Die drei Großmächte

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Autor: Levin Schücking
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Titel: Die drei Großmächte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40–44, S. 625–628; 641–644; 657–660; 686–688; 702–704
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[625]

Die drei Großmächte.

Sittenbild aus dem vorigen Jahrhundert.
Von Levin Schücking.


1.

Es war um das Jahr 1760, als zwei junge Wanderer mit dem Ränzlein auf dem Rücken durch die schöne süddeutsche Landschaft schritten.

Der Eine von unseren Wanderern ist der jüngere Sohn eines jüngeren Zweiges eines alten Grafengeschlechtes, das in den fern abliegenden Gegenden Rhätiens daheim war, und dessen Linien sich nach der Farbe ihres Wappenzeichens, einer Fahne, unterschieden; welche berühmten und in allen heraldischen Werken zu findenden Fahnen nur leider in den letztvorangegangenen Zeiten so gar fröhlich und üppig geflattert hatten, daß nach und nach auch der einst große Reichthum des Hauses dahin geflattert und jetzt völlig verschwunden war.

Je stiller und langweiliger unter solchen Umständen mit jedem Jahre das Leben auf seiner väterlichen Burg wurde, desto mehr sehnte der junge Graf Albrecht von Werdenfels sich aus dieser Burg in die Welt hinaus. Die Welt, dessen war Graf Albrecht gewiß, mußte ihm im Vergleich zur Heimath außerordentlich gefallen, und nebenbei war er nicht abgeneigt anzunehmen, daß auch er – solche Eindrücke sind ja gewöhnlich gegenseitig – der Welt gefallen werde. Und Niemand hätte das als eine unberechtigte Eitelkeit auslegen können; weshalb sollte ein junger Graf, der einen Wald von dunkelkastanienbraunen Locken, große, feurige, blaue Augen und einen überaus zierlichen Mund besaß, und auf dessen Wangen der rosige Widerschein seiner heitern rothen Wappenfahne lag – Albrecht gehörte zu der Linie von der rothen Fahne, die immer am fröhlichsten geflattert hatte und deren Burg die verfallenste von allen war – warum sollte er nicht der Welt gefallen?

Die Schwierigkeiten, welche sich einer Reise entgegenstellten, hatte Graf Albrecht besiegt. Er hatte einen kleinen Beutel mit Goldstücken von seinem Vater eingetauscht gegen das feierliche Versprechen, in strengem Incognito als „Albrecht Fels“ reisen zu wollen, damit der Umstand, daß ein Graf Werdenfels als einfacher Fußwanderer durch die Welt gezogen, nicht einen ewigen Schandfleck auf die Linie „von dem rothen Fahn“ und das gesammte Haus der Werdenfels bringe. Auch hatte er versprochen, sobald er auf seiner Reise durch Schwaben und das Donauthal hinunter in die Kaiserstadt Wien gekommen, ein großes Empfehlungsschreiben seines Vaters an den Reichsvicekanzler abgeben zu wollen. Es sollte dann ganz diesem gewiegten und allmächtigen Staatsmann anheimgegeben werden, wie ihn derselbe etwa in kaiserlichen Diensten, z. B. als Oberst eines Reiterregiments, als Feldmarschalllieutenant, Landeshauptmann oder Gouverneur einer bedeutenden Festung, oder in irgend einer andern für einen Grafen Werdenfels passenden Stelle unterbringen wolle.

Albrecht von Werdenfels nahm also vom Vaterhause an einem sehr schönen Sommertage Abschied und wanderte rheinabwärts in die Welt hinein, indem er sich die Zeit damit vertrieb, daß er sich einige alte Volkslieder vorsang, ohne darauf zu achten, daß die düsteren grauen Felsenwände, an denen sein Weg in dem stillen engen Thale vorüberführte, nicht das mindeste Vergnügen darüber verriethen, ja daß sie ihm wohl wie spottend ein Echo zurückwarfen. So oft dies geschah, blieb Albrecht stehen und warf dem tückischen Gesellen, der ihn aus der Klippenwand höhnte, laut und aus voller Brust das Wort seines Liedes zu, das ihn gerate am meisten zu ärgern schien. Nach und nach aber ermattete der junge Mann in diesem Spiele, da er die Erfahrung machte, daß das Echo in einem solchen kleinen Disput immer das letzte Wort behielt.

Der zweite Tag seiner Wanderung führte ihm einen Gefährten zu. Er fand ihn in dem großen Nachen, mit dem er die Ueberfahrt über den Bodensee nach Lindau zu machte. Es war ein junger Mensch von ungefähr demselben Alter, in welchem Albrecht stand, aber einem sehr verschiedenen Aeußeren. Er war mager, äußerst gelenkig und behende, gelb von Farbe wie ein Zigeuner, und während aus seinen schwarzen, schmalgeschlitzten Augen Lebenslust und Keckheit blitzten, zeigte der ziemlich breitlippige Mund ein nur selten und auf Augenblicke schwindendes Lächeln, das bereit schien, bei jeder halbwegs passenden Gelegenheit in ein helles und herzliches Gelächter überzugehen. Da die Fahrt auf dem weiten stillen Wasserspiegel sehr langweilig war, so begannen die jungen Leute eine Unterhaltung, die der Fremde in einem gebrochenen und unendlich komisch lautenden Deutsch führte, welches Albrecht so erheiternd eigenthümlich fand, daß er fortwährend darauf Bedacht blieb, dies Gespräch nicht abbrechen zu lassen. Auf diese Weise wurden sie nach und nach sehr vertraut mit einander, und als mit scheinbarer Offenheit Albrecht mitgetheilt hatte, daß er ein reisender Student sei, der die Hochschule zu Wien beziehen wolle, nachdem er sich auf einer Fußwanderung durch Schwaben im Reiche umgesehen, trug ihm der Andere seine Begleitung auf dieser Reise an.

„Ich bin ein Venetianer,“ sagte er, „und heiße Fano[1] Solari; ich habe also, wie Ihr sehet, ein Vaterland, in welchem junge Leute meiner Gemüthsart immerhin ihren Zeitvertreib und die Befriedigung des natürlichen Wunsches finden können, von der Welt um sie her amusirt zu werden; insofern brauchte ich nicht den [626] Wanderstab zu ergreifen, um in’s Land der Schwaben zu reisen. Es ist etwas Anderes, was mich verführt hat, eine kleine Streiferei in diese dunklen und nebelhaften Gegenden zu wagen; denn, um es Euch mit einem Worte zu gestehen, ich habe vor etwa einem Vierteljahre meine Mutter, Frau Teresa Solari, die bisher allein für mich sorgte, verloren. Und weil es nun nicht gut ist, daß ein Jüngling von meiner Gemüthsart sich ganz ohne elterliche Aufsicht befindet, so habe ich den Entschluß gefaßt, mich aufzumachen, um statt der verlorenen Mutter einen treuen und zärtlichen Vater zu ermitteln. …“

„Das soll heißen?“ fiel Albrecht lachend ein.

„Euer Lachen zeigt mir, daß Ihr verstanden habt, was es heißen soll!“

„Weshalb,“ fuhr Albrecht kopfschüttelnd fort, „wendet Ihr denn just Eure Schritte dahinüber – gewährt es Euch eine besondere Befriedigung, einen Schwaben zum Papa zu bekommen?“

„Nicht eben das,“ entgegnete Fano Solari. „Aber im Nachlaß meiner guten Mutter befanden sich einige Briefe, deren nähere Durchsicht mich vermuthen ließ, daß dasjenige auf meine Verehrung berechtigte Wesen, welches ich daheim in unsrer kleinen Häuslichkeit seit je vermißt habe, aus Schwaben gekommen sei und sich vor dem Zeitpunkt, mit welchem meine Zeitrechnung beginnt, eine Weile in Venedig aufgehalten haben muß.“

„Nun,“ versetzte Albrecht, „dann wünsch’ ich Euch Glück zu der Fahrt. Vielleicht findet Ihr das, was Ihr sucht, in irgend einem Schlosse oder einem schönen, stattlichen Patrizierhaus in dem Lande, welches dort am andern Seeufer vor uns liegt. Denn es ist Jedermann bekannt, daß die reichen und vornehmen Herrn desselben es zu ihrer Ausbildung für nöthig halten, als junge Leute einen oder den andern Winter in dem schönen fröhlich-üppigen Venedig zuzubringen und an seinen Freuden mit dem mehr oder minder größern Erfolg für ihre moralische Vervollkommnung Theil zu nehmen, mit welchem sie dann zurückkehren.“

Fano nickte mit dem Kopfe. „Meine Mutter Teresa Solari,“ sagte er, „war aus einem guten Hause, und ein anderer als ein durch seine Herkunft und seine Stellung empfohlener Herr hätte es nicht vermocht, ihr Herz zu gewinnen.“

„Enthalten denn die Briefe, welche nach Eurer Mutter Tod in Eure Hände fielen, nicht den Namen besten, den Ihr sucht?“

„Nein. Sie sind unterschrieben mit den Buchstaben C.X.X., und die Poststempel der zwei oder drei letzten, welche nicht mehr das Datum Venedig tragen, zeigen den Namen Lindau. Da dies nun die kleine Inselstadt hier vor uns ist, so muß nothwendiger Weise meine Jagdstreiferei auf den treulosen Mann, der sich solcher Hieroglyphen bediente, dort beginnen.“

„C. X. X.,“ wiederholte Albrecht, „das sind nicht gerade Hieroglyphen; als römische Zahlbuchstaben bedeuten sie 120, und wir wollen hoffen, daß sich diese Zahl nicht als eine Art Nummer auf Euch beziehe.“

Beide lachten herzlich über Albrecht’s Einfälle. Der Italiener suchte dann seine Briefe hervor und übergab sie Albrecht, damit er sie durchlese und ihm seine Meinung darüber sage, und Albrecht steckte sie zu sich, um, sobald er Muße finde, des Reisegefährten Wunsch zu erfüllen. Dann zogen sie in die merkwürdige kleine Seestadt Lindau ein, welche jetzt ihr Schiff erreicht hatte. Und am anderen Tage zogen sie in’s hügelige schöne Schwabenland, auf Ravensburg zu, und dann über Ravensburg hinaus, mitten in die fremde Welt mit ihren seltsamen malerischen Städtchen an den Flüssen, ihren alterthümlichen Schlössern und Burgen auf den Felsen und ihren großen Abteien und Klöstern auf den Halden rebentragender Hügel.

Eines Abends hatten sie die Gastlichkeit eines großen und prächtigen Klosterbaus in Anspruch genommen, welches die Abtei Triefalten hieß und von Mönchen bewohnt war, die sich ihr Gelübde, wie es schien, außerordentlich leicht gemacht hatten. Die Herren ließen sich Stiftsherren nennen, trugen sich, wie es ihnen beliebte, und schienen auch zu thun, was ihnen beliebte. Als unsere beiden Reisenden in Erwartung der Abendmahlzeit in den Höfen und Gärten umherschlenderten, sahen sie eine Gruppe derselben in einer schattigen Rebenlaube hinter großen Weinkrügen sitzen; zwei andere waren damit beschäftigt, unfern davon einen unglücklichen Jagdhund zu dressiren, und einer saß in Hemdärmeln an einem Aepfelbaum und blies hier melancholische Weisen auf auf der Flöte, ohne sich durch das Gelächter der Zechenden und das Heulen des geprügelten Hundes stören zu lassen.

Als unsere jungen Leute eine Strecke weit in den großen Klostergarten hineingeschritten waren, kam ihnen seitwärts aus einem Gebüsche einer der Stiftsherrn, ein langer und großgewachsener Mann, entgegen, der im langsamen Auf- und Abwandeln in einem Romane las, den er jetzt zuklappte und in die Tasche seines langen schwarzen Rockes von leichtem Sommerzeug gleiten ließ. Er gesellte sich zu den Fremden, unterhielt sich mit großer weltmännischer Gewandtheit mit ihnen, und endlich forderte er sie auf, am morgigen Tage zu rasten und einer großen Jagd auf Hochwild zuzuschauen, welche ein benachbarter großer Herr, der Reichsgraf von Glimmbach zu Hohenklingen, veranstaltet und wozu er sowohl den ehrwürdigen Vater in Gott, den zeitigen Herrn Prälaten dieses ausgezeichnet fürnehmen und edlen Stifts Triefalten, als auch den regierenden Bürgermeister der nahen freien Reichsstadt Großlingen, seine beiden Grenznachbarn, einzuladen nicht verfehlt habe. So hohe und fürstliche Herren in nächster Nähe, an einem anziehenden Schauspiele sich betheiligend, zu erblicken, war für unsere Wanderer allerdings verlockend; und also beschlossen Albrecht und Fano dem Winke des geistlichen Herrn zu folgen.




2.

Es war ein schöner, warmer Sommertag, als die beiden jungen Leute um eine nicht mehr gar zu frühe Morgenstunde aufbrachen und, nachdem sie ihr leichtes Gepäck dem Bruder Pförtner übergeben, durch das Pförtchen im Thorbau des großen Klosters und reichsfreien Stifts hinausgelassen wurden. Die Landschaft lag in allem Reiz eines duftigen Morgens vor ihnen: Wiesenthäler, waldgekrönte Hügelreihen, Rebengelände und Ackerfluren. Doch herrschte der Wald, der rechts und links die Anhöhen bedeckte, vor; in einer Thalsenkung in der Ferne sah man die Spitzen und Wetterhähne einiger Thürme aufleuchten; es war die, wie der Stiftsherr versichert hatte, berühmte freie Reichsstadt Großlingen.

Eine Höhe rechter Hand, welche der Pförtner des Convents den Galgenberg nannte, war Albrecht und Fano als der Punkt bezeichnet, der das Jagdrendezvous bilde, und wohin sie sich zunächst zu begeben hätten. Als sie auf leicht zu findenden Fußsteigen so dahinschritten und allmählich zu steigen begannen, wurde ihre Heiterkeit vielfach durch die seltsamen Gestalten der Bäuerlein angeregt, welche ihnen begegneten oder auch wohl, mit Klappern und Stecken ausgerüstet, an ihnen vorübereilten, um sich zum Jagdrendezvous zu begeben, offenbar ängstlich, daß sie zu spät eintreffen könnten. Es waren in der Thal eigenthümliche Individuen, die in den großen dreieckigen Hüten und den langen bis an die Knöchel reichenden Röcken nur ein wenig zu gedrückt, trübselig und verwittert aussahen, um den Eindruck einer grenzenlos komischen Gnomenrace zu machen.

Die jungen Leute kamen endlich in den schönen hochstämmigen und dichten Bergwald, durch den allerlei Schneißen liefen, und wo Grenzpfähle mit verschiedenen Wappen standen. Nachdem sie eine Weile unter den hochwipfeligen Stämmen fortgewandert waren, bog der Weg in eine zur nächsten Höhe emporführende Allee ein, und am Ende derselben, auf jener Höhe, nahmen Albrecht und Fano einen Gegenstand wahr, der ihnen zeigte, daß sie nicht irre gegangen waren, als sie sich aufmachten, den „Galgenberg“ zu erreichen.

Jener die Höhe krönende Gegenstand war nämlich in der That das auf drei Beinen ruhende, verwitterte und sehr altersgrau aussehende Ding, welches zu allen Zeiten das Vorrecht gehabt hat, auf’s Vielfachste die Phantasie des Volkes zu beschäftigen.

Unfern, vielleicht einen Steinwurf weit davon entfernt und den beiden Wanderern näher, zeigte sich ein anderes und minder abschreckendes Etablissement. Unter einer großen Buche war eine geräumige und stattliche Jahrmarktsbude aufgeschlagen; hinter derselben stand ein mit einem Fasse beladenes Wägelchen, und ein dürrer ausgespannter Gaul weidete gierig inmitten der Allee das aufgeschossene Gras ab.

„Eine Marketenderbude!“ sagte Fano, „wenn sie auch für die nicht zur Jagd eingeladenen Gäste einen frischen Trunk hat, so bin ich in bester Stimmung ihr Kundschaft zuzubringen.“

„Ihrem Dasein liegt jedenfalls ein menschenfreundlicher Gedanke zu Grunde,“ versetzte Albrecht, „und der Mann, der auf [627] dem umgestülpten Korbe davor sitzt, sieht nicht aus, als würde er einen kleinen Verdienst zurückweisen.“

Der bezeichnete Mann sah allerdings nicht so aus, er hüpfte, sobald er die Fremden ihre Schritte seiner Bude zulenken sah, in die Höhe und kam ihnen entgegen, zum Gruße mit seiner langen blauen Schlafmütze wedelnd. Dabei pries er seinen Land- und Seewein, sein Bier und seine Eßwaren mit vollen Backen an.

„Laß uns erst einmal Deine merkwürdige Bude betrachten,“ sagte Albrecht zu dem geschäftigen Männchen; „Du hast ja alles Mögliche gethan, sie herauszustaffiren.“

Er hatte alles Mögliche gethan. Er hatte sie mit frischen Maien umstellt; er hatte ein sehr reinliches weißes Laken über das Auslagebret geschlagen; er hatte die Vorderseite ausgeschmückt mit drei großen Bildern in schwarzen Rahmen, welche die Conterfeis von drei höchst stattlichen Herrn in gewaltigen, wie eine Welt von Locken und Puder aussehenden Perrücken darstellten; und in die Bude als ihren Hauptschmuck hatte er seine kleine, rundliche, stilllächelnde Frau in einer mit falschem Gold und Silber und noch falscheren Perlen gestickten Sonntagshaube gesetzt; und diese kleine Frau war bei der Annäherung der fremden Herren von dem Schemelchen, auf welchem sie saß, aufgeschnellt und fuhr nun mit einer Hast zwischen ihren Gläsern und Flaschen umher, als ob sie Alles aneinander schlagen und zerstoßen wolle, und ihre flinken Hände zerstießen und zerstörten doch nichts, als höchstens die saubere Ordnung, womit Alles gereiht stand.

„Nur ruhig, liebe Frau, gebe Sie uns einen Trunk von Ihrem Seewein,“ sagte Albrecht. Das Mütterchen schenkte aus einem Kruge in zwei große Stangengläser ein, und der Mann stand lächelnd, zopfwedelnd und so voll Eifer, die Herren rasch zu bedienen dabei, daß es aussah, als sei er entschlossen, sofort selbst in den Krug zu schlüpfen und Händel mit dem Wein anzufangen, weil er aus dem engen Hals nicht schnell genug heraus wollte.

„Welche merkwürdige alte Herren hast Du denn hier vor Deine Bude gehängt?“ sagte Fano.

„O das sind unsere Herren, unsere lieben Landesherren, Ihr werdet sie gleich hier sehen … sie werden gleich hier sein, unsere gestrengen Herren, der Herr Reichsgraf …“

„Das ist wohl der da in dem grünen Rock mit goldnen Schnüren und der großen Meerschaumpfeife in der Hand?“ fiel Albrecht ein.

„Ganz richtig, Herr, ganz derselbe, just wie er leibt und lebt, Seine Erlauchten Gnaden – und der Andere hier, in dem schwarzen Pelzrock mit der güldenen Kette, das sind Seine wohlweisen Gestrengen, der Herr regierende Bürgermeister von Großlingen; und der Dritte, das sind Seine Gnaden, der hochwürdigste Herr Prälat von Triefalten, der mit dem großen Kreuz auf der Brust und der mit der …“

„Langen, schiefen, merkwürdig gescheidten Nase!“ fiel Fano lächelnd ein.

„Ja, sie haben eine etwas länglichte Nase, der hochwürdigste Gnädige; es sind schöne Bildwerke, und weil wir denn heute unsere kleine Bude hier aufschlagen wollten, von wegen der großen Jagd und der paar Kreuzer, die es dabei zu verdienen geben kann, wenn Alles hübsch reinlich und nett und sauber ist, so hat sie uns unser Rentschreiber geliehen, dem gehören sie, dem guten Herrn Rentschreiber, und da habe ich sie denn hingehängt; werden’s auch nicht ungnädig vermerken, die Herrschaften, wenn sie kommen; sie müssen augenblicklich hier sein, auf Hohenklingen ist allbereits vor einem halben Stündchen zum Aufbruch geblasen, man hört’s hier recht gut von drüben herüberschallen, obwohl man das Schloß nicht sehen kann, von wegen der Bäume und auch von wegen der Berge, und weil’s da unten durch den Tobelgrund und dann rechts um die Ecke geht, sonst würde man’s ganz gewiß sehen können, und ich könnt’s den Herrschaften schon zeigen …“

Albrecht unterbrach dadurch, daß er abermals sein Glas zum Füllen hinreichte, den Redestrom des kleinen Mannes und sagte dann: „Ihr lebt wohl recht glücklich hier, unter der Herrschaft so stattlicher Herren?“

Der kleine Mann machte eine ganz unbeschreibliche Miene; es war offenbar, daß diese Frage des fremden Herrn einen tiefen Schatten von Ernst auf seinen Gesichtszügen hervorlockte, und daß er es doch für respectwidrig hielt, den beiden jungen Leuten etwas Anderes als die lautere Freundlichkeit und Heiterkeit zu zeigen.

Mit einem süßsauren Lächeln versetzte er:

„O ja, recht glücklich, wenn Sie’s nicht für ungütig nehmen wollen, recht glücklich, nur thät’s Noth für unser Eins, daß man von Zeit zu Zeit so einen kleinen Schatz von guten groben Münzsorten fände, wie sie sie dazumal in der Schwedenzeit wohl vergraben haben, denn sonst kommt unser Eins wahrhaftig nicht durch, Herr, mit den Renten und den Gülten und Allem; mit den Renten nun einmal gar nicht, und was die andern Steuern sind, die an den Rentschreiber gehn, und was die Abgaben an die Gemeindlade sind …“

„Sind die so schwer und drückend?“

„Schwer, Herr. wenn Sie’s nicht ungütig nehmen, daß ich’s so frei heraussage, Angst und Noch muß unser Eins drum schon schwitzen, und Hunger und Kummer auch ein wenig; aber sonst freilich leben wir hier recht glücklich im Lande, es thut genug wachsen, und der Wein ist auch nicht übel, und das Handwerk könnte seinen Mann nähren, und mit der Robot, nun ja, mit der Robot ist’s wohl ein wenig schlimm, und dann die Zehnten, die Blutzehnten, die Rauchhühner …“

„Um Gotteswillen hört auf.“ rief Albrecht hier, „das ist ja entsetzlich, was Euch Alles aufgebürdet ist!“

„Nun, ein klein wenig schlimm ist’s schon.“ sagte der zopfwedelnde kleine Mann, und seine Freundlichkeit ging immer mehr in einer greinenden Miene unter, „ein klein wenig schlimm ist’s schon, absonderlich Heuer, bei den Kreisumlagen und der Kriegssteuer und …“

„Wahrhaftig, er ist immer noch nicht zu Ende!“ rief Fano aus, „Kriegssteuern, Kreisumlagen, Gülten, Robot, Renten, Blutzehnten, Rauchhühner …“

„Blutzehnten – was ist das?“ unterbrach ihn Albrecht.

„Das will ich Euch sagen. Herr.“ fuhr der Schenkwirth fort.

„Blutzehnten, mit Verlaub zu sagen, das ist der Zehnten von den Lämmern und den Kälbern, die fallen – sehen Sie. wenn Sie’s nicht ungütig nehmen, da hatt’ ich ehedem von meinem kleinen Gehöft, das will sagen zu meines Vaters Zeiten, jährlich an’s Stift Triefalten ein Rauchhuhn zu liefern; aber damit waren die Herren bald nicht mehr zufrieden, und es hieß, es müsse ein fetter Kapaun sein; und als es dann weiter kam, da wurde uns gesagt, der Kapaun sei eine Ehrung für die vier Hochzeiten des Jahres, und so mußten wir jährlichs vier Kapaunen bringen … und das war nun eine gar lästige Sache mit den Kapaunen, denn Kapaunen, mit Verlaub zu melden, sind heiklich aufzubringen und absonderlich im Winter und dann waren sie den Herren immer nicht fett genug, und so riethen sie uns endlich, um unsres eigenen Besten willen, statt der vier Kapaunen jährlich ein Kalb zu bringen, damit wollten sie zufrieden sein, und weil es nun wohl leichter für uns zu beschaffen war, so fingen wir denn nun an, es mit einem Kalb gut zu machen; und das ging denn eine Weile so hin, bis nach etzlichen Jahren das Kalb immer länger gesäugt sein sollte, und so ward ein Rind daraus, und aus dem Rind ward ein Ochse, und jetzt haben wir an das hochwürdige Stift jährlichn einen wohlausgewachsenen fetten Ochsen zu liefern,[2] zu Michelis ist der Termin, wenn Sie’s nicht ungnädig nehmen …“

Fano brach in ein lautes Gelächter aus, und Albrecht schlug die Hände über dem Kopf zusammen:

„Und so haben sie Euch ein Huhn in einen Ochsen verwandelt – das ist ja unerhört – und das duldet Ihr?“

„Ja, liebes Herrle, da macht unser Ein's nichts dawider: wer ein böses Maul hat, der kommt in’s Loch, und wer mit seinen Prästationen in Rückstand bleibt, der kommt um Haus und Hof und hat viel Ungemach!“

„Also so werdet Ihr regiert von Euren Bedrückern, die Ihr noch dazu respektvoll und demüthig da vor Eure Bude hängt, diese abscheulichen Perrücken? An den Galgen dort hängt sie lieber – an den Galgen gehören sie; kommt, Fano, wir wollen ihnen diesen Ehrenplatz geben!“

Fano rieb sich vor Vergnügen die Hände über diesen Einfall.

Zornig und empört streckte Albrecht die Hand nach einem der Bilder aus, ohne sich durch den Schreckensruf und das Abwehren des kleinen Wirths stören zu lassen. Fano blickte umher, ob er nicht etwas wie eine Leiter in der Nähe der Bude entdecke, und da keine da war, nahm er von dem seitwärts stehenden Gefähr die eine Wagenleiter, warf sie auf seine Schulter und eilte damit auf den Galgen im Hintergründe zu. Albrecht folgte ihm nach wenig [628] Augenblicken, die drei Bilder tragend, während der kleine Mann mit dem Zöpfchen allmählich aus dem Zustand äußerster Beweglichkeit und Lebendigkeit in den einer vollständigen Versteinerung vor Schreck und Entsetzen überging.

Fano hatte mit seiner Behendigkeit bereits die Leiter an den Galgen gesetzt und war daran wie ein Eichhorn emporgeklettert, als Albrecht mit seiner Last ihn einholte und ihm eines der Bilder emporreichte. Das Bild hing, bevor eine Minute verflossen war, oben an dem alten Haken, der in dem Querbalken eingeschlagen war.

„Seine Erlaucht der hochgebietende Herr Reichsgraf geruhen zu hängen!“ rief Fano triumphirend aus, während er von der Leiter niederglitt.

Er nahm diese dann wieder auf seine Schulter und stellte sie an der zweiten Seite des dreieckigen Gerüstes auf. Die Reihe zu hängen kam an den regierenden Herrn der freien Reichsstadt Großlingen.

„Seine Wohlweisheit der regierende Herr Bürgermeister, hoch!“ rief der Italiener halb vor Lachen erstickt, als er das zweite Conterfei angehakt hatte.

Es kam die Reihe an den Dritten. Die alten Haken fehlten nirgends. Auch die dritte Seile erhielt bald ihre Zierde. Der Prälat von Triefalten schaute nach kurzer Weile in seiner großen Perrücke finster und melancholisch von seinem hohen Platze herab.

Fano warf nun die Leiter um, klopfte lachend den Staub von seinen Kleidern und sagte dann:

„Der Einfall war vortrefflich – aber es ist jetzt räthlich, an den Rückzug zu denken, denn …“ er unterbrach sich und horchte einen Augenblick, und setzte dann hinzu: „Ich höre Schritte da aus dem Gebüsche her!“ Zugleich eilte er aus der Nähe des Attentats fort, zu der Bude zurück, zog seine Börse, um ein Stück Geld auf das Auslagebret zu werfen, und mit dem Rufe: „Kommen Sie, Albrecht, kommen Sie!“ schlug er eilig den Weg, den sie gekommen waren, ein.

Albrecht hatte erst einen Rundgang um den ganzen Galgen herum gemacht, um noch einmal sich des Total-Eindrucks zu erfreuen, den die Ausführung seines Einfalls hervorbrachte. Als er zu der vordersten Seite zurückgekommen war und einen gerührten Scheideblick auf das ausdruckvolle und majestätisch stirnrunzelnde Antlitz des Reichsgrafen warf, hörte auch er rasche leichte Schritte hinter sich. Er wandte sich um und wurde jetzt durch einen überraschenden und sehr unerwarteten Anblick gefesselt.

Eine junge Dame näherte sich ihm. Ein leichtes coquettes Hütchen von grüner Seide mit Rosabändern auf dem rosigen Haupte, in einer weiten grauen Robe, den Oberkörper in einen grünen Jagdrock gehüllt, der mit goldnen Gallons besetzt war und von goldnen Brandenbourgs zusammengehalten wurde, kam sie auf einem Fußsteige heran und war schon dicht hinter Albrecht. Ihr Antlitz glühte in der frischen Morgenluft und von der Anstrengung des raschen Wandelns den Weg zu der Höhe des Rendezvousplatzes hinauf, und dies rosige Antlitz war so lieblich, so wunderhübsch, und lächelte dem Unglücklichen, der hier oben Henkerarbeiten vollzogen hatte, so freundlich entgegen, daß dieser erstaunt stehen blieb und sich gefesselt fühlte, und daß er für den Augenblick ganz die dringende Nothwendigkeit vergaß, jetzt, bei der Annäherung des Jagdtrosses, die Flucht zu ergreifen – er konnte diesen Jagdtroß bereits im Gebüsche eine Strecke weit hinter der hübschen Jägerin die Höhe heraufkommen hören. –

Und so stand er, in den gefährlichen Anblick verloren, bis die junge Dame, ehe er sich’s versah, ihm freundlich lächelnd mit der Hand einen Gruß gewinkt hatte, der ihn nun vollends festhielt, denn nun konnte er doch unmöglich mehr Reißaus nehmen – im Angesicht der Dame!

Diese wendete sich mit einigen Worten, die sie rasch zu flüstern schien, an einen hinter ihr dreinschreitenden Büchsenspanner, und der Mann antwortete etwas, was Albrecht jedoch ebensowenig wie die Frage verstand.

„Wer sind Sie?“ fragte jetzt das Fräulein mit der freundlichsten Offenheit von der Welt und setzte hinzu: „Ich kenne Sie nicht, und der Andreas hier kennt Sie auch nicht – aber das schadet nicht, wir können doch gute Jagdcameraden werden, wenn mein Vater Sie eingeladen hat – es wird heute ein sehr hübsches Treiben werden.“

Mit einem herzgewinnenden offenen Wesen warf bei diesen Worten die schlanke junge Dame aus den großen braunen Augen einen prüfenden Blick auf die Gestalt des Fremden, und es schien, daß diese edle und anmuthige Jünglingsgestalt vollständig Gnade vor den braunen Augen fand.

Albrecht hatte aber leider in einem Maße, das sehr verhängnißvoll für ihn werden sollte, seine Geistesgegenwart verloren. Er murmelte verlegen einige Worte und wollte mit abgezogenem Hute seinen Rückzug nehmen, als die hübsche Amazone ausrief:

„Was sagen Sie? Sie wollen doch nicht fort? Sie sind nicht geladen? O das schadet nicht … heute ist Alles geladen, bleiben Sie nur – wie heißen Sie? Ich will Sie schon meinem Vater vorstellen; ich höre an Ihrer Sprache, daß Sie fremd sind, und wir lassen Fremde von Distinction … nein, Sie wollen doch gehen, Sie wollen an der Jagd nicht theilnehmen?“

„Entschuldigen Sie mich, meine Gnädigste,“ stammelte Albrecht, „ich bedaure auf’s Tiefste, daß ich leider nicht die Muße habe …“

Er endete den Satz nicht, denn in diesem Augenblicke trat der Büchsenspanner dicht hinter ihn und wies zugleich über seine Schulter fort auf den Galgen hin, wobei er ausrief:

„Schauen die gnädige Comtesse doch einmal da hinauf, was dort hängt,“ sagte der Mensch dabei.

Die gnädige Comtesse warf einen Blick in der angegebenen Richtung – trat darauf erschrocken einen Schritt zurück und sagte erblassend und dann dunkelroth werdend: „Das ist ja … Herr, wer that das?“

Albrecht stand wie mit Purpur übergossen. Er konnte jetzt nicht mehr an Flucht denken – nicht daran denken, diesem schönen und liebenswürdigen Geschöpf gegenüber die Rolle eines ertappten Schulbuben, der sich aus dem Staube macht, zu spielen. Er konnte auch nicht mehr fort, denn um ihn her ergoß sich plötzlich der ganze Schwarm der edlen Waidcumpane. Da waren sie, die hochgemutheten Jagdgäste alle, mit ihren Freunden und Dienern; in ihrer Mitte eine dicke, untersetzte, außerordentlich wohlgenährte Figur in reichem Jagdcostüm und um ihn her viel andere fürnehme, gnädige Herrn, und um diese her, wie die werthlosen Hüllen um den süßen Kern, die dienstbeflissenen Förster, Jäger, Büchsenspanner eine ganze Menschenwoge, die plötzlich theils mühsam keuchend und die Stirnen trocknend, theils leichten festen Schritts, theils lachend und scherzend und theils ehrfurchtsvoll sich zurückhaltend, um den unglücklichen jungen Mann herwogte.

[641] Der untersetzte, dicke Mann, der einen großen rothen Kopf und ein wulstiges Unterkinn hatte, trat zu der jungen Dame heran.

„Was hast Du, mein Kind, was giebt es da, wer ist dieser fremde junge Mann, mit dem Du sprichst?“ sagte er mir einem rauhen und tiefen Baßtone.

„Mein gnädigster Papa,“ antwortete sie, einen zornigen Blick auf Albrecht werfend, „dieser Fremde hier scheint sich einen Spaß mit Ihrem Bilde erlaubt zu haben, den ich Ihnen selbst überlassen muß zu beurtheilen.“

„Einen Spaß – mit Unserem Bilde – ei, das wäre!“ rief der Reichsgraf von Glimmbach, der um seiner Kurzsichtigkeit willen jetzt näher an den Galgen herantrat, aus; „doch nicht etwa mein Bild an den … alle Wetter, Aglaë, ist das wirklich mein Bild, was da hängt?!“

„Es ist Ihr Bildniß, Papa!“

„Da soll doch gleich das Wetter drein schlagen!“

„Und wer hängt denn hier?“ rief jetzt ein großer, starker Mann, der sich vor allen Andern durch den ungeheueren Haarbeutel, der seine Schultern bedeckte, auszeichnete – er war an die andere Seite des Galgens getreten.

„Das ist ja ein Sacrilegium … ein Sacrilegium! …“ fiel eine schrille Stimme ein, die einem mageren Herrn mit einem langen, abenteuerlichen Gesichte gehörte, in welchem Albrecht sofort die schiefe, spitze Nase des hochwürdigen Prälaten erkannte, „… es ist ein kirchenschänderisches Sacrilegium! Unser Conterfei an dem Galgen!“

Der dicke Reichsgraf war unterdeß an der andern Seite um den Galgen gegangen uns brach jetzt in etwas ans, was einem zornigen, donnerartigen Auflachen glich.

„Und die Magnificenz.“ schrie er, „die fürsichtige, wohlweise, ist hier in gleicher Art verhöhnt worden!“

Die Magnificenz der freien Reichsstadt Großlingen, welche eben noch mit einem gewissen unterdrückten Spottlächeln dem Prälaten von Triefallen seine Erhöhung angedeutet hatte, stand jetzt beim Anblick des eigenen Conterfeis wie an den Boden geheftet.

„Welcher Elende hat solche höllische Bosheit verübt?“ schrie er auf mit einem Tone, der dem Wuthkollern eines Puters glich.

„Es ist Hochverrath an uns und unserer landesherrlichen Autorität!“ rief der Reichsgraf jetzt.

„Es ist ein Sacrileg!“ fiel der Prälat ein.

„Es ist ein crimen laesae majestatis!“ donnerte der Bürgermeister.

„Und der Bösewicht, der es gethan hat –“ erhob der Reichsgraf seine Stimme.

„Den soll man auf das Rad flechten.“ brüllte der Bürgermeister, der jetzt alle Anderen an Zorn übertraf.

„Allermindestens an denselben Galgen hängen!“ schrillte die erhobene, scharfe Stimme des Prälaten.

„Der Bösewicht ist hier!“ fiel der Büchsenspanner der jungen Dame ein, indem er auf den vollständig vernichtet dastehenden Albrecht, dem er keinen Augenblick mehr von der Seile gewichen war, deutete, „dies ist der Bösewicht!“

Der kleine Schenkwirth mit dem wedelnden Zopfe, der sich neugierig in die Nähe gedrängt, hatte in diesem Augenblick nichts Eiligeres zu thun, als durch heftiges Kopfnicken sein Zeugniß wider den Schuldigen abzulegen, da er in der peinlichsten Angst schwebte, daß man ihm diesen ungeheuerlichen Frevel sonst schuld geben könne.

Die junge Comtesse Aglaë hatte während dieser ganzen Scene sich an der Seite ihres Vaters gehalten und dabei Blicke voll Bestürzung und Betroffenheit bald auf die Redenden, bald auf Albrecht geworfen. Diese Blicke aber waren es, die dem letzteren Ruhe und kaltes Blut zurückkehren ließen. Er richtete sich keck auf und sah mit männlicher Haltung dem entgegen, was kommen werde.

„Nehmt doch die Bilder ab …“ sagte Aglaë jetzt beschwichtigend, „es ist ein schlechter Spaß, den man sich erlaubt hat, und am besten wäre, keinen Lärm darüber zu machen …“

Aber der Reichsgraf hörte sie nicht. Während ein paar Jäger hinzusprangen und sich anschickten, die Bilder abzunehmen, rief er aus: „Das ist der Bösewicht?! das ist der Monsieur?! Warum faßt man ihn nicht? Man ergreife ihn. Man führe ihn ab. In den Thurm mit ihm! In den festesten Thurm auf Hohenklingen!“

Mehrere Arme streckten sich nach Albrecht aus. Er schüttelte sie mit einer kräftigen Bewegung ab.

„Ich kann selbst gehen.“ sagte er stolz und trotzig. „Ich bedarf keiner Führer.“

Er wandte sich sofort, um zu gehen, herzlich danach verlangend, diesem Auftritt ein Ende zu machen und von der Stelle zu kommen.

In diesem Augenblicke aber erhob der regierende Bürgermeister von Großlingen seine Stimme. „Halten zu Gnaden, Herr Graf.“ rief er, „ich muß doch gegen eine solche einseitige Verhaftung Protest einlegen. Der Galgen steht just auf der Grenzmarke der [642] respectiven Territorien, der Galgen ist gemeinschaftlich, der Galgen ist nicht allein aus Ihrem Holze aufgebaut, sondern auch zu Nutz und Frommen gemeiner Bürgerschaft von Großlingen – ich protestire gegen die einseitige Verhaftung. Da, wo wir jetzt stehen und wo der Inculpatus steht, ist Großlingensches Gebiet; das Seiner Erlaucht fängt erst dahinter, an der andern Seite des Galgens an.“

„Was verlangen Sie denn?“ fuhr der Reichsgraf verwundert und unwirsch auf.

Der Bürgermeister wollte antworten, aber diesmal fiel ihm der Prälat in die Rede. „Allerdings, Erlaucht,“ sagte er mit seinem schärfsten Tone, „einem einseitigen Vorgehen in dieser Sache muß auch ich mich Namens des gefürsteten Hochstifts Triefalten nachdrücklichst widersetzen.“

„Aber was fällt Ihnen denn ein, Hochwürdigster?“ rief jetzt der Reichsgraf, vollständig ergrimmt; „einen Strolch, der mein Bild an den Galgen gehängt hat, soll ich nicht einsperren lassen?“

„Bedenken die Erlaucht,“ versetzte der Prälat mit seinem kühlen, scharfen Tone, der zu der Aufregung und dem Toben des Bürgermeisters einen eigenthümlichen Contrast bildete; „Sie haben nicht allein daran gehangen, mein Conterfei hat ebenfalls daran gehangen!“

„Und das meine ebenfalls!“ schrie der Bürgermeister, „ich muß mich auch widersetzen, daß auf einseitigen Befehl der Comtesse Aglaë die Bilder abgenommen werden. Was meint Er, Syndicus Schaumlöffel?“ wandte er sich zu einem kleinen Herrn, der während dieser Verhandlung zornig mit den Augen blinzelnd hinter ihm gestanden hatte.

„Was ich meine?“ sagte dieser jetzt laut und heftig, „ich meine, wir dürfen den Rechten der Gemeinde, deren Väter und Vertreter wir sind, nicht das Mindeste vergeben. Ich beantrage, daß die Bilder, welche man eben auf einseitige reichsgräflich Glimmbach’sche Veranstaltung abzunehmen beflissen ist, wieder an ihren Platz gebracht werden. Man darf für die einzuleitende Untersuchung nichts an dem corpus delicti verändern. Ich verlange den status quo!“

Wir verlangen den status quo – die Bilder müssen hingehängt werden!“ schrie der Bürgermeister.

„Ich kann mich diesem Verlangen nicht anschließen!“ sagte kopfschüttelnd der Prälat.

„Es hieße ein Scandalum verlängern,“ flüsterte ein langer, dürrer Mann mit einem Pferdegesicht und einem tief in die melancholische Stirn gedrückten dreieckigen Hute dem Prälaten zu.

„Er hat Recht, Hofrichter Hopfensteck,“ sagte der Prälat, „es wäre ein Scandalum. Die Bilder müssen herunter.“

„Man nehme sordersamst eine Restitutio in integrum vor,“ fuhr der Hofrichter des Prälaten fort, „man hange sie wieder hin, und dann läßt Jeglicher der drei also in ihrer Ehre gekränkten Herren das seinige abnehmen.“

„Macht’s damit, wie Ihr wollt,“ fuhr mürrisch der Reichsgraf dazwischen, „alles Andere aber sind Flausen. Der Gefangene ist von meinen Leuten auf meinen Befehl in sichere Hand genommen, und der marschirt in meinen Thurm und wird von meinem Gericht justificirt!“

„Er ist auf Großlingenschem Grund und Boden betroffen und wird demnach auch in Großlingen inhaftirt gehalten!“ rief der Bürgermeister mit dem äußersten Zorn dawider.

„Ei, seht mir doch die Magnificenz an!“ rief der Reichsgraf jetzt mit einem äußerst beleidigenden Höhne. „Ich habe die Herren heute als meine Gäste zur Jagd geladen, und was bei dieser Gelegenheit vorfällt, das habe ich als Jagdherr zu schlichten und zu richten. Dabei bleibt’s – fort mit dem Gefangenen!“

Albrecht war jedoch zu seinem Heile, zu seiner unbeschreiblichen Erleichterung längst zwischen zwei handfesten gräflichen Jägern davon gegangen und auf dem Wege nach Hohenklingen. Das aber endete den gewaltigen Zwist nicht, der über ihn zwischen den drei Gewaltigen entbrannt war.

In diesem Zwiste war der Reichsgraf eben nahe daran, obzusiegen, und zwar durch das zuletzt von ihm vorgebrachte Argument, als er sich plötzlich in seiner zornigen Aufregung eine Blöße gab, welche die Hartnäckigkeit seiner Widersacher auf’s Höchste brachte. „Ueberdem,“ setzte er nämlich hinzu, „ist das Hauptverbrechen an mir begangen, ich bin der regierende Reichsgraf von Glimmbach zu Hohenklingen, und dem spielt man nicht einen solchen Streich, ohne daß er sich selber Revanche dafür nimmt, das merkt Euch, Ihr Herren!“

„Das können wir Euer Erlaucht nicht einräumen, müssen geziemendst depreciren,“ fiel hier sogleich der Prälat ein. „Die eine Landesherrschaft steht so hoch wie die andere, das crimen commissum ist vollständig ein und dasselbe, ob es gegen Euer Erlaucht oder gegen mich …“

„Es ist ein und dasselbe,“ rief hier der Bürgermeister dazwischen, „ob es an einem Reichsgrafen oder an der hohen Obrigkeit einer gemeinen Stadt und Landschaft Großlingen, oder an einem zeitigen Prälaten hochwürdigen und gefürsteten Stifts Triefalten begangen wird! Es ist ein völlig gleich zu qualificirendes Reat! “

Dabei stelzte der Bürgermeister mit langen Schritten, wie ein zorniger Hahn in der Kampfbahn, dicht an die Seite des Prälaten. Dieser aber sah mit einem ganz unbeschreiblichen Blick bemitleidenden Hochmuths auf den ihm zu Hülfe kommenden Bundesgenossen und sagte sehr ruhig: „Mit Verlaub, Euer Magnificenz – dagegen ließe sich doch etwas erinnern! Was die Beleidigung einer landesfürstlichen Obrigkeit angeht, so ist allerdings das Reat vollständig gleich zu qualificiren, ob es nun einen Reichsgrafen, wie Seine Erlaucht, unsern sonderbaren Freund und Gönner, oder den fürsichtig-wohlweisen Consuln der freien Reichsstadt betrifft. Ich bitte aber in Anbetracht zu nehmen, daß bei uns, dem zwar unwürdigen, aber erwählten und infulirten Abten des Gotteshauses Triefalten, unsere geistliche Würde hinzukommt und der unauslöschliche Charakter unserer priesterlichen Würde, deren Antastung dieses Verbrechen zu einem gegen Gott, die Religion und die Kirche stempelt, weshalb denn weiter gar kein Streit und Zweifel mehr obwalten kann, daß sofort der Gefangene an uns auszuliefern sei.“

„An uns auszuliefern sei,“ echoete der Hofrichter Hopfensteck, der während der obigen Rede still andächtig seinen hochwürdigen Amt- und Brodherrn angeschaut hatte und jetzt die Schlußfolgerung derselben mit einer ganz entsetzlichen Entschiedenheit wiederholte, als ob er sich wie ein Löwe auf Jeden stürzen wolle, der ihm widersprechen werde.

„Der Gefangene wird nicht ausgeliefert, der Gefangene bleibt, wo er ist!“ erwiderte mit zorniger Barschheit der Reichsgraf.

„Und er wird doch ausgeliefert,“ schrie der Syndicus Schaumlöffel; „er ist auf unserem Grund und Boden inhaftirt, und man soll Großlingen nicht an seine Rechte tasten! Hier steh’ ich, auf unserem Territorio, und protestire feierlich gegen die Verletzung unserer Jura, Privilegia und kaiserlichen Gnadenbriefe!“

„Und hier steh’ ich,“ rief der Hofrichter Hopfensteck aus, indem er mit seinen langen Beinen auf die andere Seite des Galgens stelzte, wobei der Prälat nebst seiner Dienerschaft ihm folgte, „hier steh’ ich auf meines gnädigsten und hochwürdigsten Herrn von Triefalten Immunität und gefreitem Gebiet und protestire wider jegliches einseitige Vorgehen!“

„Protestirt so viel Ihr wollt,“ sagte der Reichsgraf sich mit seinem Gefolge auf die dritte Seite des Galgens zurückziehend, „hier steh’ ich auf meinem Grund und Boden und lasse mir nichts vorschreiben. Und damit basta – die Jagd kann beginnen – Oberförster, stelle Er die Schützen an.“

Aber die zwei in ihren Rechten und in ihrem Ehrgefühl so bitter gekränkten Parteien hatten nicht Lust mehr, an der Jagd Theil zu nehmen. Während der Oberförster des Reichsgrafen begann, die Standpunkte der Jäger zu bestimmen, und zugleich Hornsignale für die Treiber geben ließ, hielten der Prälat und der Bürgermeister, jeder in seiner Gruppe, einen kleinen Kriegsrath und dann begaben sie sich ohne Abschied von dem Reichsgrafen, der sich nicht weiter um sie kümmerte, jeder auf seinen respectiven Heimweg.



3.

Während die Herren so mit unversöhnlichem Groll auseinander gingen, der Reichsgraf mit seiner schönen Tochter und seinem Triumph dem Jagdvergnügen nach, der Bürgermeister mit seinem Syndicus und seinem Ingrimm nach Hause, und der Prälat mit seinem Hofrichter Hopfensteck und Racheplänen in’s gefürstete Stift Triefalten heim – unterdeß sammelte sich eine kleine Gruppe von Dienern der beiden geschlagen abziehenden Herrschaften vor der Bude des kleinen Schenkwirths. Sie wollten sich von diesem Näheres über [643] den unerhörten Fall berichten lassen, und in guter Freundschaft – denn was kümmerte sie der „Streit der Mächtigen“ – bei den ausgebotenen Erfrischungen darüber discuriren. Das zopfwedelnde Männchen gab Antwort auf alle Fragen, die es beantworten konnte; es war weit entfernt, seine Sache – es glaubte seine Sache stände sehr schlimm, da es durch sein Geplauder den ganzen Vorfall veranlaßt hatte – durch Leugnen noch schlimmer zu machen. Und so stellte sich denn bald heraus, daß der Frevler zwei gewesen: und daß der Hauptschuldige, der die Bilder aufgehangen, ein schwarzbrauner Italiener gewesen, oder doch ein Mensch aus sonst einem Lande, wo die Sonne die Köpfe schwarz brennt und die Hölle die Seelen, daß sie solcher erschrecklicher Thaten fähig werden. Denen aus der Versammlung aber, die mit dem hochwürdigen Herrn von Triefalten als dessen Büchsenspanner und Leibdiener gekommen, ward alsbald klar, daß die Verbrecher Niemand anders als die zwei Leute seien, welche in der vergangenen Nacht im Konvente ihre Herberge genommen, und von denen Einem der Mannen bekannt war, daß sie ihr Reisegepäck dort gelassen … es war also wahrscheinlich, daß der flüchtige Frevler sich auch im Stifte wieder einstellen werde, um sein Eigenthum zu reclamiren, und bei dieser Gelegenheit brauchte man ihn nur zu fassen, um den Hauptthäter in Haft zu bekommen und über beide Nebenbuhler zu triumphiren. Nachdem die Leute des Convents ihre Gläser geleert, trennten sie sich deshalb von den Städtischen und eilten ihrer Herrschaft nach, um diese zu erreichen und Bericht zu erstatten.

Unterdeß war Albrecht, unser gefangener Freund, zwischen den zwei handfesten Gesellen, denen seine Obhut anvertraut war, durch dichte Waldgründe bergab und wieder bergauf geführt, durch wahrhaft prächtige Bergwälder, in denen die Drossel schlug, der Finke sang, und im Sommersonnenscheine Alles in lustigem Leben und Treiben begriffen war: die Mücken, die auf und ab tanzten vor den eilig schreitenden Männern her, der weiße Falter, der quer über den Weg her flatterte, und die Menschen, die aus den fernen Gründen herüber die Fanfaren und Signale der begonnenen Jagd durch die reine Morgenluft schmettern ließen. In dieser schönen freien Gotteswelt wollte es Albrecht gar nicht zu Sinn, daß er wirklich ein Gefangener, ein von Strafen und Mißhandlungen bedrohten Delinquent sei, den man in einen dunklen und fürchterlichen Kerker und vor ein Gericht eines kleinen Despoten führte, das sicherlich nicht geneigt war, ihm auch nur das Geringste von seinen entsetzlichen Proceduren zu schenken, da es selten in dem Hochgenuß schwelgen konnte, einen solchen Capitalverbrecher vor seine Schranken zu ziehen. Als er aber bei einer Wendung des Weges vor sich ein ärmlich aussehendes Städtchen und neben demselben, auf halber Höhe des dahinter emporsteigenden Berges, das massiv und stattlich dastehende Schloß Hohenklingen erblickte, welches von vier oder fünf äußerst düster und tückisch aussehenden dicken Thürmen überragt wurde, da begann Albrecht das Mißliche seiner Lage zu fühlen; eine gewisse Verzweiflung bemächtigte sich seiner, und er sah sich seine beiden Begleiter darauf an, ob es möglich sein werde, ihnen auf irgend eine Weise zu entkommen. Die Aussicht dazu war schwach; der eine dieser wohlbewaffneten Burschen schritt vor ihm her, und der andere folgte. Geladene Büchsen führten sie beide; Mienen, als ob sie geneigt wären sich überrumpeln zu lassen, machten sie auch nicht … es war von dieser Seite keine Hoffnung da. Und so kam man dem unerfreulichen Ziele näher und näher und endlich in eine Gasse der kleinen Stadt, wo die Straßenjugend zusammenlief, um dem stattlichen jungen Herrn, den man als Verbrecher transportirte, zu folgen, und die Hunde hinterdrein bellten, als ob sie, die Sicherheits-Wächter und Beschützer nächtlicher Ordnung, ihre moralische Entrüstung darüber ausdrücken wollten, daß ein so anständig aussehender junger Mann sich in solche Lagen durch seinen Leichtsinn bringe. Und dann kam man in einen Hohlweg, der zum Schlosse hinaufführte, und dann unter den dunklen Thorbogen des alten Bergcastells und endlich auf einen kleinen, von allerlei Gebäudetheilen aus den verschiedensten Zeiten umringten Hof. Links war eine Thür mit gothisch gewölbtem Bogen, neben welcher einige Gewehre an die Wand gelehnt standen. Die Thüre war offen; ein schrecklicher Geruch von Bier und furchtbar schlechtem Tabak drang Albrecht daraus entgegen; er mußte jedoch nichts desto weniger diesen Qualen trotzen und sich der eigenthümlich aussehenden Gesellschaft vorstellen lassen, welche da drinnen schmauchend, plaudernd oder schlafend auf Pritschen umherlag oder mit äußerst schmutzigen Karten sich die Zeit vertrieb. Albrecht befand sich dem reichsgräflich Glimmbach’schen Armeecorps, welches hier sein Hauptquartier hatte, gegenüber.

Der Commandeur dieser Armada, der in der militärischen Hierarchie die hohe Staffel eines Feldwebels erreicht hatte, auch durch martialische Haltung und wohleingebundenen, fettglänzenden Zopf solcher Bedeutsamkeit alle Ehre zu machen beflissen war, musterte schweigend und düster den Gefangenen, den man ihm brachte.

„In den Thurm soll er?“ sagte der Mann nach einer stummen Pause zu einem der beiden escortirenden Jäger. „Weshalb in den Thurm? Hat Er was Schriftliches darüber?“

„Die Erlaucht haben’s so befohlen!“ versetzte der Jäger.

„Befohlen? Ihm? Das geht uns vom Militäre nicht an. Wenn Er nichts Schriftliches hat, so geht es uns nichts an. Das Militär braucht sich nicht darum zu kümmern, sondern nur um sein Dienstreglement. Auf der Hauptwache abgelieferte Arrestanten kommen in das Wachtgefängniß. Ich werde das Subject in das Wachtgefängniß einsperren, bis Serenissimus selber es anders ordiniren! Komm Er mit!“ wandle er sich dann an den Gefangenen. Albrecht folgte ihm.

Es war eine schmale Zelle, wie die Wachtstube selbst gewölbt, braun geräuchert und dunkel, in welche Albrecht geführt wurde. Rechts war das Fenster, links im Hintergründe eine Pritsche. Es war natürlich, daß Albrecht sich eher nach der Seite des Lichtes, als nach der Dunkelheit wendete; er trat an das Fenster und da er bemerkte, daß es sich öffnen ließ, so beeilte er sich, frische Luft in seine Zelle einströmen zu lassen. Draußen vor dem Fenster befanden sich allerdings Stangen, welche dicht und fest genug waren, um jeden Gedanken an Flucht im Entstehen zu erdrücken; aber diese Stangen waren unten rund ausgebaucht, so daß man sich ungehindert in das Fenster legen und mit vorgebeugtem Kopfe nach rechts und links den Hof überschauen konnte. Albrecht schob den einzigen Stuhl, der in dem Raume war, heran und ruhte sich eine Weile, den Arm auf die Fensterbrüstung gestützt, von seinen morgendlichen Wanderungen aus. Sein Auge überflog dabei mit einer lässigen und halben Aufmerksamkeit den Schloßhof mit allen seinen aus verschiedenen Zeiten stammenden und unvermittelt an einander geschobenen Bautheilen, die bald das schwerfälligste, grobsteinige Mittelalter, bald Rococostyl und bald Fachwerkgestocke zeigten, an welchen letzteren die Balken und Ständer und Streben mit allerlei Schnitzereien verziert und mit schönen Bibelsprüchen bedeckt waren.

Für’s Erste benutzte jedoch Albrecht die ihm gebotene angenehme Gelegenheit zur Lectüre der frommen Sprüche nicht; sein Auge schweifte müde über die ihn umgebenden hohen Mauern, die Fenster von allerlei Gestalt, die Erker, Giebel und Dächer, von denen hohe Essen und Thurmhauben in die weite Ferne blickten. Auch sah er mancherlei eigenthümliche Gestalten, Diener in sauberen Jacken und Hausröcken, Mägde in seltsamen Trachten mit radgroßen Mützen und faltigen kurzen Röcken, Soldaten in ganz curiosen Uniformen mit Blechmützen, die wie Bischofsmützen aussahen, im Schloßhofe sich müßig, schäckernd, lungernd umhertreiben. Vor seinem Fenster und vor der Thüre der Wache schritt eine Schildwache auf und nieder, gähnte, blieb stehen, reckte die Glieder und begann dann wieder ihren langsamen Wandelgang; endlich stellte sie ihr Gewehr an die Mauer und zog aus der Patrontasche ein, wie es schien, zum Privatbesitz des Mannes gehörendes Taschenmesser hervor und begann die Klinge desselben auf seinem Nagel zu probiren. Mechanisch war dadurch Albrecht’s Aufmerksamkeit auf des stattlichen Kriegers Patrontasche gezogen worden, auf deren Teckel sich ein Namenszug von blankem Messing befand. Was war an diesem Namenszug, das ihm bekannt vorkam oder vielmehr wie eine Art Erinnerung in ihm weckte, und das; er darauf hinblickte, ohne doch sich Rechenschaft darüber geben zu können, was ihm daran auffiel? Und dann … war es nicht wieder derselbe Eindruck, den er erhielt, als er nach einer Weile das Auge abwandte und über den ihm gegenüberliegenden Gebäudetheil hinstreifen ließ und über dem Portal ein großes, aus Stein gehauenes Wappen erblickte, auf welchem ganz derselbe Namenszug angebracht war? Es war eine höchst künstlich verschnörkelte Chiffre, aber man mochte sie nun betrachten wie man wollte, das Endresultat des darauf verwendeten Studiums war allezeit, daß sie ein C und zwei X bildete. Ein C und zwei X … das war CXX; und dies war ja die Hieroglyphe, [644] womit die Briefe an Fano’s Mutter, die Briefe, welche Albrecht noch immer in der Tasche trug, unterzeichnet waren … der Gedanke durchschoß unsern Gefangenen, nachdem er eine Minute lang das Wappen angestarrt hatte, wie ein Blitz, und augenblicklich zog er sein Taschenbuch hervor, in welchem er jene Briefe untergebracht hatte, bis er Muße und Lust gewinnen würde, sie zu durchlesen. Diese Muße war ihm ja jetzt in vollem Maße vergönnt, und so nahm er und entfaltete das kleine Packet und begann darin zu lesen. Die Briefe waren in italienischer Sprache geschrieben; sie waren sehr zärtlich, aber auch sehr kurz, mit einer großen und unbehülflichen Handschrift auf dickes, unbeschnittenes Papier geschrieben; auch waren ihrer sehr wenige, etwa vier oder fünf; und obwohl Albrecht den Inhalt verstand, machten sie ihm doch den Eindruck, als habe der Schreiber darin mit ziemlicher Mühe ein etwas seltsames Italienisch zusammengestellt. Albrecht rief die Schildwache an.

„Sag’ Er mir einmal, guter Freund,“ sagte er, „was bedeutet der Namenszug auf seiner Patrontasche da?“

Der Mann holte sich die Patrontasche von seiner Rückseite nach der Vorderseite herüber und betrachtete sie eine Weile sehr aufmerksam.

„Was wird’s bedeuten?“ versetzte er dann – „den Namen vom Gnädigsten!“

„Und wie lautet der Name?“

„Cosimus.“

„Cosimus? Ist das Alles?“

„Ich glaub’ halt schon. Der Feldwebel drin wird’s wissen.“

„Ruf’ Er den Feldwebel einmal her.“

Die Schildwache sah den Gefangenen ein wenig überrascht, daß dieser in so bestimmtem Tone Befehle ertheile, an, dann rief er: „Feldwebel … kommt einmal heraus! Der Musjeh drin will Euch etwas sagen.“

„Na, was will Er denn?“ fragte der Feldwebel, auf der Schwelle der Wachtstube erscheinend.

„Ich möchte wissen,“ hub Albrecht an, „was der Namenszug da auf den Patrontaschen bedeutet.“

„Das bedeutet Cosimus der Zwanzigste.“

„Cosimus der Zwanzigste … ich danke Euch, Feldwebel. Wart Ihr schon lange hier im Dienste?“

„So ein Jährle oder zwanzig!“

„Zwanzig Jahre … und wißt Ihr, ob vor der Zeit Euer Serenissimus …“

In diesem Augenblick wurden die beiden Kriegsmänner von einer plötzlichen Aufregung ergriffen, die Albrecht hinderte, seine Frage zu enden. Die Schildwache eilte mit langen Schritten, sich neben die Thüre der Wache strack und stramm auszustellen. Der Feldwebel eilte eben dahin – der Mann auf dem Posten erhob ein ganz entsetzliches, an den alten Mauern wiederhallendes Gebrüll:

„Wache …“

Das „heraus“, welches er folgen lassen wollte, wurde aber kurz abgeschnitten durch eine gebietende Handbewegung, welche eine schmale Hand und ein graziös erhobener Arm machten – die Hand nämlich und der Arm Aglaë’s, der jungen Gräfin, welche in diesem Augenblicke in ihrem Jagdcostüme, den Büchsenspanner, der der Ankläger Albrecht’s geworden, hinter sich, in den Schloßhof trat. Sie wehrte entschieden und, wie es schien, etwas mißmuthig die ihr zugedachten militärischen Honneurs ab und wandte sich einem Theile des Gebäudes zu, den sie nicht erreichen konnte, ohne ziemlich dicht an dem Fenster vorüber zu gehen, in welchem Albrecht lag.

Albrecht’s erste Bewegung war, sich rasch in den Hintergrund seiner Gefangenzelle zurück zu ziehen – es war ihm in der ganzen Welt nichts unangenehmer, als von der jungen Gräfin in seiner demüthigen Situation erblickt zu werden. Dieser ersten Bewegung aber folgte der Gedanke, daß, wenn er so glücklich sein könne, nur ein paar Worte mit der jungen Dame zu wechseln, es ihm vielleicht gelinge, ihre Vermittlung zu gewinnen, um aus eben dieser demüthigen Lage heraus zu kommen. Deshalb blieb er, wo er war, und als er sah, daß Aglaë, während sie an ihm vorüberging, einen raschen Blick auf ihn warf, sagte er:

„Meine gnädigste Comtesse, würden Sie, wenn ein Graf Albrecht von Werdenfels Sie ersuchte, ihm eine Audienz zu gewähren, diese Bitte abschlagen?“

„Graf Albrecht von Werdenfels?“ fragte sie erstaunt stehen bleibend.

„Das ist mein Name,“ versetzte er mit einer leichten Verbeugung.

„Und Sie wünschen mich zu sprechen?“

„Es ist der heißeste Wunsch meines Herzens, natürlich aber eine Audienz, die nicht durch dies Sprachgitter hier geführt würde und nicht Ew. Erlaucht zwänge, in einer Ihrer unziemlichen Situation zu verharren.“

Sie schien einen Augenblick nachzudenken.

„Sind Sie wirklich …“ begann sie dann.

„Der jüngere Sohn des Grafen Gebhard von Werdenfels,“ unterbrach er mit einer so sichern und vornehmen Haltung, daß Aglaë keinen Zweifel mehr in sich aufsteigen fühlte und dem Feldwebel winkte.

„Der Herr,“ sagte sie diesem, „verlangt mich zu sprechen, führ Er ihn nach oben in meine Zimmer.“

„Erlaucht, ich bin für den Mann verantwortlich,“ versetzte der Feldwebel, die Hand an der Blechmütze.

„Ich befehl’s Ihm,“ entgegnete die junge Dame sehr entschieden, „auch kann Er im Vorzimmer bleiben.“

Damit wandte sie ihm wie dem Gefangenen den Rücken und schritt auf die nächste Thüre zu, die über eine kleine Treppe in das Innere des Schlosses führte. Nach fünf Minuten stand der Graf von Werdenfels in einem kleinen, altfränkischen, mit schweren und massiven Möbeln besetzten Gemach. Er hatte Zeit sich darin umzusehen, denn es dauerte eine Weile, bis die junge Gräfin, gefolgt von einer alten, dueñamäßig aussehenden Dame in breiten Poschen und hohem gepuderten Toupê durch eine weit offen gerissene Flügelthüre eintrat.

„Was haben Sie mir zu sagen?“ fragte die Gräfin, an einem Tische stehen bleibend, wie um anzudeuten, daß sie der Audienz keine lange Dauer wünsche, oder vielleicht auch um der Nothwendigkeit überhoben zu sein, auch Albrecht zum Sitzen einzuladen.

„Meine gnädigste Erlaucht,“ sagte Albrecht mit einer Verwirrung, die ihn jetzt zum zweiten Male bei dem Anblick der schönen Gräfin überkam, „ich weiß in der That nicht, wie ich beginnen soll. Wenn ich in diesem Augenblicke meine ganze kühle Ruhe und Geistesgegenwart hätte, so würde ich vor Allem zuerst davon reden, daß ich Ihre gütige Vermittlung in Anspruch nehme, um sofort aus einer Gefangenschaft befreit zu werden, die, gegen eine Person meines Ranges und meiner Herkunft verhängt, eine schwere Rechtsverletzung ist. Ich bin auf einer Reise nach Wien begriffen, bin mit Empfehlungsschreiben an den Reichsvicekanzler ausgerüstet und würde unmittelbar beim Kaiser Beschwerde erheben, wenn mir nicht Genugthuung gewährt würde. Aber Alles das liegt mir in diesem Augenblicke nicht am Herzen …“

„Und was liegt Ihnen denn am Herzen, mein Herr Graf?“ unterbrach ihn Aglaë mit einem kalten und fast ironischen Tone, unter welchem sie doch eine große Verlegenheit und innere Bewegung nicht ganz zu verbergen vermochte.

„Am allermeisten das,“ antwortete Albrecht, „vor Ihnen einen thörichten Pagenstreich zu entschuldigen, den ich zwar nicht begangen habe …“

„Sie haben ihn nicht begangen? “ rief Aglaë lebhaft aus.

„Nein, es hat ihn ein Anderer ausgeführt, der Zeit hatte zu entfliehen, während ich von Ihrem Anblick gefesselt stand und unter Ihren Augen zu fliehen meiner unwürdig hielt … aber ich nehme die volle Verantwortlichkeit für das, was geschehen ist, auf mich!“

„Nun, dann werden Sie auch keine Ursache haben, sich zu beschweren,“ fiel Aglaë ein.

„Ich wollte ja eben bemerken, daß ich in diesem Augenblicke weit weniger an eine Beschwerde denke, als an die Hoffnung, in Ihren Augen etwas gerechtfertigter und Ihrer Achtung werther dazustehen, wenn Sie mich angehört haben. Es ist mir unerträglich, Ihnen als ein Mensch ohne Besonnenheit und Vernunft zu erscheinen, als ein Abenteurer vielleicht, der sich durch seinen Leichtsinn in eine lächerliche Situation gebracht hat – ja, in eine wirklich lächerliche – die schlimmste von allen …“

[657] „Nein, lächerlich ist Ihre Lage nicht gerade,“ unterbrach ihn Aglaë, die bei der sichern und gewandten Redeweise des mit gerötheten Wangen und aufgeregt leuchtenden Augen vor ihr stehenden jungen Grafen allmählich die kühle Sicherheit ihres Wesens verloren hatte und ihn nicht mehr so offen wie früher ansah, sondern die Augen niederschlug, „im Gegentheil, sie ist sehr ernst, denn mein Vater ist höchst erzürnt und durchaus nicht geneigt, das schwere Verbrechen, welches Sie begangen haben, in einem versöhnlicheren Lichte zu sehen. Ich gestehe Ihnen gern, daß ich vorhin eine Gelegenheit ergriff, mit meinem Vater allein darüber zu reden und …“

„Und das,“ fiel Albrecht beinahe mit einem flehentlichen Tone der Stimme ein, „das geschah gewiß nicht, um meine Lage zu verschlimmern!“

„Es geschah nicht dazu,“ antwortete sie, jetzt wieder offen und voll ihn ansehend, „es geschah, um ihn zur Milde geneigt zu machen; aber ich bin erschrocken, ihn so unnahbar und gereizt zu finden. Die ärgerliche Scene, welche zwischen meinem Vater und seinen Gebietsnachbarn Ihretwegen stattfand, hat eine Verstimmung in ihm erregt, welche nicht geeignet ist, Ihnen irgend eine Hoffnung auf eine andere Behandlung, als die allerstrengste, zu lassen. Ich gestehe Ihnen auch offen, daß ich erschrocken bin über den strengen und unbeugsamen Entschluß meines Vaters in dieser Sache, und daß ich deshalb die Jagd verließ, an der ich beunruhigt und besorgt keinen Theil mehr nehmen mochte.“

„O, ich danke Ihnen, Gräfin, ich danke Ihnen für diese Worte,“ fiel Albrecht hier feurig ein. „So schlimme Dinge Sie mir auch prophezeien, ich achte Alles dessen nicht, denn ich höre aus diesem Allen nur die Theilnahme heraus, womit Sie mich glücklich machen! …“

„Sie nehmen eben,“ erwiderte sie, abermals erröthend und die Blicke niederschlagend, „Ihre Lage mit demselben leichten Sinne hin, welcher Sie in diese Lage gebracht hat. Vielleicht halten Sie Ihren Namen, der allerdings der eines edlen und vorzüglichen Geschlechts ist, für den Zauber, welcher Ihre Fesseln sprengen wird. Aber täuschen Sie sich darin nicht – mein Vater selbst wird vielleicht das, was Sie gethan, als einen Pagenstreich ohne weitere bösere Absicht zu betrachten überredet werden können, wenn ihm nachgewiesen ist, daß Sie Graf Albrecht von Werdenfels sind. Allein er darf Sie deshalb doch nicht milder behandeln, weil den Gebietsnachbarn gegenüber seine Ehre verpfändet ist. Er hat diesen Leuten gegenüber die Verpflichtung, Sie so strenge zu behandeln, daß deren verletzte landesherrliche Würde und Autorität sich für befriedigt erklärt. Die regierenden Herren der Reichsstadt Großlingen werden sich in dieser Beziehung sehr wenig um die Ansprüche auf glimpfliche Behandlung kümmern, welche Ihnen Ihre Geburt in den Augen meines Vaters geben könnte!“

„Sie finden ein grausames Vergnügen daran, mir meine Hoffnungen zu zerstören, Comtesse,“ sagte Albrecht mit einem Tone des Vorwurfs, „… was hat ein armer Gefangener denn anders als seine Hoffnungen? Weshalb mir mein letztes Gut rauben?“

„Ich will Ihnen nicht Ihre Hoffnungen rauben,“ sagte sie eifrig, „ich wollte Ihnen nur Ihre Lage in einem Lichte darstellen, das Sie veranlassen sollte, mit dem Ernste, den die ganze Angelegenheit fordert, mir Alles das zu sagen, was Sie zur Erklärung Ihres unbegreiflichen Verfahrens, zur Entschuldigung, wenn Sie wollen, anführen können.“

„Das verlangen Sie nur, Comtesse … und wollen Sie, wenn ich es gethan, meine Fürsprecherin bei dem Grafen für mich werden – darf ich das hoffen?“

„Ich will es,“ erwiderte sie halblaut, „wenn Sie etwas anführen, was mich dazu in den Stand setzt.“

Albrecht machte eine leichte Verbeugung, wie um ihr seinen Dank auszusprechen, und begann dann zu erzählen, wie er überhaupt in diese Gegend gekommen, wie die Bilder in der kleinen Schankwirthsbude seine und seines Begleiters Lachlust gereizt, weil sie gar so lächerliche Physiognomien gezeigt … Albrecht war klug genug, sofort die plausibelste Entschuldigung zu finden, er stellte die Sache dar als hervorgegangen aus einem lebhaften artistischen Gefühle, das durch die abscheuliche Malerei verletzt worden sei, und wenn man ihn reden hörte, war man alsbald überzeugt, daß die beiden jungen Leute die Bilder nur an den Galgen gehängt hatten, weil sie diese Stelle als die passendste für die Werke eines so polizeiwidrigen Sudlers gehalten, wie der Maler dieser Portraits war.

Aglaë wenigstens glaubte an diese Auslegung sogleich, ohne noch das mindeste Bedenken zu hegen. Die beiden jungen Leute waren ja völlig fremd hier – wie konnte ihnen in den Sinn gekommen sein, die drei würdigen Urbilder der Portraits zu beleidigen ?

Sie hätte nun zu gleicher Zeit ohne Zweifel auch ihre Theilnahme an Albrechts Schicksale noch lebhafter an den Tag gelegt, als sie es bereits gethan, wäre nicht in der Erzählung des jungen Grafen etwas gewesen, was ihren Gedanken eine ganz eigenthümliche Richtung gab. Sie hörte offenbar mit großer Spannung dem [658] zu, was Albrecht von seinem Gefährten berichtete, und als er, sie scharf fixirend, fallen ließ, daß Fano’s Briefe mit einem C und zwei X unterzeichnet seien, veränderte sie offenbar die Farbe, während sie das Gesicht abwandte und, wie es schien, einen sprechenden Blick zu ihrer Dueña im Hintergründe hinüber warf.

Es schien auch. als ob sie von diesem Augenblicke an nicht mehr in der Gemüthsverfassung sei, das Gespräch mit Albrecht fortzusetzen. Der kühle Gleichmuth, den sie mit mehr oder weniger Erfolg während der Unterredung behauptet hatte, war offenbar gründlich erschüttert – sie mußte sich zusammennehmen, um Albrecht zu sagen, daß sie hoffe, ihren Vater von der Harmlosigkeit dessen, was vorgefallen, zu überzeugen, und um ihn dann mit einer unendlich freundlicheren Verbeugung, als womit sie ihn empfangen, zu entlassen.

Albrecht begab sich mit der besten Zuversicht, ja, mit einer gewissen Befriedigung über ein Abenteuer, welches ihn in diese Berührung mit einer so reizenden jungen Dame wie Gräfin Aglaë gebracht hatte, in die Hände des seiner harrenden Feldwebels zurück.




4.

Als der Abend herannahte, füllte sich der Schloßhof von Hohenklingen mit dem Troß des heimkehrenden Jagdzuges an. Der Reichsgraf erschien endlich selbst, ertheilte noch einige Befehle, die nicht darauf deuteten, daß er mit einer gnädigeren Stimmung, als worin ihn am Morgen Albrecht zu sehen Gelegenheit gehabt, zurückgekehrt sei, und begab sich dann mit seinen Beamten in das Innere des Schlosses, um das große Jagdmahl, zu dem die Ehrengäste fehlten, jetzt allein zu verzehren. Albrecht hatte eine leise Hoffnung, daß noch an diesem Abende seine Lage eine Veränderung erfahren und er nicht die Nacht in seiner Gefangenschaft zubringen werde. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Er mußte den Schlaf auf einer nicht eben sauberen Strohmatratze suchen und sich in die anderen Unbequemlichkeiten einer Haft finden, welche, je länger sie dauerten, desto unbehaglicher wurden. Auch am andern Morgen verging eine Stunde nach der andern, bis endlich ein Mensch in einer grünen Jagdlivree über den Hof gestürzt kam und dem Feldwebel, der die Schlosswache perennirend zu befehligen und nie abgelöst zu werden schien, den Auftrag brachte, seinen Schutzbefohlenen sofort zum Grafen heraufzusenden.

Es war ein anderer Theil des Gebäudes, als der von der Gräfin bewohnte, in welchen Albrecht geführt wurde; es war der Hauptbau, der dem Mittelpunkt des Ganzen, einen großen ovalen Speisesaal oder Ahnensaal, wenn man will, umschloß – denn beides war hier in dem einen großen, mit zwei ungeheueren Kachelöfen an den beiden Enden versehenen Gemache vereinigt; wahrscheinlich hatte man die Gestalten der tapfern Ahnen gerade hierhin in den Banketsaal gebracht, um sie Zeugen werden zu lassen, daß ihre Enkel an Großartigkeit heroischer Leistungen ihnen nicht nachgaben und ihrer nicht unwürdig geworden.

Reichsgraf Cosimus schritt in diesem Saale, dessen Fenster geöffnet waren und die Aussicht in einen nach französischem Geschmacke angelegten Garten gewährten, auf und ab. Er stieß dabei dicke Rauchwolken aus, welche er aus einem großen ungarischen Meerschaumkopf hervorqualmte.

Als Albrecht eintrat, blieb er stehen und den Gefangenen, der ihm eine höfliche Verbeugung machte, vorn Scheitel bis zur Sohle mit einem majestätischen Blicke messend, sagte er:

„Komm Er näher!“

Diese Worte wurden mit einer Stimme, die wie ein aus der tiefsten Brust aufsteigendes Donnergrollen lautete, gesprochen. Albrecht fand für gut, weder darauf zu antworten, noch dem Befehl zu folgen.

„Man nennt sich einen Grafen von Werdenfels?“

Der Graf von Werdenfels bejahte diese Frage durch ein stolzen Kopfnicken.

„Haben Sie etwas, was diese Angabe zu beweisen im Stande ist?“

„Ich habe einen Brief an den Reichsvicekanzler Graf Schönborn bei mir.“

„Ich bitte darum,“ antwortete der Graf, der aus der Scala der Höflichkeit immer mildere Töne anschlug.

Albrecht zog seine Brieftasche hervor und überreichte ein großes, mit den Werdenfels’schen rothen Fahnen gesiegeltes Schreiben dem Grafen. Dieser betrachtete es lange, und nachdem er sich von der Richtigkeit des Wappens überzeugt hatte, gab er es Albrecht zurück. „Wenn es Ihnen erforderlich erscheinen sollte, mögen Euer Erlaucht es öffnen.“

„Ich danke Ihnen,“ versetzte die Erlaucht, „es bedarf dessen nicht, Ihre ganze Erscheinung läßt mich nicht daran zweifeln, daß Sie die Wahrheit sprechen, obwohl es befremdlich ist, daß ein Graf von Werdenfels in einem so gründlichen Incognito reist. Aber das ist Ihre und noch mehr Ihres Herrn Vaters Sache. Ich bitte, Herr Graf, nehmen Sie Platz.“

Cosimus wies mit einer leichten Handbewegung auf ein Tabouret, welches in einer der Fensternischen stand, und setzte sich auf ein anderes, Albrecht dicht gegenüber.

„Sie haben mit der Gräfin, meiner Tochter, gesprochen,“ sagte er, „und bei dieser sich wegen des tollen Streichs verantwortet, mit dem Sie sich hier bei uns eingeführt haben. Ich will diese Entschuldigung gnädigst gelten lassen, zumalen es wahr sein mag, daß die Conterfeis, welche unsere Unterthanen in schuldiger Devotion sich von ihren gnädigst regierenden Landesherrn anfertigen lassen, mitunter den Herren Kunstverständigen zum Aergerniß gereichen können. Ich werde ein Edict dawider ausgehen lassen, auf daß hinfüro alle derartigen Maler-Elaborate, wenn sie mich betreffen, hierorts an eine censirende Hofstelle abgeliefert werden, welche sie mit einem Placet zu versehen hat; dann wird ein solcher Casus sich nicht wieder ereignen können!“

Albrecht nickte diesem Beschluß Serenissimi mit lächelndem Schweigen seinen Beifall, froh, daß er seine Schutzrede nicht noch einmal vorzubringen habe.

„Und so wollen wir denn,“ fuhr der Reichsgraf fort, „über diese Sache hinweggehen und gnädigst die bis jetzt erlittene Haft als ein genügsames, kleines Memento für den jungen Herrn gelten lassen … was hat es aber für eine Bewandtniß mit dem Begleiter des Herrn Grafen, dem jungen Italiener, der anitzt, wie anhero berichtet ist, als der Hauptschuldige im Stift Triefalten in Gewahrsam genommen ist?“

„Er ist ebenfalls verhaftet worden?“ rief Albrecht aus.

„So ist es. Von den Stiftischen!“

„Dann retten Sie ihn aus dieser Lage, Erlaucht,“ fuhr Albrecht lebhaft fort, „denn wenn mich nicht Alles trügt, bestehen Beziehungen zwischen Ihnen und dem armen Fano, welche ganz der Art sind, um Sie dazu aufzufordern.“

„Was wissen Sie darüber?“ fiel die dicke Erlaucht ein, indem sie eine furchtbare Wolke Rauchs ausqualmte.

„Fano Solari hat mir gesagt, daß seine Mutter, eine Venetianerin von gutem Hause, Teresa Solari geheißen, daß sie von ihrem Geliebten Briefe erhalten, welche die Unterschrift C. XX. getragen, daß er ein deutscher Cavalier aus Schwaben gewesen sein müsse …“

Graf Cosimus war bei diesen Mittheilungen offenbar in eine äußerst heftige innere Bewegung gerathen, welche er umsonst dadurch zu verbergen strebte, daß er bald rechts zum Fenster hinaus, bald links in die Tiefe des Saales blickte, bald hierhin, bald dorthin spuckte und eine schreckliche Rauchwolke um sich dampfte.

„Hat Derselbige solcherlei Briefe bei sich und kann sich damit ausweisen?“ fragte er endlich.

„Er hat dieselben mir zur Durchsicht anvertraut, und sie stehen zur Disposition, wenn es Euer Erlaucht gefallen sollte, zu gestatten, daß sie in meinem Besitz bleiben, denn ich bin meinem Freunde dafür verantwortlich!“

Die Erlaucht nickte einwilligend, und Albrecht zog noch einmal seine Brieftasche hervor und übergab ein kleines Convolut alter, vergilbter Papiere daraus dem Reichsgrafen.

Cosimus entfaltete mit bewegter Hand die Blätter und starrte sie mit einer Miene an, deren Ausdruck sehr schwer zu beschreiben war. Es stritten sich ein gewisses verschämtes Betroffensein und eine tiefere Rührung darin; er heftete bald seine Augen auf die Handschrift, welche ihn so lebendig in eine längst verschwundene Jugendzeit zurückversetzte, bald wandte er die Blicke mit einem gleichsam verächtlichen Kopfschütteln davon ab, spuckte zum Fenster hinaus und machte ein äußerst martialisches Gesicht, während seine derbe, gebräunte Faust die Papiere in ziemlich zerknittertem Zustande auf das breitgerundete Knie gedrückt hielt. Dann murmelte er allerlei Worte zwischen den Zähnen, die Albrecht nicht verstand, und schielte dabei zuweilen wie mit einer gewissen Aengstlichkeit auf [659] die Briefe hin, als ob er sie fürchte, und als ob daraus etwa eine kleine Schlange oder irgend ein anderes unangenehmes Ding hervorschlüpfen und ihm in’s Gesicht springen könne.

Mit einer plötzlichen Bewegung, welche offenbar zeigte, daß ihm die Sache Ueberwindung koste, gab er endlich Albrecht die Briefe zurück, und während dieser dieselben wieder an sich nahm, sagte er:

„Ich werde diesen jungen Menschen selber sprechen – ich werde hinüber reiten nach Triefalten … unterdeß bleiben Sie hier und lassen Sie es sich bei mir gefallen, Graf Werdenfels – betrachten Sie sich als meinen Gast – ich werde Ihnen Zimmer anweisen lassen.“

Er stand auf und rührte eine Glocke, die aus einem Spiegeltische stand. Als der Jäger, welcher vorhin Albrecht zu dem Grafen hinüber geführt hatte, erschien, sagte er:

„Weis’ Er dem Herrn die Fremdenzimmer an. Er bedient ihn und bleibt zu seiner Aufwartung bei dem Herrn Grafen. Jacob und Andree sollen satteln – für mich den Honigschimmel ich will ausreiten – sogleich!“

Der Jäger eilte hinaus und nach einer stummen Pause, während welcher Reichsgraf Cosimus schweigend seinen Meerschaumkopf ausgedampft hatte, kehrte er zurück, um Albrecht in die ihm bestimmten Gemächer zu führen. Die Erlaucht entließ den jungen Mann mit einem stummen Kopfnicken.

Albrecht fand in den ihm angewiesenen zwei kleinen Thurmzimmern mancherlei Toilettenbedürfnisse vor, so daß er im Stande war, seinen Anzug ein wenig zu ordnen. Doch fehlten ihm seine Sachen, und als er dem ihm zur Disposition gestellten Bedienten seine Noth darum klagte, versprach dieser einen der Reitknechte, welche die Erlaucht nach dem Stift begleiten würden, zu beauftragen, das leichte Gepäck mit herauszubringen. Der Jäger machte dann Anstalten, dem jungen Herrn ein treffliches Frühstück zu serviren, das dem eben aus seiner Gefangenschaft Erlösten sehr willkommen war. Endlich entfernte er sich, und Albrecht, der für’s Erste seine Zeit nicht anders herumzubringen wußte, verließ nach einer Weile ebenfalls sein freundliches Quartier, um durch die Schloßgebäude eine kleine Streiferei vorzunehmen und die eigenthümliche und jedenfalls höchst pittoreske Welt, in welche er gerathen war, näher zu betrachten.

Nachdem er auf langen, oft sehr dunklen Corridoren, wo Treppen und Treppchen bald hinauf und bald hinab führten, mehrere Theile und Flügel des weitläufigen Baues durchirrt hatte, gelangte er – es mußte in dem Theile des Schlosses sein, den Comtesse Aglaë bewohnte – am Ende eines Ganges an eine offene Flügelthüre, die auf einen hohen Treppenabsatz hinausführte, von welchem in zwei halbrundgeschweiften Fluchten steinerne Stiegen in den Garten hinabliefen. Er folgte ihnen und kam in den großen, eine in leiser Senkung sich abdachende Bergseite bedeckenden Garten des Schlosses. Hier umgab ihn eine seltsame und leider sehr vernachlässigte und ungepflegte Welt von verschnörkelten Beeten, welche die mannigfachsten Figuren, halbe Monde, Sterne, Buchstaben und Räder bildeten; von Taxushecken, die zu Thürmen, Obelisken, Truthähnen und Elephanten zugeschnitten waren; von kleinen Wasserwerken und Fontainen, die nicht mehr sprangen, und von ähnlichen Dingen, mit denen man im vorigen Jahrhundert die Natur zu verzieren und zu schmücken liebte, gleich als ob sie eine verblaßte Ballschönheit sei, welche man durch einen großen Aufwand von Ornamentik erst präsentabel machen müsse. Albrecht von Werdenfels, dem eine solche Art von Gartenkunst etwas ziemlich Neues war, vertiefte sich immer weiter in diese ihm fremde Welt, verirrte sich darin, ohne es zu bemerken, und stand endlich vor einem eisernen Gitterthor, das, halb geöffnet, ihn in eine Waldallee blicken ließ. Am Ende dieser Allee warf die Sonne, die das Laubgewölbe der dichten Wipfel nicht zu durchdringen vermochte, in eine Lichtung ihren vollen Strahlenguß und beleuchtete so ein höchst effectreiches Waldbild, welches noch interessanter und für Albrecht insbesondere anziehender durch die Staffage wurde, die er darin erblickte. Auf dem Hintergründe jener goldenen Strahlenhelle nämlich sah er zwei weibliche Gestalten sich bewegen, und ohne seine scharfen Augen viel dabei anstrengen zu müssen, erkannte er darin die Gräfin Aglaë nebst ihrem alten Gesellschaftsfräulein. Er gerieth in eine eigenthümliche Bewegung bei diesem Anblick, in Etwas, was einem großen Erschrecken sehr ähnlich war, und sein erster Impuls war, sich unsichtbar zu machen, sein zweiter Gedanke jedoch der, ihr kühn entgegen zu gehen und sich als freier Mann ihr vorzustellen, als der Gast ihres Vaters, der jetzt Alles aufbieten durfte, um bei ihr den Eindruck zu verwischen, den er ihr in seiner halb lächerlichen, halb bemitleidenswerthen Lage von gestern gemacht haben mußte.

Albrecht nahm sich also ein Herz und schritt – er bemerkte zu seiner Verwunderung, daß sein Schritt eine eigenthümliche Unsicherheit habe – aufrechten Hauptes – er bemerkte ebenfalls zu seiner Verwunderung, daß es ihm merkwürdig schwer wurde, das Haupt ruhig und stolz aufrecht zu tragen den herankommenden Damen entgegen. Es war übrigens seltsam, daß Gräfin Aglaë an sich selber etwas von ähnlichen Bemerkungen machen mußte – denn sie nahm plötzlich den Arm ihrer Begleiterin, und es schien Albrecht, als ob ihr Schritt sich in dem Maße verlangsame, wie der seine unter dem Einfluß einer bedeutenden Beklemmung schwankender wurde. Die beiden jungen Leute standen sich endlich gegenüber, und es mußte für sie etwas da sein, was diesem Augenblick eine Bedeutung gab, die er ganz offenbar für das alte Gesellschaftsfräulein nicht hatte. Denn das Gesellschaftsfräulein sah so gelb und verwittert aus, so würdevoll und so namenlos gefaßt auf alle Vorkommnisse des irdischen Lebens, wie sie zu allen Stunden des Tages oder der Nacht aufsah. Die beiden jungen Leute aber, welche sich jetzt anblickten und dann beide ein wenig zur Seite blickten, wechselten zwei bis drei Mal die Farbe, bis auf Aglaë’s holdem runden Gesichte ein etwas höheres Incarnat als das gewöhnliche, und auf Albrechts Zügen ein etwas blässerer Teint als der, welcher sonst darauf lag, endlich die Oberhand gewannen und sich der Herrschaft bemächtigten.

„Sie sehen, Comtesse,“ sagte Albrecht, während er sich rief verbeugte und das dreieckige Hütlein mit der schmalen Goldborte schwenkte. „Sie sehen, daß es nicht so schlimm mit mir steht, wie Ihre Erlaucht mir vorherzusagen beliebten. Dieselben machten sich ein äußerst grausames Vergnügen daraus, mir mindestens Galgen und Rad in Aussicht zu stellen, und ich glaube, Sie hatten die Jagd, an welcher Sie theilzunehmen begonnen, blos und lediglich in der Absicht verlassen, um sich das Vergnügen, Ihren armen Gefangenen so in Schreck und Angst zu versetzen, desto früher machen zu können!“ .

„Der Herr Graf von Werdenfels,“ versetzte Aglaë verlegen, „schieben mir sehr böse Absichten unter – aber es freut mich aufrichtig, dieselben in einer Lage zu sehen, worin Ihnen Ihre alte Scherzhaftigkeit und Lust am Spott so bald und so völlig zurückgekehrt ist!“

„O, ich verstehe den kleinen Hieb. den die gnädige Comtesse mir zu versetzen belieben,“ fiel lächelnd Albrecht ein; „aber ich nehme ihn demüthig hin, da ich ja weiß, daß ich Ihrer Fürsprache die günstige Veränderung meiner Lage verdanke, die mir erlaubt, als Gast Seiner Erlaucht diese Gärten in Augenschein zu nehmen und dabei eines so überaus angenehmen Rencontres mich zu erfreuen.“

„Mir verdanken Sie dabei gar nichts, mein Herr Graf, sondern Alles der Güte meines Vaters!“

„So sehr ich diese zu verehren weiß.“ versetzte Albrecht, „so habe ich doch selber wahrgenommen, daß die Erlaucht, schon bevor ich mich vor ihr verantworten durfte, zu meinen Gunsten gestimmt und entschlossen war, mich einer Gefangenschaft zu entledigen, deren ich freilich begann, sehr überdrüssig zu werden. Obwohl,“ setzte Albrecht mit einer etwas bewegten Stimme und höherem Erröthen hinzu – „obwohl es mir vom Schicksal beschieden scheint, daß mein Herz in der Gefangenschaft für ewiglich hier verbleiben und auch allen Gedanken an seine frühere Freiheit fröhlich entsagen soll!“

Eine solche Versicherung, wie Albrecht sie hiermit aussprach, ging in jenen galanten Zeiten nicht über die Grenzen einer gewöhnlichen Courtoisie zwischen jungen Leuten hinaus. In dem Ton jedoch, mit welchem Albrecht sie vorbrachte, mußte etwas liegen, was ihr eine tiefere Bedeutung in den Augen der jungen Gräfin gab; denn diese, statt daraus mit einer andern galanten Phrase, wie sie ihr gewiß zu Gebote gestanden hätte, zu antworten, verstummte und bemerkte nur, da die Lustwandelnden jetzt das Gartenthor erreicht hatten, zu ihrer Begleiterin gewendet:

„Wir wollen noch einmal umkehren, es ist so schön unter diesen schattigen Bäumen!“

Die kleine Gesellschaft wandle sich deshalb und schritt wieder in die Waldallee hinein, aus der sie gekommen. Albrecht setzte in [660] dem begonnenen Tone die Conversation fort und erzählte allerlei aus seiner Heimath und über seine kleinen Reise-Erlebnisse, wobei Aglaë immer kürzere Antworten gab und, wie es Albrecht schien, immer gespannter und selbstvergessener lauschte.

Als sie so am andern Ende der langen Allee angekommen waren, wurde dieser angenehme Zeitvertreib für die jungen Leute und ihre bewegten Herzen durch die Erscheinung einiger Männer unterbrochen, die von links her aus dem Gebüsche traten, aus dem ein breiter Fußsteg in die Allee einlenkte.

Es waren zwei sehr stattlich in rothe gallonirte Röcke gekleidete Herrn, der Eine groß und stark, der Andere klein und rundlich; zwei bewaffnete und in einer ganz eigenthümlich altfränkisch aussehenden Livree steckende Diener folgten ihnen. Alle trugen stark gepuderte Perrücken, mit dem Unterschiede nur, daß die der beiden Herren in einer Wolke von Locken bestanden, während die Diener sich mit bescheideneren steif aufpomadisirten „Taubenflügeln“ begnügten.

Als sie unsere Gesellschaft erreicht hallen, blieben sie stehen, zogen sehr höflich ihre großen Dreispitze ab, und der erste der Herren wandte sich an die junge Gräfin mit den Worten:

„Es gewähret uns eine insonders günstige Vorbedeutung, daß wir auf dem Wege zu dem Herrn Reichsgrafen der Ehre und des Glückes theilhaftig werden, vorab Ew. Erlaucht unser dienstwilligst gehorsames Compliment machen zu können. Wir hoffen die gnädigste Comtesse wohlauf und bei guter Gesundheit zu treffen.“

„Ich danke Ihnen für Ihr Compliment. Herr Bürgermeister Erchenrodt, und Ihre gewogentliche Nachfrage nach meinem Befinden,“ versetzte Aglaë „was jedoch meinen Vater, den Herrn Reichsgrafen, betrifft, so bedaure ich, daß Ew. Magnificenz denselben nicht daheim antreffen. Er ist vor ein paar Stunden nach Triefalten geritten. Ich bitte, sich bedecken zu wollen!“

„Dies ist allerdings für uns eine schwer zu beklagende Nachricht,“ entgegnete der Amtsbürgermeister der freien Reichsstadt Großlingen. „Jedoch,“ fuhr er fort, „da wir in einer absonderlich bedeutsamen und wichtigen Angelegenheit kommen, so warten wir mit Hochdero günstigem Verlaub im Schlosse auf die Heimkehr …“

„Herr Bürgermeister,“ unterbrach hier der andere Herr. der unterdeß Albrecht von Werdenfels scharf in’s Auge gefaßt hatte, den Redenden, „ich meine, salvo meliore, wir könnten unsere Angelegenheit selber hier auf eine überaus einfache Weise zur Erledigung bringen. Das unserer Justiz durch einseitiges und nicht zu rechtfertigendes Vorgehen des Herrn Reichsgrafen entzogene Individuum stehet auf freien Füßen hier vor uns, und es wäre sehr thöricht, wenn wir nicht die Gelegenheit ergriffen und nun sofort ebenfalls via facti vorschritten. So ist meines bescheidentlichen Bedünkens mit einem Male die Sache geordnet und die bedrohliche Gährung unserer Bürgerschaft beruhigt und gestillt.“

„Ja, meint Er in der That, Syndicus?“ fiel der Amtsbürgermeister von Großlingen ein … „allerdings … aber wenn es uns in Präjudicia und Nachtheile brächte …“

„Der Besitz hat immer seinen Vortheil, Herr Bürgermeister setzen wir uns in Besitz,“ rief der Andere, der unseren jungen Freund mit einem so heißbegehrenden Blicke, wie ein Geiziger einen Schatz, anstarrte, ihm dicht an die Seite trat und nun ohne Weiteres rasch seinen Arm mit den Worten ergriff: „Er ist verhaftet und arrestiret, junger Mann, im Namen von Senat und Gemeinde der freien kaiserlichen und des Reichs Stadt Großlingen!“

Albrecht wollte mit stolzem Zürnen den unternehmenden Syndicus wenigstens drei Schritte weit von sich fortschleudern, aber leider klammerte der kleine stämmige Reichsbürger sich mit Händen, die wie eiserne Haken waren, an ihn fest, und die zwei bewaffneten Diener der Stadt waren nicht träge gewesen, ihrer Obrigkeit beizustellen.

Albrecht sah sich abermals gefangen. Gefangen – wenn nicht etwa Gräfin Aglaë ihn befreite. Denn Gräfin Aglaë wurde bei dem Anblick dessen, was vor ihren Augen vorgenommen ward, so empört, sie gerieth so ganz vollständig außer sich, daß es schien, sie werde in der Aufregung, in welcher sie war, ein ganzes Heer in die Flucht schlagen.

„Mein Herr Bürgermeister,“ rief sie mit zitternder Lippe aus – „was unterstehen Sie sich zu thun? – hier auf dem Grund und Boden unseres Gebiets wollen Sie einen Herrn von vornehmem Hause, einen Gast meines Vaters aufheben und gefangen nehmen? Wissen Sie, daß mein Vater einen solchen Schimpf, den Sie ihm noch dazu in meiner Gegenwart, unter meinen Augen anthun, nicht hinnehmen wird, ohne Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um diese That zu rächen!“

„Meine gnädigste Comtesse,“ nahm hier der Bürgermeister das Wort, „dies von Euer Erlaucht wider unser Verfahren fürgebrachte Argumentum kann uns wenig beirren, zumal der Herr Reichsgraf am gestrigen Tage sich dieselbe Thathandlung auf Großlingenschem Grund und Boten mit Verletzung unseres Territorii erlaubt haben! Wir üben nur …“

„Das Jus retorsionis!“ rief hier der triumphirende Syndikus dazwischen, „ja wohl, meine Gnädigste, Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn. Erlaucht halten zu Gnaden, aber wir würden unseren geschworenen Eiden untreu werden, wenn wir nicht also gemeiner Bürgerschaft von Großlingen Rechte und unantastbare Hoheit wahrnähmen; unsere Vater würden sich im Grabe umdrehen, wenn wir durch Mangel an Eifer und Wachsamkeit Großlingen um den Ruhm brächten, einen solchen des Hochverraths angeklagten Delinquenten justificirt zu haben. Was steht und zögert Ihr noch, Ihr Lungerer?“ rief der kleine Rathsherr den Dienern zu, „macht fort mit ihm – macht Euch auf den Heimweg, Ihr haftet mit Euren Köpfen für ihn!“

Albrecht blickte schweigend während dieses ganzen Vorganges erst seine Dränger und dann die Züge der jungen Gräfin an. Er sah sehr wohl ein, daß ihm bei jenen ein Protest nicht helfen werke, da sie so wenig Gewicht auf den Protest der Gräfin legten; und zudem bot ihm die offenbar von einem ganz ungewöhnlichen Aufgeregt- und Empörtsein zeugende Miene der Gräfin ein weit fesselnderes Schauspiel dar; so stand er denn das Auge wie Hülfe suchend auf sie gewendet, und es war, als ob der Blick dieses Auges Aglaë zu noch größerer Leidenschaft der Vertheidigung hinrisse. Sie drohte dem kecken Bürgerthume mit der ganzen Macht ihres Vaters, mit seinem wohlgerüsteten Heere, was aber durchaus keinen Eindruck hervorzubringen schien; sie drohte mit dem Reichskammergericht und mit der Reichsacht und Aberacht … aber mit noch viel weniger Erfolg. Während Albrecht also gute Miene zum bösen Spiele machen und alle seine Selbstbeherrschung zusammennehmen mußte, um unter den Augen der Gräfin sich mit möglichst viel männlichem Anstand und ungebeugter Würde in die Rolle eines von zwei Stadtknechten abgeführten Gefangenen zu finden – während deß vertheidigten die beiden regierenden Herren von Großlingen ihre Maßregeln mit allerlei süßsauren und stachlichten Redensarten, worin die zürnende junge Gräfin eben so viele grenzenlose Unverschämtheiten erblickte, welche sie endlich bewogen, diesen entsetzlichen alten Perrücken den Rücken zuzukehren und mit eiligen Schritten den Weg zum Schlosse einzuschlagen.

Die beiden Herren aber stülpten augenblicklich ihre großen Dreimaster auf ihre gerötheten und triumphirend blickenden Gesichter, und eilten ihrem Gefangenen nach, um dessen Abführung so zu beschleunigen, daß sie vom Schlosse aus auf reichsgräflich Glimmbach-Hohenklingenschem Gebiet nicht mehr erreicht und eingeholt werden könnten.

[686]
5

Es waren einige Stunden nach der gewaltsamen Scene, welche wir eben erzählt haben, verflossen, als Reichsgraf Cosimus mit seiner Begleitung in großer Hast mit schweißbedeckter Stirn wieder in den Schloßhof von Hohenklingen einritt. Er stieg von seinem schäumenden Honigschimmel ab und befahl, daß ihm augenblicklich ein anderes Pferd gesattelt werde, und dazu ein zweites für den Grafen Albrecht von Werdenfels.

Die Stallknechte eilten, des Gebieters Befehle zu vollziehen, Cosimus trat unterdeß in das zu den Gemächern seiner Tochter führende Portal des Schlosses – auf der Mitte der in’s obere Stockwerk hinaufleitenden Treppe jedoch flog ihm Aglaë entgegen, die in großer Spannung und Unruhe auf seine Rückkunft gewartet hatte.

„Haben Sie gehört, was während Ihrer Abwesenheit geschehen ist, mein Vater?“ sagte sie, „welche Beleidigung uns angethan ist?“

„Uns eine Beleidigung? Und welche?“

Sie erzählte mit geflügelten Worten das Ereigniß des Morgens.

Der Reichsgraf stand wie vom Donner getroffen. Er schien eine solche Frevelthat wider seine Herrscherrechte nicht für möglich zu halten und erst, als seine Tochter mehrmals die ganze Geschichte wiederholt und haarklein Alles angegeben hatte, brach er in einen ganz entsetzlichen Zorn aus. Er stampfte mit dem Fuße, er stieß Verwünschungen und Drohungen aus und schien nicht übel Willens, seine bewaffnete Macht aufzubieten und mit den vier alten eisernen Kanonen, welche die Armirung seines Schlossen bildeten und von einer Plattform über dem Thore niederdrohten, vor Großlingen zu rücken, um den Pfefferkrämern das ganze reichsfreie Nest in Schutt und Asche zu legen.

Als er mit seiner Tochter in deren Wohnzimmer eingetreten war, hieß er die Gesellschaftsdame derselben hinausgehen und rief mit einem vor Wuth gerötheten Gesichte aus:

„Es ist ja just wie eine vollständige Verschwörung gegen mich. Der Prälat von Triefalten zeigte sich völlig unversöhnlich – ich habe nichts als die spitzesten Reden zu hören bekommen – den Italiener, als den Hauptschuldigen, werde man nun und nimmer herausgeben, nun und nimmer der Glimmbach’schen Justizverwaltung die Satisfaction einräumen, daß sie beide arme Sünder - so drückten Seine Hochwürden sich aus – zu justificiren bekomme. Ich mußte schon mit meinem letzten Argument herausrücken und gestehen, was ich durch den Werdenfels erfahren, und wie die Sache mit diesem Fano Solari sich eigentlich verhält, und weshalb ich Alles daran wenden werde und Himmel und Erde in Bewegung setzen wolle, wenn es nöthig, den jungen Menschen ausgeliefert zu bekommen. Das aber half Alles nicht, der Hochwürdige steifte sich nur immer mehr und ließ nicht undeutlich vermerken, daß er meine ganze Erzählung für eine Kriegslist halte, ersonnen um den Inhaftirten in meine Gewalt zu bekommen und triumphirend aus der Stiftischen Custodia nach Hohenklingen zu führen! So etwas muß ich, der Reichsgraf Cosimus von Glimmbach, mir von diesen Pfaffen gefallen lasten!“ setzte die Erlaucht, indem sie zornig mit dem Fuße auf den Boden stampfte, hinzu. „Endlich,“ fuhr Cosimus dann fort, „gab der Prälat die Erklärung ab: wenn ich wirklich durch die alten Briefe, von welchen ich geredet, darthue, daß der junge Mensch mir so nahe stehe, so werde man stiftischer Seits sich vielleicht eines andern besinnen und seine freundnachbarlichen Gesinnungen durch ein so bedeutsames Opfer als die Herausgabe des Gefangenen zu bethätigen sich entschließen können. Das war denn endlich ein Wort, welches ich mit Dank annehmen mußte; und sogleich bestieg ich meinen Gaul wieder, um heimzureiten und den Werdenfels zu holen, damit er die Briefe dem Prälaten vorlege. Und nun, wie ich in bester Hoffnung daher komme, trittst Du mir mit der Nachricht von diesem tückischen Streiche des Krämerpacks von Großlingen entgegen – darüber könnte man ja rasend und verrückt werden. Den Menschen könnten [687] sie meinethalb bis zum jüngsten Tage eingesperrt halten – aber die Briefe, die Briefe muß ich heraus haben!“

Also sprach Cosimus der Zwanzigste zu seiner Tochter, nicht ahnend, wie tief er durch seine letzte Bemerkung über den „Menschen“ Aglaë's zarteste, aufkeimende Gefühle verletze.

Sie schwieg deshalb eine Weile, dann theilte sie ihrem Vater den Inhalt ihrer Gedanken, welche sie sich während seiner Abwesenheit über die Sache gemacht hatte, mit. Aglaë’s Rath war, sich auf weitläufige Proceduren in so drängender Sache nicht zu verlassen und Kaiser und Reich darum nicht aus ihrem ruhigen Schlummerzustande zu bemühen, sondern sich selbst Recht zu verschaffen und, um dies mit dem gehörigen Nachdruck und sichrer Bürgschaft des Erfolgs thun zu können, zuvörderst und ohne Zeitverlust die Stammvettern und die anderen Reichsgrafen und Dynasten im Schwabenlande zu beschicken und heranzuziehen zu einem großen und mächtigen Bündniß wider der Städter Uebermuth und maßlose Verwegenheit.

Cosimus der Zwanzigste betrachtete die verschiedenen Seiten, welche für einen gewiegten Politiker dieser Plan darbot. Die Idee, an der Spitze einer großen Liga dynastischer Interessen zu stehen, gefiel ihm aus der Maßen wohl. Er hatte nur die Sorge, daß es unmöglich sein werde, die andern Herren im Schwabenlande, deren jeder nur seinem eigenen Kopfe zu folgen pflegte, zu irgend etwas Gemeinsamem, und mochte es noch so ersprießlich für Alle sein, zu bewegen. Dafür waren sie deutsche Reichsgrafen und Landgrafen etc. Auch war nicht zu hoffen, daß man mit der Drohung einer solchen Eventualität die Herren von Großlingen erschrecken werde – höchstens konnte es den Erfolg haben, daß sich die hochnotpeinliche Justiz der edlen freien Reichsstadt ein wenig in den Proceduren beeilte, in denen sie zweifelsohne jetzt wider den unglücklichen Gefangenen sich ergehen werde, und die, wenn man den natürlichen Lauf der Dinge nicht störte, für ein paar Jährlein sicherlich zur absonderlichen Befriedigung des Reichsstadt-Großlingenschen politischen Selbstbewußtseins sich fortspinnen mußten.

Cosimus beschloß deshalb für’s Erste, mit Hintansetzung aller weiteren Erörterungen mit seinen Nachbarn wegen gewaltthätiger Gebietsverletzung, Landfriedensbruch u. s. w. sich zur Abordnung einer feierlichen Gesandtschaft zu bequemen und von den Städtern blos die Briefschaften zu reclamiren, welche der Gefangene bei sich führe.

Zwei seiner Beamte wurden deshalb mit einem großen Schreiben, dessen Ausfertigung sich bis tief in die Nacht hineinzog, am andern Tage nach Großlingen abgefertigt.

Gegen Abend desselbigen Tages kehrten sie zurück und berichteten ihrem Gebieter, daß nach einer äußerst stürmischen Sitzung des gesammten großen Raths und Magistrats die wohlweisen und fürsichtigen Herrn einen vollständig abweisenden Beschluß gefaßt, mit dem sie, die Abgeordneten, heimgeschickt worden, da alle Papiere des Inhaftirten bei den Acten bleiben müßten. –

Cosimus war außer sich. Dem ersten formidablen Zorne, in welchen ihn diese Nachricht versetzte, folgte jedoch eine tiefe Niedergeschlagenheit, worin sich zeigte, wie sehr es ihm am Herzen lag, den Sohn Teresa Solari’s aus seiner Haft befreien und an seine Brust drücken zu können. Er ging umher wie Jemand, der einen Schlagfluß bekommen und sich nicht von seiner gründlichen, inneren Verstörung erholen kann. Der Wein hatte keine Süßigkeit mehr für ihn und der große Meerschaumkopf keinen Reiz.

Mehrere Tage vergingen so, und es schien, als ob Cosimus täglich rathloser werde. Aber auch von Aglaë’s Wangen wichen die Rosen fröhlicher Gesundheit. Aglaë sah im Geiste den schönen jungen Grafen aus dem rhätischen Alpenlande in einem schrecklichen Verließe gefangen, wo ihn kein Sonnenstrahl beschien und wo sich die Verzweiflung seiner bemächtigte. Es mußte in der That entsetzlich sein, die Rolle der armen Maus spielen zu müssen, mit welcher die grausame Katze der Großlingenschen hochnotpeinlichen Justiz ihr Spiel trieb! Sie sann hin und her und brütete über Plänen, die Herzen der schlimmen Regenten der Stadt zu erweichen – endlich fand sie einen Plan, und dieser Plan war gut, er war vortrefflich – wenn es nur nicht so schwer gewesen wäre, ihn – auszuführen nicht, wohl aber, ihn dem Vater vorzuschlagen!

Es war in einer Dämmerungsstunde, wo ihr Vater sich in ihrem Zimmer befand und trübselig durch das geöffnete Fenster in den Abendhimmel hinausschaute; wo sie ein kleines Tabouret neben seinen Stuhl geschoben hatte und ihre Wange an seine Schulter lehnte, so daß er nicht sehen konnte, wie ihre Züge bald bleich, bald vom tiefsten Roth überflogen wurden, während sie sprach; wo eine weiche, fast sehnsüchtige Stimmung den an rohe Lebensformen gewöhnten Mann überkommen zu haben schien, und wo er einem Worte, das sich an sein im tiefsten Grunde so gutmüthiges Herz wandte, einen guten Boden zu gönnen mehr geneigt war, als seit langer Zeit.

„Vater,“ sagte Aglaë, „ich sehe, es bricht Ihnen das Herz, daß man Ihnen Ihren – weshalb soll ich das Wort nicht geradezu aussprechen? – Ihren Sohn vorenthält!“

Cosimus schwieg. Er legte nur leise den Arm um die Taille seines Kindes.

„Ich mache mir Vorwürfe,“ fuhr Aglaë fort, „daß ich aus falscher Scham, aus einer mädchenhaften Zurückhaltung, die ich nicht überwinden konnte, das Wort verschweige, das all diesem Kummer ein Ende machen könnte.“

„Und giebt es solch ein Wort?“ fragte .der alte Herr. „Ich weiß keines!“

„Du kennst die Grafen von Werdenfels,“ fuhr Aglaë fort.

„Ich kenne sie … ich bin mit einem Oheim Albrecht’s von Werdenfels auf der Hochschule zu Prag gewesen. Wer kennt sie nicht im Schwabenlande? Es ist ein edles und ehrenwerthes altes Geschlecht; einst waren sie mächtiger und reicher als alle in den rhätischen Landen und jenseits des schwäbischen Meeres, die Habsburger selber nicht ausgenommen.“

„Aber sie sind nicht mehr mächtig und reich?“

„Nein; sie sind um den größten Theil ihrer Herrschaften und Lehne gekommen … sie sind arm jetzt, sehr arm!“

„Was sie aber nie dazu gebracht hat, etwas zu thun, das ihres alten Namens und ihrer Geburt unwürdig wäre?“

„So viel ich weiß,“ versetzte Cosimus, „haben sie nie etwas gethan, was sie um einen Theil der Achtung bringen könnte, die ihnen gebührt und die Jedermann noch heule dem Namen Werdenfels zollt. Es müßte denn sein,“ fuhr Cosimus fort, „man wollte etwas Unehrenhaftes darin sehen, daß dieser Albrecht zu Fuße durch die Welt schwärmt und die Narrenpossen treibt, welche ihn in seine jetzige entwürdigende Lage gebracht haben.“

Aglaë schien eine Weile über diesen letzteren Punkt nachzudenken. „Ich glaube nicht.“ sagte sie dann, „daß ein Mann, welcher einem Hause des hohen Adels angehört, wohl daran thut, Fußreisen zu machen. Es ist nicht geziemend für ihn. Aber ich denke nicht, daß es hinreichend ist, ihn darum als einen unwürdigen Sprossen seiner Ahnen zu betrachten und seinen moralischen Werth, deshalb geringer anzuschlagen. Die Ritter, welche Gottfried von Bouillon nach Palästina folgten, haben oft genug, wenn ihre Pferde erlegen waren, tagelang durch den Sand Palästinas wandern müssen.“

„Es mag sein, mein gelehrtes Töchterchen,“ versetzte Cosimus kopfnickend; „auch steht es jedem Fürsten und jedem Manne, weß Standes er sein mag, wohl an, wenn er zu Fuße eine Wallfahrt zu einem Gnadenbilde unternimmt; aber ich muß zweifeln, ob das die Meinung war, mit welcher Albrecht von Werdenfels zu Fuß das Haus seiner Väter verlassen hat; und jedenfalls ist es mir lieb, daß Niemand von meinem Geschlechte behaupten kann, es habe jemals ein Reichsgraf von Glimmbach auch nur eine Tagereise zu Fuß gemacht.“

„Streiten wir darum nicht,“ versetzte Aglaë, ihre weiße Rechte auf die breite Schulter ihres Vaters legend; „soviel ist gewiß, die Werdenfels sind ein unserem Hause ebenbürtiges Geschlecht, und wenn Albrecht von Werdenfels in diesem Augenblicke eine Behandlung leidet, die ihn mit Verbrechern auf eine Stufe stellt, so kann auch dies seiner Ehre keinen Eintrag thun, denn zu allen Zeiten sind edle Herren und große Dynasten durch unglückliche Zufälle in die Gefangenschaft ihrer Standesgenossen oder übermüthiger Städter, denen sie eine Züchtigung zugedacht hatten, gerathen und in deren Verließen und Gefängnissen bestrickt gehalten worden.“

Cosimus nickte wieder mit dem Kopfe. „Das ist richtig, mein Kind,“ sagte er. „Gefängniß, sei es nun wegen einer begangenen Gewaltthat, oder sei es in Folge der Schicksalsschläge, welche einen Krieg begleiten, kann einen Edelmann nicht entehren. Die stolzesten Geschlechter zählen Ahnen auf, welche wegen Straßenraub oder andrer Ausübung ihres auf den Stegreif angewiesenen Berufs dem Nachrichter verfielen.“

„Nun wohl,“ fuhr Aglaë fort, „und wenn die Werdenfels [688] arm sind, vielleicht sehr arm – was schadet es? denn die Glimmbach zu Hohenklingen sind desto reicher von Gott mit Glücksgütern gesegnet …“

Cosimus wandte bei diesen Worten sein Gesicht zu, und Aglaë schlug die Augen nieder; dann, als sie den Blick ihres Vaters stumm auf sich ruhen fühlte, verbarg sie ihr Antlitz an seiner Schulter.

„Was hast Du vor? was willst Du mir damit sagen?“ fragte Cosimus endlich. „Denkst Du …“

Sie unterbrach ihn.

„Weißt Du ein anderes Mittel, ihn zu befreien, ein anderes, um den Schlüssel in Deine Hände zu bekommen, der auch Deines Sohnes Kerker öffnet?“

„Und Du wolltest deshalb …“

„Vater, es ist kein Opfer, das ich bringen will … ich liebe ihn!“

Cosimus sprang auf. Er schritt unruhig auf und ab.

„Du hast Recht,“ sagte er dann. „Meinen Schwiegersohn werden sie schon herausgeben, diese zähen, frechen Dütendreher!" Sie müssen, oder …“ er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: „Ich habe einen trefflichen Gedanken, Aglaë, um sie zu zwingen – vortrefflich, Du sollst es sehen! Und was den jungen Mann angeht, so kann mir ein Werdenfels zum Eidam so lieb sein, wie ein Anderer; er wird der Mann sein, auf die Gelegenheit zu achten, es diesen Stiftischen und diesen Städtern heimzuzahlen, was sie an mir gethan haben in allen diesen Tagen … ich will’s überlegen, Aglaë, ich will’s bedenken, Kind.“

Und damit verließ Cosimus das Wohnzimmer seiner tief bewegten Tochter und schritt seinen eigenen Gemächern zu, um sofort die zwei angesehensten und erprobtesten seiner Beamten zu sich zu bescheiden.

[702]
6.

Am andern Tage rückte aus der Burg Hohenklingen eine feierliche Gesandtschaft aus, um sich nach Großlingen zu begeben. Sie bestand aus den zwei von dem Reichsgrafen zum Conseil beschieden gewesenen Beamten und einem reichsgräflichen Trompeter. Alle Drei waren in ihrem Gallacostüme, die Herren in gallonirten Kleidern mit großen Allonge-Perrücken, der Trompeter in der auf allen Nähten mit breiten Tressen besetzten Montur, alle Drei zu Pferde.

Zu gleicher Zeit verließ der Reichsgraf mit einem Paar berittener Diener das Schloß, um sich gen Triefalten zu begeben. Er kehrte bereits um Mittag in heiterster Stimmung zurück.

„Alles geht gut, Aglaë,“ rief er seiner Tochter entgegen, als er über ihre Schwelle trat. „Seine hochwürdigen Gnaden sind bestens mit einem Anschlag contentiret, der zum Zweck hat, die fürsichtigen Herren von Großlingen zu dupiren. Ich fand den geistlichen Herrn in großer Irritation wider dieselbigen, weil sie sich auf Kosten des Stiftes berühmen, den rechten, echten Missethäter trotz Stift und Reichsgrafschaft in ihrer Gewahrsam zu halten. Er wird nicht verfehlen, pünktlich einzutreffen. Meine Beamten sind von Großlingen noch nicht zurück?“

Sie waren noch nicht zurück. Aber bevor der Graf vom Diner, dem er heute zum ersten Male wieder seine volle Theilnahme zuwendete, sich erhoben, wurden die Herren angekündigt und hereingeführt. Sie berichteten, daß der Magistrat von Großlingen ihr Ansuchen in feierlicher Sitzung entgegengenommen und in des Grafen Begehren, von ihnen ein freies Geleit, um in der Stadt zu erscheinen und mit ihnen verhandeln zu können, zu erhalten, ohne Rückhalt gewilligt. Zu Urkund deß übergaben sie ihrem Gebieter eine Schrift, welche mit dem großen Stadtsiegel befestigt und mit mehreren Unterschriften versehen war. Nachdem Cosimus das Document durchlesen, nickte er lächelnd seiner Tochter zu und dann erhob er sein Glas und trank mit einem Ausdruck von Ironie, der nicht unterließ aller Anwesenden gehorsamstes Gelächter hervorzurufen, die Gesundheit des hochweisen und fürsichtigen Magistrats.

Am folgenden Morgen, um die zehnte Stunde, wurde die Reichsstadt Großlingen in Bewegung gesetzt durch das Eintreffen einer höchst stattlichen und zahlreichen Cavalcade, welche sich über das gefährliche und an Abgründen reiche Pflaster dieser ausgezeichneten Stadt in langsamem Schritt nach dem Rathhause zu bewegte. An der Spitze dieses Zuges ritten Seine Erlaucht, der gnädigste Herr Reichsgraf Cosimus der Zwanzigste, der hochwürdige gnädige Prälat des freiadligen, reichsunmittelbaren und infulirten Stiften von Triefalten, und zwischen Beiden die junge Gräfin Aglaë, deren Antlitz, durch den Ritt in der frischen Morgenluft geröthet, aussah wie eine blübende Rose. Hinter ihnen kam ein glänzendes Gefolge der beiderseitigen Dienerschaften.

Die Herrschaften hielten vor dem Rathhause, einem alterthümlichen Giebelgebäude mit verwitterten Kaiserbildern über den Bogen und Säulen, welche die Fronte trugen und eine offene Halle oder „Laube“ bildeten, worunter der regierende Amtsbürgermeister, Herr Elias Erchenrodt, eine schwere, goldene Kette auf der Brust, neben dem rechtskundigen Collegen, dem Syndicus Schaumlöffel, sich aufgestellt hatte, um die Ankommenden geziemend zu becomplimentiren und in die große Rathsstube zu führen. Als dieses geschehen und die Herrschaften vor einer Reihe von äußerst ehrwürdig aussehenden und löwenmuthig dasitzenden Männern, die das Vertrauen ihrer Mitbürger an diesen Ehrenplatz geleitet hatte, auf drei für sie aufgestellten Armsesseln Platz genommen, eröffnete der Syndicus als amtliches rhetorisches Organ der Gemeinde die Verhandlungen, indem er in sehr wohlgesetzten Worten des Weiteren entwickelte, wie der Senat und das Volk der schon im Alterthume sehr berühmten, namentlich aber in neueren Zeiten durch die weise Fürsorge ihrer Lenker zu großem Ansehen und erweiterter Macht und Autorität gekommenen Republik Großlingen es sich zu einer hohen Ehre schätze, zwei so fürnehme und hochansehnliche, erlauchte und respective hochwürdigst gnädige Herren in ihren Mauern zu begrüßen; wie zwaren in den jüngsten Tagen gewisse, nicht näher zu specisicirende betrübliche Irrungen und Wirrungen in den beiderseitigen politischen Beziehungen eingetreten; wie jedoch Senatus populusque Grosslingensis seine freundnachbarlichen Gesinnungen darum nicht so sehr vergessen habe und jemals vergessen könne, daß es eines Schrittes bedurft habe, wie der am gestrigen Tage von Seiner Erlaucht beliebte, dem man jedoch dienstwilligst auf der Stelle durch Erfüllung des in geziemendster Weise angebrachten Wunsches deferiret …

„Ja, ja, Ihr habt meinen Wunsch erfüllt,“ unterbrach hier der Reichsgraf die treffliche und zierlich gesetzte Rede, „Ihr habt mir das verlangte freie Geleit für mich und meine Familie und meine Begleiter ausgefertigt; ich danke Euch dafür, meine ehrenfesten, fürsichtig wohlweisen Herren. So bin ich denn, im Vertrauen darauf, persönlich hier erschienen, in der Hoffnung, Ihr wollet mir einen zweiten Wunsch und ein freundnachbarlichst unter gleichem Diensterbieten gestelltes Begehren nicht abschlagen; und das ist, daß Ihr mir vergönnt, hier in Eurer Gegenwart und sogleich ein Wort persönlich mit Eurem Gefangenen reden zu dürfen.“

Dies Begehren konnte nichts enthalten, was für das wider den Inhaftirten instruirte Verfahren bedenklich, für des Senats und Volks von Großlingen Würde unzukömmlich, für des Kaisers und des Reichs freie Stadtgemeinde präjudicirlich erschien. Nachdem der Amtsbürgermeisler über die Sache die Vota seiner Collegen gesammelt, wurde deshalb der einstimmige Beschluß gefaßt, daß sothanem geziemendlich vorgebrachten Ansuchen Cosimi zu deferiren sei. Es erhielten die zwei aufwartenden Weibel und Rathsdiener den Befehl, Captatum aus seiner Haft hervorzuholen und „in medio zu gestellen“.

Es dauerte eine ziemlich geraume Weile, bis Albrecht von Werdenfels in Folge dieses Senatsconsults aus dem Gefängniß, einem sonnigen Thurmzimmer im Hinterbau des Rathhauses, das man ihm mit Berücksichtigung seiner geltend gemachten Herkunft [703] und Geburt eingeräumt hatte, herbeigebracht war und in der Versammlung erschien. Er trat endlich zwischen den beiden Dienern ein, ein wenig bleich, ein wenig angegriffen und jedenfalls viel weniger übermüthig aussehend, als damals, wo er mit Aglaë unter den schattigen Wipfeln der Allee gelustwandelt war und sich dem Zauber hingegeben hatte, den die Nähe der schönen, jungen Comtesse auf ihn übte.

Verlegenen Blickes betrachtete er die Herrschaften und nahte dann mit etwas unsicheren Schritten, um dem Reichsgrafen und seiner Tochter eine tiefe Verbeugung zu machen Cosimus aber trat rasch auf ihn zu und fragte halblaut:

„Wo sind die Briefe Teresa Solari’s? Können Sie sie dem Prälaten von Triefalten vorzeigen?“

Albrecht zuckte die Achseln.

„Man hat sie mir abgenommen,“ sagte er, „man wird sie zu den Acten der Untersuchung gelegt haben – wie auch mein Empfehlungsschreiben …

„Nun, so werden wir sie schon herausbekommen, wenn wir die ganze Untersuchung glücklich zu Ende gebracht haben“ – und mit diesen Worten nahm er Albrecht’s Rechte, schritt mit ihm auf seine Tochter zu, die in großer Bewegung kein Auge vom Antlitz Albrecht’s verwandt hatte, aber zugleich, auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, so regungslos dastand, als wage sie ohne eine solche Unterstützung keinen Schritt zu thun – und dann nahm Cosimus die Hand seiner Tochter und legte sie in die Hand des jungen Grafen. Schüchtern und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck wie Verzeihung flehend sah Aglaë zu Albrecht auf und flüsterte:

„Es ist nur um Ihretwillen – ergeben Sie sich darein – ich will Ihre Freiheit nicht binden, Sie bleiben unumschränkter Herr Ihrer Hand …“

Während dessen gab der Reichsgraf dem Prälaten einen Wink, und dieser trat an das Paar heran, legte seine Rechte auf die verbundenen Hände der beiden jungen Leute und sprach:

„Sie, Graf Albrecht von Werdenfels, und Sie, Gräfin Aglaë von Glimmbach, haben sich die Hände gereicht, um sich zu verloben zu einem ehelichen ewigen Bunde?“

Graf Albrecht blickte zuerst den Prälaten, dann Aglaë, dann den Reichsgrafen so bestürzt und überwältigt an, daß die junge Gräfin statt seiner das Wort nehmen mußte und halblaut mit zitternder Lippe antwortete: „Wir haben es!“

„So spreche ich, kraft meiner priesterlichen Gewalt,“ fuhr der Prälat fort, „über diesen von nun an unzertrennlichen Bund den Segen der Kirche aus. Möge Gott Sie segnen und kräftigen durch seine Gnade für die Erfüllung der Pflichten, die Sie von diesem Augenblick an übernehmen!“ Dann machte er Beiden eine Verbeugung und mit den Worten: „Ich gratulire Ihnen. Sie sind kirchlich Verlobte“ – trat er zurück.

Mit strahlend triumphirendem Antlitz aber trat jetzt Cosimus vor. Er legte die Hand auf die Schulter Albrecht’s, und sich der staunend dreinschauenden Rathsversammlung zuwendend, sprach er:

„Meine wohlweisen Herren, ich stelle Ihnen hier meinen Schwiegersohn, den Grafen Albrecht von Werdenfels, vor. Sie werden sich nun ihres freien Geleitsbriefes erinnern, in welchem derselbe jetzt als zu meiner Familie gehörig mit eingeschlossen ist.

Wir haben Brief und Siegel darüber, und mit Ihrer gütigen Erlaubniß wird derselbe jetzt mich ungehindert nach Hohenklingen heimbegleiten. Ich ersuche nur noch die Herren um diejenigen Briefschaften, welche sie ihm abgenommen haben und die sie ihm als sein unzweifelhaftes Eigenthum zurückzuerstatten schuldig sind!“

Es ist schwer, die Ueberraschung zu beschreiben, welche sich während dieses Vorgangs auf den Gesichtern der würdigen Väter der Stadt malte. Der Amtsbürgermeister sah starr vor Verwunderung in das Antlitz seines Collegen Schaumlöffel, und College Schaumlöffel stumm in das Antlitz seines Vorgesetzten; die Andern aber blickten ebenso stumm auf die Mienen der beiden würdigen Männer, nach deren Ansichten sie die ihrigen einzurichten seit je bestens geschult waren.

„Das ist aber unverantwortlich,“ rief endlich der Bürgermeister aus – „das heißt den ganzen in pleno versammelten Magistrat überlisten und überrumpeln wollen … das dulden wir nicht …“

„Nein, das dulden wir nicht“ – riefen jetzt alle versammelten Väter, wie vom Gefühle einer urplötzlich gekommenen Energie erfaßt.

Aber Syndicus Schaumlöffel, der rechtskundige, erhob sich, und alsbald legte sich der Sturm.

„Meine Herren Collegen,“ sprach er, „weder die Reichs- noch statutarische Gesetze verbieten es einem in Untersuchungshaft befindlichen Gefangenen, sponsalitia de futuro einzugehen; weder die Reichs- noch die kanonischen Gesetze verbieten es einem Priester, solche Verlöbnisse kirchlich zu segnen und zu festigen. Wir können dawider rechtlich keinen Einspruch erheben. Und da nun der Graf Albrecht von Werdenfels allerdings gegenwärtig zu der Familie Seiner Erlaucht gehören dürfte, so sehe ich für unser Gemeinwesen große und unabsehliche Weiterungen voraus, wenn wir der Erfüllung des von uns ertheilten Geleitsbriefes uns entziehen und es auf ein beim höchsten Reichs- und kaiserlichen Kammergericht zu impetrirendes Mandat wollten ankommen lassen. Mein unvorgreifliches Votum geht dahin: halten wir uns an den Spruch unsrer Vorvordern: „Ein Wort ein Mann!““

Es entstand nun eine stumme Pause in der Versammlung, die Cosimus der Zwanzigste dadurch abkürzte, daß er ohne Weiteres rief: „Ich danke den Herren, daß Sie mir also erlauben, jetzt wieder in guter Nachbarschaft mit Ihnen zu leben. Ich hoffe, Sie erweisen mir die Ehre, morgen am Verlobungsfest auf Hohenklingen meine Gäste zu sein, wo wir den alten Hader und Span gemüthlich in gutem altem Rheinwein ersäufen wollen. Aber nun bitte ich auch um die Papiere – geben Sie mir die Papiere heraus!“

Diese Rede der Erlaucht hatte etwas, das auf die noch immer stürmisch bewegten Gemüther unendlich beschwichtigend wirkte.

Der Syndicus befahl die Untersuchungs-Acten zu bringen, und die beiden Rathsdiener schleppten den ungeheuren Stoß herbei und warfen ihn auf den ächzenden Magistratstisch. Während nun der Amtsbürgermeister die von dem Reichsgrafen reclamirten Schriftstücke suchte, und der Syndicus sich anschickte, über Alles ein ausführliches Protokoll aufzunehmen, waren Aglaë und Albrecht in die tiefste Fensternische am obern Ende des Saals getreten, wo Albrecht, Aglaë’s Hand haltend, mit flüsternder Stimme zu ihr sprach:

„Und Sie sagten, ich solle nicht gebunden sein, der unumschränkte Herr meiner Hand bleiben, Aglaë? Das war Ihr Ernst nicht – wenigstens bin ich meinerseits zu solcher Großmuth gegen Sie, das erkläre ich Ihnen, nicht fähig – ich halte jetzt diese Hand fest, fest auf ewig, als die Bürgschaft eines überwältigenden, unsagbaren Glückes!“

Sie sah schüchtern zu ihm auf und dann beschämt zu Boden.

„Sie halten sie freilich so fest, meine arme Hand,“ sagte sie lächelnd, „daß ich darauf verzichten muß, sie wieder frei zu machen. Ich muß mich also gefangen geben – aber hoffentlich werden Sie nicht vergessen, wie es Gefangenen zu Muthe ist!“

„Niemals wenigstens,“ fiel Albrecht eifrig ein, „wie es einem Gefangenen zu Muthe ist, der so aus den Tiefen der Verzweiflung auf die höchste Höhe des Glückes gehoben wird – diesen Augenblick werde ich nie vergessen, nie, wie viel ich Ihnen schuldig bin – ein Leben voll Dankbarkeit kann es nicht lohnen!“

Aglaë fühlte eine warme Thräne auf die Haut fallen, welche Albrecht in diesem Augenblicke erhob, um sie an seine Lippen zu führen.

Elias Erchenrodt hatte unterdeß glücklich die verlangten Briefschaften aus dem Actenstoß hervorgesucht und überreichte sie feierlich dem Reichsgrafen. Dieser zog jetzt den Prälaten in ein zweites Fenster und übergab ihm dort die Briefe Fano’s.

„Meine Handschrift ist Ihnen bekannt?“ sagte er.

„Es ist allerdings Eurer Erlaucht Handschrift,“ versetzte der Prälat, indem er ruhig und langsam den Inhalt der Briefe überblickte. „Und diese Briefe haben sich im Besitze des Italieners gefunden, er hat sie mit dem Nachlasse seiner Mutter erhalten?“

„Fragen Sie den Grafen Werdenfels!“ erwiderte flüsternd Cosimus.

„So muß ich,“ hub der Prälat nach einer Pause, während welcher er fortgefahren war, zu lesen, wieder an, „so muß ich diesen Beweisstücken gegenüber meine Zweifel fahren lassen. Ew. Erlaucht mögen beruhigt sein, der Italiener wird morgen zu dem Verlobungsfeste auf Hohenklingen als erster der Gäste eintreffen.“

Cosimus schüttelte warm dem Prälaten die Hand.

„Dank, herzlichen Dank, Ew. Hochwürden – und …“

Der Reichsgraf legte den Finger auf den Mund. Der Prälat antwortete mit einem lächelnden Kopfnicken.

„Also, bis morgen!“ sagte Cosimus.

[704] Und „bis morgen!“ sagte er dem ganzen wohlweisen Magistrat der freien Reichsstadt Großlingen, als er nun schied, gefolgt von dem so rasch gewonnenen Schwiegersohn.

„Bis morgen!“ echo’ten die fürsichtigen Herren, die in eigenthümlicher Weise jetzt mit der Wendung, welche die Dinge genommen, vollständig versöhnt waren und sich nur eine Rache an ihrem listigen Gebietsnachbar vornahmen: die nämlich, am andern Tage mit ihren größten Perrücken in sein Schloß einzuziehen und mit den größten Haarbeuteln, welche nur erdenkbar waren, wieder heimzukehren.

Und wenn je ein löblicher Vorsatz mit Energie und erschöpfender Gründlichkeit durchgeführt wurde, so war es dieser, obwohl wir gestehen müssen, daß es nicht allein unsere Gestrengen und Wohlweisen waren, die sich an diesem Tage so mit Ruhm und Ehre bedeckten und der Allväter Tapferkeit in heißen, Wettstreit erreichten. Es unterlag eben Alles, was das Schloß Hohenklingen belebte, an diesem Tage unter dem berauschenden Banner einer trunkenen Fröhlichkeit – denn

Quand Auguste buvait, la Pologne était ivre …

und was August für Polen, war Cosimus für Hohenklingen; und Cosimus … aber was sollen wir uns weiter darüber ergehen, was Cosimus an diesem großen Tage war – hatte er doch ein Recht, fröhlich und guter Dinge zu sein – fröhlich über die gelungene Kriegslist und die versöhnten Feinde, die er wenigstens ein Dutzend Mal heute mit unbeschreiblich warmen Freundschaftsbetheuerungen freundnachbarlichst umarmte; fröhlich über den gewonnenen Schwiegersohn, welcher ihm mit jedem Römer, den er leerte, besser gefiel und endlich gegen den Abend hin – als der schönste, edelste, fürtrefflichste junge Mann im ganzen heiligen römischen Reiche vorkam; fröhlich endlich über den jungen Italiener, den Freund seines künftigen Schwiegersohnes, der ihm am Tische gegenüber saß und von dem er vor allen Gästen mit vielem pfiffigen Augenblinzeln versicherte, daß er ihn als ganz zur Familie gehörig betrachte, daß er ihn ewig bei sich behalten und wie ein Kind des Hauses behandelt wissen wolle, ja, daß er ihn adoptiren wolle, Alles um den Freund seines lieben Eidams Albrecht zu ehren. Und dabei warf er schalkhafte Blicke bald zu Albrecht von Werdenfels und bald zu dem Prälaten hinüber; und dann legte er den Finger aus den Mund – doch es ist besser, lieber Leser, auch wir legen den Finger auf den Mund und fahren nicht fort, Dinge und Situationen zu schildern, welche sich Jeglicher selbst auf’s Beste auszumalen im Stande ist.



  1. Stefano
  2. Buchstäblich war.