Die schlaue Sabine

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Autor: Victor Blüthgen
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Titel: Die schlaue Sabine
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 664–668
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die schlaue Sabine.

Erzählung von Victor Blüthgen. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Der Winter hatte in diesem Jahre ungewöhnlich hart eingesetzt. Unerlaubt früh: schon Mitte November, während er ja nach dem Kalender erst am 21. Dezember das Recht dazu hat; und dann gleich mit 8 Grad Reaumur Kälte, nachdem der Thermometer am Abend zuvor noch 2 Grad Wärme gezeigt hatte. Mitte Dezember war das klare Winterwetter in naßkaltes Schneewetter umgeschlagen, schlackrig unbestimmbar; nun hatte sich das beruhigt. Es fror, und dabei hing der Himmel schwergrau voll Schneewolken, die unablässig fast seit drei Tagen dicke, bedächtig schwebende Flocken niedersandten.

Es war Heiligabend, das heißt erst Nachmittag. In einer hinterpommerschen Kreisstadt mit Landgericht und anderen respektablen Behörden saß eine nicht mehr ganz junge, aber zweifellos hübsche Dame, mit aristokratisch geschnittenem Gesicht und ungewöhnlich klugem Ausdruck in den grauen Augen und um die schmalen tiefroten Lippen, im Wartezimmer zweiter Klasse des Bahnhofs, an der Ecke des einen langen Gasttisches. Bei ihr ein kleiner Herr mit Brille und einem glattrasierten Juristengesicht.

In der That: dieser ist der Doktor Grabbe, neben seinem Kollegen Winnemeyer der weitaus beste und beschäftigtste Anwalt am Orte; seine Nachbarin aber ist Fräulein Sabine von Rassow, eine Gutserbin „ohne Anhang“, jedoch mit einem juristischen Fragezeichen hinter der Erbschaft. Das Gut, Schlowitten, liegt ein paar Meilen ins Land hinein, und man erreicht es von hier aus vermittelst Klingelbahn und Wagen oder Schlitten.

Daß Fräulein Sabine noch unverheiratet ist, hat zwei Gründe. Erstlich war der einzige nächste Anverwandte der jungen Dame, ihr Vater, der vor einem halben Jahre gestorben, jahrelang gelähmt gewesen. Infolgedessen hatte sie sich der Wirtschaft annehmen müssen, was sie schließlich so geschickt und erfolgreich besorgte, daß sie den Landjunkern sowohl wie den Vieh- und Getreidehändlern der Gegend eine mit Grauen gemischte Bewunderung einflößte. Nicht minder unentbehrlich wie für die Wirtschaft war sie für den ziemlich eigensinnigen Patienten gewesen, der außer sich geriet, wenn er glaubte, daß sich jemand um sie bewerbe, und der sie deshalb möglichst in die Nähe seines Rollstuhles fesselte. So war ihr Verkehr nach außen hin seit Jahren auf ein Mindestmaß beschränkt.

Der zweite Grund, weshalb sich in all den Jahren kein Mann für sie gefunden, ist im vorstehenden bereits angedeutet: sie war allen, die sich der künftigen Erbin genähert hatten, zu klug, zu energisch, zu selbständig, und jene wiederum ihr zu simpel, zu ländlich natürlich und zu durchsichtig mit ihren Absichten. Ausgenommen vielleicht zwei oder drei, und diese hatte Papa, sobald er gemerkt, daß sie ihr nicht unsympathisch waren, alsbald moralisch hinausgeworfen. „Verdammte Kerls – ich brauch’ meine Tochter nötiger; und das sage ich dir: wenn du mit einem anbändelst, enterbe ich dich!“

Nun war er tot, und Sabine die „natürliche“ Erbin; nur diese, denn leider hatte Papa Rassow unterlassen, ein Testament zu machen. So konnte es kommen, daß Vetter Hans Jochen von Rassow auf Rassow ihr eines Tages in einem Schreiben höflichst mitteilte: aus gewissen im Rassower Archiv befindlichen Schriftstücken scheine mit Bestimmtheit hervorzugehen, daß Schlowitten nach Erlöschen des dortigen Mannesstammes dem Rassowschen Majorat zuzuschlagen sei, so daß er, Hans Jochen von Rassow, derzeitiger Majoratsinhaber, der eigentliche Erbe von Schlowitten sein würde. Daß Onkel, wie verlaute, kein Testament gemacht habe, müsse ihn in seiner Auffassung der Sachlage bestärken, und so beabsichtige er, was Cousine Sabine ihm nicht verdenken könne, da er die Rechte des Majorats zu wahren habe, Ansprüche auf das Gut zu erheben. Sollte sie indessen rechtserhebliche Gründe geltend machen können, die ihr das Gut zusprächen, so bäte er um gefällige Mitteilung.

Hans Jochen von Rassow genoß keines guten Rufes in Schlowitten. Er hatte sich als verschuldeter Kavallerieoffizier auf das Majorat zurückgezogen, nachdem er dafür gesorgt, daß dasselbe bis hart an den Sequester überlastet worden. Das war in der Gegend kein Geheimnis, dazu lagen die Güter einander zu nahe. Infolgedessen bekam Hans Jochen, als er seinen Besuch auf Schlowitten machte, vom Onkel so bösartig die Wahrheit zu hören, daß er beim besten Willen nicht wohl anders konnte, als sich zu empfehlen und Schlowitten zu meiden.

Sabine war damals nicht zum Vorschein gekommen, sie hatte sich auf Weisung des Vaters zurückziehen müssen.

Nach dem Tode des Alten hatte Hans Jochen, da sich inzwischen eine passende Partie für ihn nicht gefunden, Schlowitten und Sabine wieder ins Auge gefaßt. Allein bei der Wiederholung seines Besuches dort war die Cousine wiederum nicht zu Hause gewesen, und er fuhr mit der Ueberzeugung heim, daß die Tochter die feindselige Stellung zu ihm vom Vater geerbt und sich habe verleugnen lassen.

Ihre Antwort auf seinen Brief bestärkte ihn darin. Sie bedauerte sehr kühl, ihm in der beregten Sache keinerlei Mitteilung machen zu können; sie müsse ihm den Versuch überlassen, sie ihres Erbes zu berauben.

Gut. Sein Anwalt sagt ihm, daß ein Prozeß für ihn nicht aussichtslos sein würde – so klagte er.

Das ist ja doch unmöglich! sagte sich Sabine empört und fuhr in die Kreisstadt, um sich mit dem Anwalt, der schon ihren Vater beriet, zu besprechen. Der war ja im ganzen auch dafür, daß ein Verlieren des Prozesses ihrerseits nicht wahrscheinlich sei. Aber er nahm die Sache doch nicht so leicht, wie sie gedacht hatte. „Die Richter,“ sagte er und schrumpelte die Stirn über den Brillengläsern – „die Richter! Es kommt alles auf ihre Auffassung an. Aber es giebt ja im Notfall noch ein Kammergericht in Berlin und ein Reichsgericht in Leipzig.“

Fräulein Sabine von Rassow war eine resolute Person, aber den Aufregungen eines Prozesses, bei dem so viel – im Vertrauen gesagt: mehr als die Welt ahnte – auf dem Spiele stand, war sie doch nicht völlig gewachsen. Sie hatte zuvor nicht gewußt, wie so ein Prozeß aussieht! Es gab Monate mit verschiedenen schlaflosen Nächten bis zum ersten Termin – der Gegner erschien nicht, setzte durch seinen Anwalt die Verschiebung des Termins durch. Wieder eine Zeit des Wartens, ganz geeignet, um die besten Nerven mürbe zu machen. Den neuen Termin hat das Gericht auf den 24. Dezember anberaumt. Auf den Tag vor Weihnachten! Und nun solch ein Wetter!

Dagegen ist nichts zu machen. Sabine ist da, der Vetter [665] Hans Jochen auch. Zum erstenmal stehen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber; nicht eben freundlich, wie man sich denken kann, doch wird der Vetter im Verlauf der Verhandlung merklich höflicher und sozusagen verwandtschaftlicher.

Leider kommt bei dem Termin keine Entscheidung heraus. Das Gericht wünscht ein paar Leute zu vernehmen, welche von beiden Teilen als Kenner der Verhältnisse vorgeschlagen werden. Ein Vergleich, den der Vetter anbietet, wird von Sabine auf Rat ihres Anwaltes abgelehnt.

Hinterher ist sie schwankend geworden, ob sie nicht doch besser gethan hätte, die Vorschläge des Vetters anzuhören. Und sie kommt jetzt wieder darauf zurück, wo sie im Wartezimmer neben dem Anwalt sitzt, der ihr höflich das Geleit gegeben.

„Ich versichere, gnädiges Fräulein, die Sache steht nicht schlecht für Sie; ich habe den Eindruck aus dem Gange der Verhandlungen gewonnen …“

„Aber wieso denn? Diese Herren Richter, so eiskalt und unnahbar – ich fand, daß sie nichts, rein gar nichts verrieten.“

„Doch! Sie haben wohl nicht scharf beobachtet, als der Vorschlag eines Vergleichs von seiten Ihres Gegners fiel. Es gab da bei zweien einen Augenblick der Besorgnis und nachher, als Sie ablehnten, einen der Genugthuung. Ich kenne die Gesichter. Aber auch in der Fragestellung …“

Er stockte, drehte den Kopf überseite und Sabine von Rassow blickte auf und neigte nachlässig den ihren: ein großer schlanker Herr im Pelz, der einen Augenblick in der Thür gestanden und jetzt umkehrte, hatte ihr seine Verbeugung gemacht; eine elegante Erscheinung, den Jahren nach vielleicht Ende der Dreißig, vielleicht Anfang der Vierzig; der Typus des ehemaligen Reiteroffiziers, und zwar eines, der das Leben genossen hat. Weshalb Hans Jochen von Rassow umkehrte? Möglich, daß ihm doch das Zusammensein mit der Gegenpartei in dem mäßig großen, wenig gefüllten Raume unbehaglich vorkam. Was für häßliche, begehrliche Augen er hatte!

Der Anwalt bemühte sich weiter, seine Klientin zu beruhigen, allein der Erfolg war ein ungenügender. Schon die Thatsache, daß die Richter die Ansprüche des Rassowers ernstlich in Betracht zogen, genügte, um sie pessimistisch zu stimmen. Welch eine Gerechtigkeit, die solch einem Raubrittertum Vorschub leistet! … Endlich erschien der Beamte, der zum Einsteigen mahnte.

Der Zug stand auf dem Geleise, mitten in wahnsinnigem Schneegestöber. Sabine stieg in ihr Frauencoupé, der Anwalt mußte ihrem Drängen nachgeben und sich verabschieden. Der Raubjunker von Vetter hatte längst im Nebencoupé Platz genommen. Ein gedehnter Pfiff, und die Lokomotive ächzte in die flockenwirbelnde Finsternis hinaus.

Heiligabend! Ein paar Stunden Eisenbahnfahrt, und dann noch eine Stunde Schlittenfahrt. Sabine wird ja noch zur Leutebescherung zurecht kommen, die man ihrer Weisung gemäß diesmal auf eine spätere Stunde verschoben hat. Sie sitzt allein im Coupé, lehnt sich in die Kissen zurück und grübelt. Die Erregung zittert noch in ihr nach, dieses unruhvolle Ob? – ob nicht? hält ihre Gedanken im Banne.

Aber endlich wird sie müde, abgespannt, schließt die Augen. Ein paarmal hört sie nebenan den Vetter Hans Jochen husten. Andere Bilder kommen, beschäftigen sie reizvoll und quälend – ja, ja, sie weiß es, weshalb ihr so viel, so sehr viel daran liegt, diesen Prozeß zu gewinnen …

Es ist so heiß im Coupé, und sie schläft ein.

Das rollt und rollt, wer weiß wie lange. Ab und zu läutet es vorn an der Lokomotive.

Plötzlich schreckt sie auf; der Zug steht, draußen giebt es ein Rufen, ein lebhaftes Durcheinanderreden. Was ist das? Sie haucht an das Fenster, sieht Nacht und Schneewirbeln. Ein Beamter kommt, und ihre Coupéthür wird geöffnet.

„Was ist?“ fragt sie.

„Wir stecken im Schnee fest, die Herrschaften müssen sich gedulden.“

„Mein Gott – wie lange denn?“

„Ein paar Stunden, genau läßt sich’s nicht sagen; wir müssen Leute besorgen zum Schneeschippen.“

„Das ist ja schrecklich! Können Sie nicht wenigstens bis zur letzten Station zurückfahren?“

„Das schaffen wir nicht, die Steigung ist zu groß hier und die Schienen sind zu glatt.“

„Ja, was thun wir? Sollen wir die ganze Zeit im Coupé zubringen?“

„Wie die Dame wünscht. Sonst ist hier ein kleines Gehöft, ein Bahnaufseher wohnt hier; und zehn Minuten weiter liegt ein Dorf.“

„Wo sind denn die anderen Passagiere! Sind sie im Zug geblieben?“

„Wir haben bloß sechs Leute im Zug, Heiligabend ist der Zug immer leer. Sie sind alle gegangen.“

Sabine schwankte. Endlich kam es ihr zu unheimlich vor, mutterseelenallein in diesem totliegenden Ungetüm von Zug zu bleiben. „Wollen Sie mich zu dem Hause hinüber begleiten?“ fragte sie.

Der Mann bejaht, und sie nimmt ihren Schirm und steigt aus. Der Zug liegt vor einem Hohlweg im ebenen Felde, der Hohlweg ist mit Schnee angefüllt und der eisige Wind weht mehr und immer mehr hinzu. Der Schirm schwankt in ihrer Hand, daß sie ihn kaum zu regieren vermag; und sie klopft ganze Schneefladen von dem Pelzmantel, als sie in der Hausthür steht, die gleich in die Küche führt und deren Oeffnen eine Klingel in Bewegung gesetzt hat. Eine Frau öffnet die Stubenthür, eine Küchenlampe in der Hand; sie ist eine hagere, freundliche Person in mittleren Jahren. „Bitte nur einzutreten,“ sagt sie. „Das ist ja eine schlechte Fahrt zu Heiligabend!“

„Wo sind wir eigentlich?“ fragt Sabine, ihr folgend.

„In Menow, gnädiges Fräulein – gehen gnädiges Fräulein nur durch, dort ist die gute Stube …“

In dem Zimmer, das sie durchschreiten, giebt es Betten; um einen Tisch, auf dem sich ein mageres, mit ein paar Aepfeln, Nüssen und etwas Zuckerzeug behangenes Weihnachtsbäumchen erhebt, sitzen und stehen vier Kinder mit Spielzeugkleinigkeiten in den Händen und machen neugierig befangene Gesichter. „Ist niemand sonst hier?“ fragt das Fräulein.

Die Frau hält schon die Klinke in der Hand. „Vier waren hier, die sind aber ins Dorf, ins Wirtshaus gegangen. Nur ein Herr ist drinnen …“

In der guten Stube steht eine Lampe auf dem Tische, und von einem Lehnstuhl wendet sich ein Kopf nach der Thür herum – Sabine hat es gefürchtet: Vetter Hans Jochen.

Sie kann nicht wohl zurück, er ist aufgesprungen: „Angenehmer Zufall, gnädigste Cousine, wie?“ – sie hat auf einmal alle ihre Geistesgegenwart beisammen. Der Humor der Situation geht ihr auf. Sie wird dies Beisammensein durchfechten. Wer weiß …?

[666] „Bitte sich nicht zu derangieren, Vetter Rassow,“ sagt sie. „Wir können ja für ein paar Stunden das Kriegsbeil begraben. Der Himmel scheint das ausdrücklich zu wünschen. Ich behalte wohl auch am besten den Mantel an, es ist nicht übermäßig warm hier.“

„Ich bringe gleich noch Kohlen,“ fällt die Frau ein. „Es ist nur gut, daß mein Mann schon vor einer Stunde sagte: Heize die gute Stube, ich glaube nicht, daß der Zug weiterkommt. Er hatte eben einmal revidiert.“ Damit ging sie.

„Sehr erfreut, Cousine, daß meine Gegenwart Ihnen nicht ganz so unerträglich ist, wie ich dachte,“ lächelt er. Das Lächeln hat einen ironischen Beigeschmack. „Vielleicht gruppieren wir uns um diesen Kanonenofen – ist’s Ihnen recht?“

„Gewiß … danke!“ Sie nahm auf dem Stuhl Platz, den er ihr hingesetzt hatte, und nestelte an Schleier und Hut. „Sie können ja nicht erwarten, daß ich Ihnen besondere Begeisterung entgegenbringe, denn selbst gesetzt, das Recht wäre auf Ihrer Seite, so ist es doch keine Kleinigkeit, wenn man in Gefahr gebracht wird, ein Rittergut zu verlieren, das man mit Selbstverständlichkeit als sein Eigentum betrachtet hat. In unserem Fall aber, wo ich nicht einmal überzeugt bin, daß Sie selber an Ihr Recht glauben, ist’s doppelt begreiflich, wenn ich wenig nett über Sie denke …“

„Oho, dagegen muß ich doch protestieren, Cousine, das geht mir an die Ehre! Wie kommen Sie auf diese Ueberzeugung?“

Sie legte, sich ein wenig vorneigend, die Hände übereinander, von denen sie noch nicht die Handschuhe gestreift hatte, und sah ihn mit gut gespielter Verwunderung an. „Also doch? Ja – warum haben Sie mir dann einen Vergleich angeboten? Aus Gemütsrücksichten?“

Er lachte gezwungen auf. „Alle Achtung vor der Schärfe Ihrer Logik, Cousine Rassow, aber – verzeihen Sie – wie käme ich gegen Sie zu Gemütsrücksichten? Man hat mich doch in Schlowitten nicht danach behandelt, weder Onkel noch Sie selber. Ein Prozeß ist eben ein Prozeß – man kann nie wissen, wie er ausfällt, Sie auch nicht; ich dachte, es wäre uns beiden damit gedient, wenn ich Ihnen eine gute Hypothek auf Schlowitten eintragen ließe. Wie wär’s, Cousine? Entschließen Sie sich! Ich bin noch immer bereit.“

„Ich danke,“ sagte sie. „Sehen Sie, Vetter, das ist der Unterschied von uns beiden: Sie glauben nicht an Ihr Recht, denn sonst würden Sie, wie ich, Ihr ganzes Recht verlangen. Sie versuchen nur, ob Sie Recht bekommen. Ich würde nicht einen Finger rühren, um mir einen Vorteil zu verschaffen, wenn ich nicht davon durchdrungen wäre, daß er mir gebührt.“

„Teufel auch, mit Ihnen ist schlecht disputieren, Cousine. Sie fassen die Sache persönlich, wie alle Frauen in solchen Fällen. Ich fasse sie sachlich und denke als einfacher praktischer Mann: was das Gericht mir zuspricht, kann ich ehrlich an mich nehmen. Man braucht schließlich doch nicht fest zu glauben, man kann auch vermuten, daß man Recht hat; man läßt die Gerichte darüber befinden, bekommt man Recht, nachher glaubt man.“

„Sie nicht, Vetter,“ betonte sie hartnäckig. „Ich stelle das als meine Privatüberzeugung hin. Aber – da kommt ja – sorgen wir lieber für eine warme Stube.“

Die Hausfrau brachte einen Korb voll Kohlen herein und schüttete sie in den hölzernen Kasten beim Ofen – Hans Jochen von Rassow war aufgestanden und hatte seinen Sessel überseite gerückt, jetzt stand er gebeugt, die Arme über der Lehne verschränkt, und sah zu, wie die Frau mit der Schaufel Kohlen aufwarf, während er zwischendurch mit raschem Aufblick die interessante Cousine streifte. Wahrhaftig, sie war es wert, daß man sich angelegentlichst mit ihr befaßte; wer sie zur Frau gewann, konnte sich mit ihr sehen lassen. Sie hatte nicht viel Meinung für ihn – er wußte ganz gut, wie sein Ruf beschaffen war, und Onkel schon hatte schwerlich damit gegen sie hinterm Berge gehalten. Aber im Grunde: man konnte ihm keine ehrenrührigen Dinge nachsagen. Weshalb sollte er nicht Aussichten haben? Seiner Schulden halber? Bah – Sabine hatte mit dem Vatererbe genug hinter sich, um aufzubessern; und es ist eine Kleinigkeit, einem jungen Mädchen, wenn es eine Neigung gefaßt hat, einzureden, daß man sich ändern wird.

Sie hat ihn einst nicht empfangen wollen – hier hat man sie mit aller Sicherheit neben sich. Man kann nichts besseres thun, als die günstigen Umstände nutzen. Daß der kecke Versuch, den Prozeß zu gewinnen, eine recht fragwürdige Sache für ihn ist, davon ist er weit mehr überzeugt als Sabine. Wenn man sie gewinnen könnte, so wäre das ein entzückendes Mittel, den verzweifelten Flibustierzug zu einem guten Ausgang zu bringen!

Während er so denkt, schwatzt die Wirtin, indem sie im Oefchen schürt, auf Sabine ein: von dem schauderhaften Wetter, und daß die aus dem Dorf geholten Leute schon bei der Arbeit sind, und wie lange sie wohl gebrauchen würden, um den freien Raum zu schaffen, den der Wind immer wieder zuweht … und nebenan wird die Abwesenheit der Mutter benutzt, um zu trommeln und zu trompeten … „Nein, diese Kinder! Wollt ihr gleich ruhig sein …“

„So,“ sagt Hans Jochen von Rassow, als sich die Thür hinter der Gefälligen schließt. „Wollen wir noch weiter disputieren, Cousine? Ich denke nicht.“

„Ganz einverstanden,“ nickt sie lächelnd. Sie hat recht wohl bemerkt, welchen Eindruck sie auf den Vetter macht. Mein Gott, wenn es ihr gelänge, ihn von diesem unseligen Prozeß abzubringen, der sie so unbeschreiblich quält – so unbeschreiblich, wie niemand sich denken kann, der das nicht weiß, was sie weiß … Sie bezaubert ihn, es kann nichts schaden! Ist das perfid von ihr? – ah, perfid ist dieser Prozeß, der sie um ihr Erbe bringen will … dieser Vetter da …

„Ja, was dann?“ sagt er. „Hier so trocken sitzen, am Heiligabend? Ich habe mir den besten Karpfen aus dem Fischkasten in die Küche befördern lassen und mecklenburgischen Punsch bestellt; wenn nicht das – etwas müssen wir doch genießen. Haben Sie keinen Hunger? Wir sitzen die halbe Nacht sicher hier fest.“

„Meine schöne Weihnachtsfeier! Die vermisse ich reichlich ebensosehr wie mein Abendessen. Mir liegt’s auf der Seele, ob wohl meine Leute sich haben abhalten lassen, ihren Baum anzuzünden und ihr Vergnügen zu haben. Am liebsten ginge ich in die Nebenstube, um wenigstens einen Christbaum zu sehen.“

„Wissen Sie was, Verehrteste? Wir werden hier ein reguläres Weihnachten feiern,“ ruft er, plötzlich lebhaft aufspringend. „Ist Ihnen das recht?“

„Wie denken Sie sich das?“ fragt sie zweifelnd.

„Ueberlassen Sie mir das Arrangement. Trinken Sie Punsch?“ Er zieht den Pelz an.

„Vorausgesetzt, daß ich mein Maß einhalten darf – warum nicht?“

Er steht schon bei der Thür zum Nebenzimmer, in dem man die Bahnaufsehersfrau mit den Kindern sprechen hört, und jetzt öffnet er und läßt sie allein. Sie hört ihn drüben reden, mit seiner harten, knarrenden Stimme, versteht jedes Wort.

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„Sie bringen die Kinder zu Bett? Gut. Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich den Baum da zu uns hinüber schaffe? Haben Sie noch Wachsstock genug, um neue Lichter aufzustecken?“

„Gerne, gnädiger Herr – ich bitte, hier ist der Wachsstock …“

„Warten Sie, ich hebe ihn herunter … so; vielleicht besorgen Sie das Lichteraufstecken, bis ich wiederkomme. Sagen Sie mal, Sie können wohl rasch heiß Wasser machen – schön, schön, bringen Sie nur erst die Kinder unter – und: ist das Wirtshaus leicht aufzufinden?“

„Der gnädige Herr brauchen nur gerade zum Dorfe zu gehen, das dritte Haus links ist das Wirtshaus. Aber bei dem Wetter – wenn ich vielleicht etwas besorgen soll …“

„Das will ich schon lieber selber besorgen.“

Er ist fort. Sabine sitzt einsam bei dem Oefchen, in dem der Zug faucht und die Glut schürt. Eine wunderliche Lage, in die sie gekommen: sie wird mit diesem unsympathischen Vetter, der so häßliche Augen und eine so brutale Männlichkeit an sich hat, eine Weihnachtsfeier halten! Sie haßt ihn, wenn sie an alle die Qualen denkt, die sie ihm verdankt – o, er ist so ruhig bei diesem Prozeß, er hat nichts zu verlieren. Da giebt es einen ganz anderen Mann, einen Edelmann durch und durch – wie schön und warm leuchtend die braunen Augen, wie klug und liebenswürdig das Lächeln … ja, mit dem allein so Weihnachten feiern! … Ach, dieser unselige Prozeß ist schuld; sie muß, sie muß ihn gewinnen … oder davon befreit werden! … Vielleicht daß es gelingt, diesen Abend noch; es ist nicht aussichtslos … gar nicht unmöglich …

Und sie nimmt ein Knie über das andere und schlingt die Hände drum, und die klugen grauen Augen gehen unruhig, wie ihre Gedanken.

Nein, dies Grübeln führt doch zu nichts – sie hat genug davon; sie wird aufstehen, der Frau drüben helfen.

Die Kinderköpfe fahren bei ihrem Eintritt neugierig herum, je zwei und zwei in einem Bette; die plappernden Stimmchen schweigen. In der Küche knistert und klirrt es, und die Frau ruft: „Ich komme gleich, gnädiges Fräulein!“ Sabine nickt den Kindern zu, indes sie zum Tische geht, zu den schon vom Wachsstock abgeschnittenen Stücken.

„Hat euch denn der Weihnachtsmann Schönes gebracht?“ Erst Stillschweigen; dann sagt der größte Junge: „Ja, mir eine Trommel und viele Hefte, alle mit Schildern drauf.“ Sabine fragt ihn weiter, was die Geschwister bekommen haben, während sie die Wachslichter am Baum zu befestigen beginnt; mitten in der Aufzählung erscheint die Mutter und will ihr wehren, aber, Sabine läßt sich nicht stören, und die Redselige bleibt bei ihr und hilft. Draußen saust der Wind, und ein paarmal rutscht es auf dem Dache und klatscht unter dem Fenster auf.

Dann geht plötzlich die Hausthür auf – Vetter Hans Jochen klopft den Schnee ab und tritt mit einem Jungen herein, der einen Korb trägt. „So, hier sind Viktualien, und ich komme auch zu meinem Punsch. Mit der Qualität müssen wir wohl Nachsicht haben. Das Wetter ist rein des Teufels! Kocht das Wasser?“

„Jawohl, gnädiger Herr.“

Sie packen aus. Sabine arrangiert den Tisch, Vetter Hans Jochen braut Punsch, trägt den Baum auf den Tisch der guten Stube. Nun wird gespeist: kalte Dorfküche.

Zehn Minuten später sitzt Sabine wieder mit dem Vetter in der guten Stube am Ofen, und sie haben einen Holzstuhl zwischen sich, auf dem ein großer dampfender Topf und zwei Gläser stehen. Die Wachslichter an dem kleinen struppigen Christbaum brennen; ein starker Würzduft durchzieht den engen Raum, der außer der Polstergarnitur, etlichen Rohrstühlen und einem Glasschrank mit Porzellan und Nippsachen weiße Fenstergardinen und an den schablonierten Wänden reichlich billige Bilder und Photographien aufzuweisen hat.

„Ihr Wohl, Cousine! … aber Sie nippen, als hätten Sie Angst vor dem Punsch. Ist er zu schlecht? Zu stark ist er nicht, wenigstens bekommt er vorzüglich.“

Sie lächelt, mit einer Liebenswürdigkeit, deren Absichtlichkeit sie nicht ganz verbergen kann – oder will. „Er ist mir nur zu heiß.“

„Also warten Sie noch. Ich bin dran gewöhnt.“

Sie plaudern, über die Familie, über Bekannte, über allerlei sonst; er in seiner harten, roh zugreifenden Art, aber mit wachsender Vertraulichkeit und mit Augen, die sie halb mit Besorgnis, halb mit Befriedigung studiert. Sie hat Herzklopfen, und ihr ist gar nicht wohl bei der Sache, ihre Nerven schwirren und zuweilen fliegt ihr die Hitze in das Gesicht. Dann sieht sie doppelt reizend aus. Manchmal hat sie Mühe, die Gedanken zusammenzunehmen, dann erscheint sie verwirrt, und er deutet das zu seinen Gunsten.

Sie trinkt tapfer; sie verträgt etwas, und ihr ist, als müsse sie sich Mut trinken. In der That: sie wird mit der Zeit innerlich freier und lebhafter, beinahe lustig, und läßt munter die Augen werben. Er erst recht. Er ist völlig verliebt, seiner Sache sicher und zu jeder Unvorsichtigkeit fähig, so viel Punsch wie er schon getrunken hat.

„Famos, Cousine!“ ruft er auf einmal polternd, da Sabine über einen Witz von ihm lacht. „Was? Zwei Feinde, die so vergnügt Weihnachten zusammen feiern! Na, ich will Ihnen das Herz ein bißchen erleichtern: mein Advokat ist auf einmal der Meinung, daß ich bei dem Prozeß hereinfalle. Wenn ein Advokat schon so denkt, bringt er nicht viel fertig. Schade, wir hätten uns früher kennen sollen, vielleicht wäre dann jeder Prozeß überflüssig gewesen – was, Cousine Sabine?“

Er reicht ihr die Hand hin, und sie setzt sich heroisch über ihren Schauder hinweg und legt flüchtig ihre Fingerspitzen hinein. Seine punschselige Beichte wegen des Advokaten … ein Glücksgefühl durchflutet sie! Nun versteht sie, weshalb er einen Vergleich angeboten hat; aber sie spricht nicht mehr davon.

„Wie kommen Sie eigentlich dazu, Vetter, zu behaupten, ich hätte Sie in Schlowitten schlecht behandelt? Sie sagten das vorhin. Ich habe keine Ahnung … habe Sie nie in Schlowitten gesehen …“

„Das ist’s ja, Verehrteste! Besinnen Sie sich gefälligst: ich mache Ihnen Visite und Sie geruhen, nicht zu Hause zu sein. War das etwa nett von Ihnen?“

Diesmal ist die Verblüfftheit von Sabine echt. „Bei Gott,“ sagt sie ehrlich, „das ist ein Mißverständnis. Ich war im Felde, als Sie kamen; ich fand nachher Ihre Karte.“

„Ah – wahrhaftig? Da muß ich abbitten, das ändert die Sache. Habe auf Ehre fest geglaubt, Sie hätten mich refüsiert. Dummkopf, der ich war! Darf ich nachholen, Cousinchen? Was? Komme morgen, wenn Sie gestatten – frage mal nach, wie Ihnen Heiligabend bekommen …“

Sabine fühlt, daß sie eiskalt wird. Sie zieht die Brauen hoch, lächelt mit Anstrengung, zuckt die Achseln: „Solange wir Feinde sind, Vetter Rassow …“

„Ach, der verfluchte Prozeß – ich verliere ihn doch …“ Er ist ganz aufgeregt, hat einen roten Kopf. „Wissen Sie was, Cousinchen? Ich schenke Ihnen die Sache. Famos, famos, wir legen uns Weihnachtsgeschenke auf den Tisch: Sie mir die Erlaubnis, nach Schlowitten zu kommen, ich Ihnen den ganzen Prozeß! Einverstanden?“

Sie legt wieder die Fingerspitzen in die dargebotene Hand, [668] die er diesmal den Versuch macht fester zu fassen. „Schriftlich, Vetter Rassow! Ich traue Ihnen doch nicht recht.“ Sie lacht fröhlich, ganz ungezwungen, wie es scheint, und zieht ihre Hand wieder an sich.

„Machen wir, machen wir! Famos!“ Und er holt sein Notizbuch vor, reißt zwei Blätter heraus, nimmt den Bleistift und schreibt auf das eine: „Hierdurch verpflichte ich mich, meinen Prozeß gegen Fräulein Sabine von Rassow, betreffend ihr Vatererbe, für alle Zeiten zurückzuziehen. Hans Jochen von Rassow.“ … „Wie heißt doch das Nest hier?“

„Menow,“ sagt Sabine. Innerlich schüttelt sie das Fieber dabei.

Er fügt Ort und Datum hinzu. Dann reicht er ihr den Stift und das zweite Blatt: „Nun Sie!“

Und sie schreibt mit bebender Hand die Erlaubnis für ihn nieder, sie in Schlowitten zu besuchen. Dann tauschen sie aus.

Eine tödliche Erschlaffung kommt über Sabine, als sie das Blatt eingesteckt hat, eine unheimliche Ruhe. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.

„Sind Sie nicht wohl, Cousinchen?“

Sie wehrt mit der Hand. „Nur einen Augenblick,“ haucht sie. In diesem einen Augenblick überwiegt die köstliche Gewißheit, daß sie ihre Erlösung in Händen hat und eine glückselige Zukunft dazu. Nein, man kann ihr keinen Vorwurf machen; perfid gehandelt? – Bah, eine Kriegslist war es, sie hat ihn übertölpelt, den Räuber, den halbberauschten, der im übrigen selber nicht mehr an seinen Erfolg glaubte … Und doch nagt etwas in ihr, heimlich, ganz heimlich …

Nein, die dummen Skrupel sollen schweigen.

Als sie die Augen aufschlägt, fällt ihr Blick auf den lichterblinkenden Weihnachtsbaum: die Flämmchen flattern tief niedergebrannt; angesengte Nadeln duften. Sie ist völlig nüchtern und sieht Hans Jochen von Rassow an: „Wie wäre es, Vetter, wenn Sie einmal nachsähen, ob wir nicht bald weiterfahren können?“

Und als er gehorsam gegangen ist, ein wenig schwankend, legt sie sich wieder zurück, fröstelnd – denn das Feuer im Ofen ist ziemlich ausgegangen – zieht den Pelzmantel, auf dem sie gesessen, um die Schultern und schließt wieder die Augen.

Dies fatale nagende Gefühl in der Brust! Und vor ihren Ohren spricht etwas, mit feiner Stimme: „Das ist erschlichen … ist nicht adlig gehandelt … hinterlistig, perfid … perfid …“

Die heiße Scham steigt ihr auf, vom Herzen bis in die Haarwurzeln läuft es. Und nun giebt es einen Streit hin und wider in ihr. Sie soll ihm das „Schriftliche“, das sie von ihm erschlichen, zurückerstatten; soll sich lieber wieder der Qual der Ungewißheit in die Hände geben, als ihr Gewissen beschweren.

Perfid … perfid …

„Mein Gott,“ haucht sie, „das kann doch niemand von mir verlangen, das wäre doch übermenschlich …“

Von den heruntergebrannten Lichtern löscht eins nach dem andern aus, hier und dort flammen laut knisternd die Nadeln auf, glühen, vergehen.

Unter den blinzelnden Lidern Sabinens hervor quellen langsam zwei schwere Thränen …

*  *  *

Sie sind beide bald nach Mitternacht heimgefahren, der Vetter hat sich von Sabine eine Station früher verabschiedet, ohne daß diese ihm das Papier zurückgegeben hat.

Auf der Station, wo Sabine auszusteigen hatte, haben zwei Leute die Nacht hindurch ihrethalben gewacht, ihr Inspektor und ein Bote, der, dank dem Telegraphen, rechtzeitig laufen und das heimgesandte Fuhrwerk wieder holen konnte.

Dieser Inspektor ist nach dem Tode des Vaters in den Dienst Sabinens getreten, ein schöner, stattlicher Mann mit den besten Manieren. Sabine nennt ihn „Herr von Ernsthausen“, und sie reden beide mit gedämpfter Stimme, indes sie zum Wagen gehen.

Obwohl todmüde, thut Sabine im Bett kein Auge zu. Perfid … perfid …

Gegen zehn Uhr trifft in Rassow ein reitender Bote aus Schlowitten ein und hat einen Brief an den Majoratsherrn abzugeben. Herr Hans Jochen, der eben beim Kaffee sitzt, öffnet ihn mit einiger Neugier – beim Entfalten gleitet ein Blättchen auf den Teppich: sein mit Bleistift geschriebener Verzicht.

„Aha!“

Der Brief lautet:
 „Vetter Rassow!

Sie waren gestern abend vom Punsch aufgeregt und haben, wie ich glaube, außerdem in der Erwartung gehandelt, daß Ihre Besuche in Schlowitten ein nahes Verhältnis zwischen uns ergeben könnten. Es war nicht mein guter Geist, der mir riet, Sie in dieser Hoffnung zu bestärken. Mein Herz ist nicht mehr frei. Was einigermaßen zu meiner Entschuldigung dient, ist, daß derjenige, der es gewonnen, mittellos ist und daß, wenn mir mein Erbe genommen wird, uns jede Hoffnung auf eine Vereinigung schwindet: so lag die Versuchung nahe, Ihr Vertrauen in meine Ehrlichkeit zu mißbrauchen.

Ich lege Ihren Verzicht in Ihre Hand zurück. Ich bin eine Rassow und will keinen erschlichenen Vorteil. Gott mag entscheiden.
Sabine.“ 

Hans Jochen von Rassow lachte einen Moment kurz und spöttisch auf, besann sich, erhob sich und setzte sich wieder. Gut also, es wird weiter prozessiert, sie will es ja haben! Und er nahm die Kaffeetasse auf, that mechanisch einen Schluck, stellte sie weg. In seinem Kopfe sprach es: Ich bin eine Rassow und will keinen erschlichenen Vorteil. Auf einmal schob er einen Fuß überseite und sagte für sich zwischen den Zähnen: „Eh, wenn denn doch der Winnemeyer so sehr rät, an den Prozeß kein Geld mehr wegzuwerfen …“ und in Gedanken schloß er: so will ich dabei wenigstens für meinen guten Ruf etwas herausschlagen.

Er drückt auf die Tischglocke.

„Ist der Bote von Schlowitten noch auf dem Hofe?“

„Ich glaube wohl,“ sagt der Diener.

„Esel – was heißt das? Wenn du’s nicht sicher weißt, so sieh nach! Wenn er noch da ist, soll er warten.“

Eine Stunde später hat die blasse Sabine den Bleistiftverzicht wieder und liest folgende Begleitzeilen:
 „Cousine Rassow!

Hier der Verzicht. Ein Rassow widerruft nicht, was er zugesagt hat.
Hans Jochen.“ 

Und zehn Minuten später darf der Inspektor von Ernsthausen seine Herrin küssen.