Die deutsche Muttersprache
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Die deutsche Muttersprache
Rede, gehalten beim fünfzigjährigen Jubiläum des Gesangvereins
„Deutscher Liederkranz“ zu New York, 9. Januar 1897
Meine Freunde! Die Beantwortung des Trinkspruchs auf die deutsche Muttersprache sollte eigentlich gesungen werden. „Der Liederkranz“[1] hat das ja so oft und so ergreifend getan, erst vorgestern wieder – und es wäre besser, es stände auch jetzt an meiner Stelle der Liederkranzchor. Wir feiern ja hier auch in erster Linie die deutsche [210] Muttersprache, wie sie im deutschen Liede erklingt. Es ist wohl wahr, daß es andere Sprachen gibt, die sich durch die Volltönigkeit ihrer Vokale und die Weichheit ihrer Konsonanten besser für den Gesang zu eignen scheinen; aber in keiner Zunge wird doch so viel gesungen, wie in der deutschen; und keine hat in so reicher Fülle und in so schöner Innigkeit und Kraft das hervorgebracht, was das Volk singt – das Lied. Mit der deutschen Muttersprache ist das deutsche Lied dem deutschen Herzen entsprungen, und es hat seinen Weg um die Welt gemacht. Dem deutschen Geiste und dem deutschen Streben mag manches widerstehen – dem deutschen Liede widersteht nichts.
Wenn wir von unserer Muttersprache reden, so muß man es uns nicht verargen, daß wir ein wenig sentimental werden. Das ist nicht ein Zeichen von Schwäche. Sie erinnern sich wohl an Heines Vers von den „sentimentalen Eichen“[2] Aber die deutsche Muttersprache ist für jeden denkenden Menschen, der sie besitzt, ein Schatz, dessen Wert über das bloße Gefühl hinausgeht. Wir Deutschen hören es gern, wenn man die Ehrlichkeit unter die Hauptzüge des deutschen Nationalcharakters zählt. Ich für meinen Teil höre es besonders gern, daß der beste Teil des amerikanischen Publikums stets auf die Deutsch-Amerikaner rechnet, wenn es sich um solche Dinge wie ehrliche Regierung oder ehrliches Geld[3] handelt. Verzeihen Sie, daß ich auf so etwas hier anspiele; ich tue es nur, weil solche Ehrlichkeit auch ein hervorragender Charakterzug unserer deutschen Muttersprache ist.
Andere Sprachen, besonders die romanischen, zeichnen [211] sich durch feine und schmiegsame Eleganz ihrer wohltönenden Redewendungen aus. Es ist in diesen Sprachen leicht, etwas sehr Hübschklingendes zu sagen, das eigentlich nichts ist. Auf Deutsch geht das schwer. Ich meine damit nicht, daß ich es bewundernswert finde, wenn man sagt: „Hier wird Deutsch gesprochen!“ um damit anzukündigen, daß man nun recht grob sein wird. Ich meine vielmehr, daß, wenn man auf Deutsch etwas Dummes sagt, es durchweg auch ehrlich dumm klingt. Und sagt man auf Deutsch etwas Gescheites oder Elegantes, so kann man es nur schwer gescheiter oder eleganter klingen machen, als es wirklich ist. Mit anderen Worten, die deutsche Muttersprache ist nicht die Sprache gleißnerischer Zierlichkeit. Aber dafür besitzt sie um so mehr alle Orgelregister der Kraft, der Hoheit, des begeisterten Schwunges, der Leidenschaft, des innigen Gefühls. Was in irgend einer anderen Literatur übertrifft die Ausdruckswucht der deutschen Bibel, die erhabene Volltönigkeit des Schillerschen Dramas, oder die bezaubernde Wortmusik der Lieder Heines?
Es wäre überflüssig, hier von der alle Gebiete der menschlichen Geistestätigkeit umfassenden Literatur zu reden, die in der deutschen Sprache aufgewachsen ist und deren überragende Größe die ganze civilisierte Menschheit anerkennt. Denn es ist nicht die deutsche Literatur allein, die uns die Muttersprache bietet.
Es gibt keine Sprache der Welt, deren Eigentümlichkeiten schwerer in einer anderen Sprache wiederzugeben sind, wie die deutsche; und keine, in die andere Sprachen mit all ihren Redeweisen und Versmaßen mit solcher Treue [212] übertragen werden können und so reichlich übertragen worden sind. Homer, Dante, Hafis, Shakspere, Aristoteles, Bacon, Thucydides, Tacitus, Macaulay, Victor Hugo, Walter Scott, Tolstoi – Dichtung, Philosophie, Wissenschaft, Geschichtsschreibung und Roman – alles dies aus allen Zeiten und Ländern hat in der deutschen Sprache eine Herberge gefunden in Übertragungen, die der Originale in Treue, Kraft und Schönheit würdig sind. Die deutsche Sprache bietet also, wie keine andere, die gesamten Reichtümer der Weltliteratur.
So besitzen wir in ihr in der Tat einen Schatz, dessen Wert wir nicht hoch genug achten können, besonders wir nicht, die wir uns in der neuen anders sprechenden Welt eine neue Heimat gegründet haben. Es wird unseren Stammesgenossen in Amerika zuweilen zugemutet, daß sie nicht allein Englisch lernen, sondern auch die alte Muttersprache gänzlich fahren lassen sollen. Die uns das zumuten, sind unverständige Leute. Daß der Deutsch-Amerikaner Englisch lernen soll, wird niemand bestreiten. Er schuldet das seinem neuen Vaterlande und er schuldet es sich selbst. Aber daß er darum die deutsche Sprache verwerfen soll, ist mehr als Torheit. Als amerikanische Bürger sollen wir uns amerikanisieren. Gewiß sollen wir das. Ich habe stets eine vernünftige Amerikanisierung befürwortet. Aber das bedeutet nicht eine gänzliche Entdeutschung. Es bedeutet, daß wir die besten Züge des amerikanischen Wesens annehmen und sie mit den besten Zügen des deutschen Wesens verschmelzen. So liefern wir den wertvollsten Beitrag zum amerikanischen Nationalcharakter [213] und zur amerikanischen Civilisation. Und so sollen wir uns als Amerikaner die englische Landessprache aneignen und dabei die deutsche Muttersprache nicht verlieren.
Der Gedanke, daß die Bewahrung der deutschen Sprache neben der englischen die Entwickelung unseres amerikanischen Patriotismus behindern könne, ist so einfältig als wenn man sagte, es mache uns weniger patriotisch, wenn wir „Hail Columbia“ in zwei Sprachen zu singen verstehen. Es gibt Tausende von Stockamerikanern, die Deutsch lernen. Das macht sie nicht weniger patriotisch – es macht sie nur gebildeter und gescheiter. Sie lernen Deutsch, weil sie den hohen Wert der Sprache erkannt haben. Sie lernen Deutsch mit mühevoller Arbeit, denn Deutsch ist schwer. Wir Deutsch-Amerikaner haben diesen Schatz mit uns herübergebracht. Wir brauchen das Deutsche nicht erst zu erlernen – wir brauchen es nur nicht zu vergessen. Und unsere Kinder werden das umsonst haben, was andere sich nur schwer erwerben können, wenn wir vernünftig und gewissenhaft genug sind, die deutsche Sprache nach Kräften in der Familie zu hegen und zu pflegen. Das mag nicht hinreichen, unseren Kindern eine solche Kenntnis der Sprache zu geben, wie wünschenswert ist, aber es wird ihnen die Erwerbung des Fehlenden unermeßlich erleichtern.
Ich predige hier nicht als einer, von dem es heißen könnte: „Folgt seinen Worten und nicht seinen Werken.“ Ich bilde mir ein, ein so pflichttreuer Amerikaner zu sein, wie irgend einer. Ich habe auch Englisch zu lernen [214] versucht,[4] und meine Kinder ebenfalls. Aber in meinem Familienkreise wird nur Deutsch gesprochen, viel Deutsch gelesen und schriftlich nur auf deutsch korrespondiert. Ich darf mir daher erlauben, mich über diesen Punkt stark auszudrücken. Und so sage ich Ihnen, wenn ich sehe, wie deutsch-amerikanische Eltern aus bloßer Bequemlichkeit es versäumen, ihren Kindern den Besitz der Muttersprache zu sichern, wie sie das kostbare Gut, das sie haben, leichtsinnig wegwerfen, so empört sich mein deutsches Herz, wie mein amerikanischer Verstand. Diese Eltern tun nicht, was sie ihren Kindern schuldig sind. Sie begehen an ihnen eine Pflichtverletzung, einen Raub, eine Sünde. Um so mehr ehre ich jeden deutsch-amerikanischen Verein, in dem, wie in diesem, die deutsche Muttersprache hochgehalten und gehegt wird. Er tut der Mitwelt wie den kommenden Geschlechtern einen unschätzbaren Dienst. Wie in dem halben Jahrhundert, das nun so ehrenvoll hinter ihm liegt, so wird der „Deutsche Liederkranz“ auch in den unzählbaren Jahren, die, wie wir alle hoffen, ihm noch beschieden sein mögen, dieser schönen Pflicht unwandelbar treu bleiben. Denn die Muttersprache ist ja das Band, das ihn zusammenhaltend umschlingt. Die deutsche Muttersprache, die liebe, starke, edle, innige, heilige, hier und auf dem ganzen Erdenrund, – unvergänglich soll sie leben!
- ↑ [281] One of the leading German singing societies in the city of New York.
- ↑ [281] Speaking of the Westphalians, Heine says in the tenth chapter of his poem, Deutschland, ein Wintermärchen (1844):
Sie fechten gut, sie trinken gut,
Und wenn sie die Hand dir reichen
Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie;
Sind sentimentale Eichen.Heine was a member of the Landsmannschaft (student society) Westfalia at the University of Göttingen.
- ↑ [281] When Schurz made this speech, the presidential campaign of 1897 had just closed. It turned principally on the democratic demand for the free coinage of silver at the ratio of 16:1. The election of the republican (sound money) candidate William McKinley, was largely due to the German vote.
- ↑ [281] He succeeded so well in his attempt, that he is recognized as one of the most eloquent orators, and one of the ablest writers in the [282] English language. His biography of Henry Clay and his essay on Abraham Lincoln are regarded as models of English style.