt ist.