Die religiösen Stirnzeichen der Hindus

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Textdaten
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Autor: Kurt Boeck
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Titel: Die religiösen Stirnzeichen der Hindus
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 597, 612
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[597]

Elefant in Vorderindien mit religiösem Stirnstempel.
Nach einer Originalphotographie von Dr. K. Boeck in Berchtesgaden.

[612] Die religiösen Stirnzeichen der Hindus. (Zu dem Bilde S. 597.) Was ist das erste, das der rechtgläubige Hindu thut, nachdem er sein rituelles Morgenbad mit den vorgeschriebenen Rücken-, Kopf- und Schultergüssen genommen hat? Er geht zu einem inmitten von Farbentöpfen nahe dem Badeplatz hockenden Brahminen, kauert vor ihm nieder und läßt sich von dem kunstfertigen Priester das ihm zukommende Stirnzeichen, das tilak oder nama, auf die Stirn schminken, auf daß jedermann wisse, wes Gottes Verehrer er sei. Doch nicht genug damit. Auch die in den Dienst der Tempel gestellten Zugtiere, die Elefanten, welche bei festlichen Umzügen die Götterbilder auf schwerfälligen Karren durch die staubigen oder kotigen Straßen schleppen, müssen allmorgendlich vor dem priesterlichen Maler niederknien, um ihren Stirnstempel zu erhalten, nachdem sie mittels Besen und faserigen Kokosnußschalen in der Schwemme gründlich abgeschrubbt wurden. Ja selbst leblose Kultusgeräte, die Wände und Thore der Tempel verkünden durch derartige Zeichen, welcher Gottheit die Stätte geweiht ist.

Von den 300 Millionen Bewohnern Vorderindiens sind etwa 250 Millionen brahminische Hindus. Diese stattliche Religionsgemeinde erkennt zwar Brahma als unbestrittenen Weltschöpfer an, zollt demselben aber als einem Gott, der seine Aufgabe erledigt hat, keine sonderliche Verehrung mehr und gliedert sich im Hinblick auf die beiden anderen Hauptgottheiten in zahlreiche Sekten, die entweder dem gütigen Welterhalter Wischnu oder dem auf Weltzerstörung bedachten Schiwa die höhere Machtstellung einräumen. Diese beiden Gottheiten treten aber ebenso wie ihre Gemahlinnen in vielfältigen Verkörpernngen unter ebensovielen verschiedenen Namen auf und um jede dieser „Incarnationen“ bildet sich eine Verehrergruppe, die dieser von ihr bevorzugten Lieblingsgottheit besonders kräftiges Beistehen in allen Lebensfragen zutraut. Da es außerdem nach der brahminischen Götterlehre noch die Kleinigkeit von 330 Millionen untergeordneter Gottheiten giebt, kann es nicht wunder nehmen, daß sich die beiden Heerlager der Wischnuiten und Schiwaïten aus fast zahllosen Fähnlein mit anders geformten Wappenbildern, will sagen Stirnzeichen, rekrutieren.

Ein Hindu, der „schlecht und recht“ dem guten Gotte Wischnu seine religiöse Verehrung zuwendet – wozu ihn natürlich keineswegs freie Ueberzeugung, sondern allein die in seiner Kaste seit Jahrtausenden herrschende Ansicht bestimmt – läßt sich vom Hausbrahminen, dem guru, oder bei Familienfesten von den nächsten Verwandten ein nama-Zeichen in Gestalt eines unten abgestumpften römischen V auf die Stirn malen. Auf unserem Bilde ziert es die Stirn des Elefanten und die des abseits stehenden Brahminen, der sofort an den fünf um seine linke Schulter gelegten heiligen Baumwollenfäden als Priester erkennbar ist.

Dies Wischnuzeichen deuten verschiedene Sekten verschieden; die einen erklären es als Abdruck beider Füße des Gottes, andere begnügen sich, darunter nur einen Fußtritt desselben zu verstehen u. s. w. Durch verschiedene Länge und Neigungswinkel beider Seitenlinien dieses Stirnzeichens, durch fehlende, verzierte oder geradlinige Verbindung derselben drücken die Wischnuiten die verschiedenen Verklausulierungen ihrer Anerkennung Wischnus aus. Will z. B. der Inhaber eines solchen Zeichens zu verstehen geben, daß seine Hochachtung sich in gleichem Maße auf die bessere Hälfte dieses „guten“ Gottes erstreckt, d. h. auf die liebevolle Göttin Lakschmi, so erhält das Zeichen noch eine Mittellinie und ähnelt dann einer Heugabel \|/ Der rechtgläubige Hindu malt diese galante Aufmerksamkeit als brennend rote Linie, während das eigentliche Wischnutilak in schneeweißer Farbe leuchtet. Gemischt wird diese Farbe aus stark deckendem mineralischen Weiß, aus gebräunten „Opfermuscheln“ (turbinella rapa), aus Asche verbrannten Düngers von heiligen Kühen und aus wohlriechendem Sandelholzpulver.

Eine andere Sekte dieser Wischnu-Anhänger, die Ramavat-Sadhus, zeigt durch Bemalung ihres ganzen Körpers mit den Attributen des Gottes, mit Lotosblumen, Opfermuscheln, Schleudern und Keulen an, daß sie die von Wischnu in seiner Menschwerdung als Dämonentöter Rama bewiesenen heldenhaften Eigenschaften ganz besonders hochschätzt und zu würdigen weiß.

Begreiflicherweise zahlt der Schreckensgott Schiwa weit mehr opferbereite Anhänger als der milde Wischnu; ihm huldigen zumeist jene berüchtigten religiösen Bettler und Büßer, die Yogis, Sanyasis, Bairagis, Agoris u. s. w. Diese Schiwaïten malen ihr tilak in Gestalt dreier dicker weißer horizontaler Linien auf die Stirn, ja wenn sie in religiösen Dingen zu der äußersten Rechten gehören, auch auf Oberarme, Brust und Leib. Kommt ein derartig wie mit weißen Rippen bemalter dunkelhäutiger Ehrenmann aus der Ferne heran, so vermeint man erschreckt, ein Gespenst, ein wanderndes Gerippe zu sehen, zu dem der in der Regel fanatische Ausdruck des ausgemergelten Schiwaïtengesichtes ganz vortrefflich paßt. Den auf unserem Bilde dargestellten Elefanten habe ich in dem Augenblick photographiert, als er, mit seinem Mittagsmahl beladen, zu seinem gewöhnlichen Standplatz zurückschritt, der sich in der Tausendpfeilerhalle, dem Mandapan, des uralten Wallfahrtstempels zu Seringam befand. Dr. K. Boeck.