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Die schwerste Schuld

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Textdaten
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Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
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Titel: Die schwerste Schuld
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49-52, S. 769–772, 785–788, 801–804, 817–821
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[769]
Die schwerste Schuld.
Von dem Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder.
1. Ein Flüchtling.

Der 18. October des Jahres 1813 war in jener Gegend, in welcher an diesem Tage die nachfolgenden Begebenheiten sich zutrugen, ein klarer, sonniger Herbsttag. Bei Leipzig war er der Tag des schrecklichsten Blutbades, welches freilich die Bluttaufe der Befreiung Deutschlands von den Franzosen war. Aber wem verdankte das deutsche Volk die französische Unterjochung, die sieben Jahre lang mit eiserner Schwere auf ihm gelastet hatte? Dieselbe Schuld droht wiederum Deutschland unter das fremde Joch zu beugen. Doch es steht ihr jetzt ein Anderes gegenüber. Der zum lebendigsten Bewußtsein erwachte Gedanke der Einheit und Einigkeit des deutschen Volks wird im Augenblicke der Gefahr zur lebendigen und kräftigen That werden, und muthig und groß neue Schmach und neues Elend von Deutschland zurückschlagen.

Die nachstehenden Begebenheiten trugen sich in einem von dem lebendigeren Verkehr abgelegenen Theile des gebirgigen Westphalenlandes zu. Wir verstehen darunter nicht das damalige Napoleonische Königreich Westphalen, das wenige Tage nachher verschwand, sondern die geographische Bedeutung jenes Namens. Denn jene Gegend war unmittelbar zu dem französischen Kaiserreiche geschlagen worden. Die Grenze eines deutschen, oder vielmehr, da damals Alles in Deutschland französisch werden mußte, eines unter einem deutschen Regentenhause verbliebenen Landes war nicht fern. An dieser Grenze patrouillirten zwei französische Gensd’armen auf und ab.

Sie befanden sich in einer engen, waldigen Schlucht und gingen dort mit gespannten Karabinern umher, nach jedem Geräusche lauschend, in jedes Dickicht spähend, stumm, nur durch Zeichen manchmal sich über etwas verständigend. Sie mußten eine wichtige Aufgabe haben, einen erheblichen Fang machen wollen. Ihre Aufgabe beschränkte sich auf die Schlucht. Sie horchten manchmal weiterhin, ein Zeichen, daß wohl auch weiterhin die Grenze in ähnlicher Weise besetzt war.

Es war Nachmittags, und die tiefste Stille herrschte. Die beiden französischen Gensd’armen waren die beiden einzigen lebenden Wesen in der Schlucht. Sie hörten nur das Rascheln des früh gefallenen Laubes unter ihren leisen Schritten. Sonst schlug kein Laut an ihr Ohr, auch aus der weiteren Ferne nicht. Sie waren etwa fünfzig Schritte von einander entfernt. Auf einmal standen sie Beide fast in demselben Augenblicke still. Beide horchten. Ein Schritt kam näher.

Die Schlucht selbst bildete die Grenze des französischen Kaiserreichs und des deutschen Großherzogthums, zu dessen deutschem Prinzen der französische Kaiser vielleicht in demselben Momente bei Leipzig die denkwürdigen und der Geschichte aufbewahrten Worte sprach: „Avancez, Roi de Prusse!“ Auf der Seite des Großherzogthums faßte ein hoher, dicht mit Holz bewachsener Berg sie ein. Auf der inneren französischen Seite lief eine niedrigere Hügelkette mit einzelnen tieferen Einschnitten. In einem dieser Einschnitte bewegte sich der näher kommende Schritt. Er mußte in der Mitte der Schlucht hervorkommen. Die beiden Gensd’armen standen mehr nach den Enden hin. Sie gingen auf die Mitte zu, leise, das Berühren des Laubes vermeidend, daß es nicht raschele, den [770] Karabiner in Bereitschaft, um in jedem Augenblicke Feuer geben zu können. An einer dicken Eiche trafen sie zusammen und flüsterten leise miteinander.

Dann stellten sie sich schweigend hinter der Eiche auf, die Augen und die Mündungen ihrer Gewehre nach dem Hügeleinschnitte gerichtet, aus welchem der Schritt hervorkommen mußte. Die französischen Gensd’armen, welche in Deutschland verwendet wurden, waren meist sehr gewandte, erfahrene Leute, auch die Deutschen unter ihnen, und der Deutschen waren unter ihnen viele.

Ein ältlicher Mann kam zum Vorschein. Er ging langsam und sorglos, wie ein Spaziergänger.

„Er darf uns nicht sehen,“ flüsterte der eine Gensd’arm dem andern zu.

Ihr Auge suchte zu erforschen, an welcher Seite der Eiche der Spaziergänger vorübergehen werde. Sie verbargen sich an der entgegengesetzten Seite. Ganz entfernen konnten sie sich nicht mehr, ohne gehört und gesehen zu werden.

Der Spaziergänger kam näher. Es war eine große, hagere, knochige Gestalt. Er hielt sich gebückt. Das Gesicht war blaß, tiefe Runzeln durchfurchten es. Die Augen waren von grauen, tief hervorhängenden Brauen überschattet; die Oberlippe bedeckte ein weißer, kurz geschorener Schnurrbart; kurz geschoren waren auch die fast schneeweißen Haupthaare. Das Ganze des Greises, Gesicht, Gestalt, Haltung, zeigte Kraft, Gram und Trotz; eine Kraft, die der Gram brechen wollte, die der finstere, fast menschenfeindliche Trotz aufrecht hielt. Er ging an dem Baume vorüber, aber seine Augen waren unter den finsteren, buschigen Augenbrauen aufmerksamer gewesen, als die Gensd’armen vermuthet hatten. Er sah sie in ihrem Versteck und stutzte, doch nur einen Augenblick. Er sah sie ruhig, voll, nachdenkend an, als wenn er sie und sich fragen wolle, was sie hier machten. Dann ging er, langsam wie er gekommen war, tiefer in die Schlucht hinein. Er hatte keinen Augenblick seinen gleichförmigen Schritt gehemmt.

Nach einer Weile blieb er stehen und schien sich zu besinnen, ob er seinen Spaziergang fortsetzen solle oder nicht.

Die Gensd’armen hatten sich nicht gerührt. Ihr Blick hatte ihm gezeigt, daß sie ihn sahen, ihn aber nicht beachteten. Sie beachteten ihn dennoch.

„Er bleibt stehen. Es ist unangenehm, seine Anwesenheit kann uns verrathen.“

„Wir können ihn nicht entfernen. Jedes Geräusch, jedes Wort könnte Alles vereiteln.“

„Wer ist der Mensch?“ fragte der Eine, der in der nächsten Gegend fremd zu sein schien. „Er hat ein militairisches Aussehen.“

„Der Mann ist ein Geheimniß.“

„Wie, die kaiserliche Gensd’armerie duldet Geheimnisse? Gar an der Grenze?“

Der Gefragte wollte antworten, aber der Andere ließ ihn nicht dazu kommen.

„Horch!“ rief er auf einmal in noch leiser flüsterndem Tone.

Sie hatten schon Beide ihre Gewehre wieder in schußgerechte Lage gebracht. Dann standen sie unbeweglich, wie vorher. Sie hörten in der That etwas; es war wieder ein einzelner Schritt, der sich nahete und ebenfalls von der Hügelkette herkam, also aus dem Innern des französischen Reichs, und wollte hin nach der Grenze. Aber er kam nicht aus dem Einschnitte in der Kette, oben auf einer Anhöhe wurde er gehört. Die Gensd’armen horchten mit der gespanntesten Erwartung nach ihm. Sehen konnten sie nichts. Die Anhöhe war mit hohen Bäumen und darunter mit dichtem niedrigem Gebüsch bedeckt.

„Er geht schnell und leise, er wagt kaum das Laub zu berühren.“

„Er ist’s.“

„Er kommt auf uns zu, – er kann uns nicht entgehen.“

„Wenn nicht jener Greis –“

„Still! Da ist er.“

Ein einzelner Mann war am Fuße der Anhöhe aus dem dichten Gebüsch in eine lichtere Stelle der Schlucht hervorgetreten.

Er konnte in der Mitte der dreißiger Jahre sein. Es war eine große, hohe und stolze Gestalt. Das schöne, männliche Gesicht war bleich; man sah ihm Anstrengungen und Entbehrungen an.

Gleichwohl hielt er sich noch kräftig, selbst stolz aufrecht und hatte noch mit jenem raschen und leichten Schritte gehen können.

„Er ist’s,“ hatten die Gensd’armen gesagt.

Er war der Fang, den sie machen wollten. Auch seine Kleidung verrieth den Flüchtling. Ein alter blauer Leinwandkittel bedeckte die hohe, stolze Gestalt; ein zerknickter Hut war tief in die Stirn gedrückt.

„Er kann uns nicht entgehen,“ hatten sie auch gesagt.

Sollte er ihnen wirklich nicht mehr entgehen können? Der Flüchtling, der aus dem Innern des weiten Kaiserreichs kam, der kaum noch hundert Schritte von der Grenze des Reichs entfernt war? Er war Flüchtling, eine Gefahr war ihm auf den Fersen. Es mußte eine dringende, hohe Gefahr sein. Jene Anstrengungen und Entbehrungen zeigten es, jene Verkleidung, die Spannung, der Eifer, mit dem er verfolgt wurde. So nahe, so im Angesichte seiner Befreiung, seiner Rettung, sollte er dennoch verloren sein?

Und er war ein Deutscher, man sah es den blauen Augen, den dunkelblonden Locken, dem ganzen Gepräge des feinen doch kräftigen Gesichts an. Und er kam aus dem grausamen, blutigen französischen Kaiserreiche, das Nichts mehr haßte und verfolgte, als deutsche Männer und deutschen Muth. Er war noch darin, in diesem Kaiserreiche; er wollte, er mußte ihm erst noch entrinnen. An der lichten Stelle, in die er hineingetreten, war er stehen geblieben, er sah sich nach allen Seiten in der Schlucht um und forschte nach allen Seiten. Es herrschte die völligste Stille rund um ihn her. Kein Blatt aus den Bäumen, kein Laub am Boden rührte sich. Keines Vogels Stimme belebte die einsame Waldschlucht. Er sah auch nichts. Die beiden Gensd’armen mit ihren Gewehren verbarg ihm der dicke Stamm der Eiche, hinter der sie standen. Zwischen ihm und jenem finstern Greise mit dem militairischen Aussehen befanden sich Hunderte von Bäumen.

Er blieb ferner stehen, um auszuruhen, um zu neuen Kräften sich zu erholen, für die letzten Schritte, die er einer Gefahr gegenüber noch zu machen hatte. Er nahm den alten, zerknitterten Hut ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu trocken, und schlug mit einem dankbaren Blicke nach oben die Augen auf. Er glaubte sich frei, gerettet. Der Arme! Er hatte seine Stirn getrocknet und setzte den Hut wieder auf, sah sich noch einmal um und horchte noch einmal in die Schlucht hinein. Es blieb still, wie vorher. Er ging weiter und schritt in gerader Richtung vor. Er wollte die Schlucht durchschreiten, die ihn von der deutschen Grenze trennte. Noch achtzig bis hundert Schritte hatte er zurückzulegen. Dann war er im Vaterlande; der Freiheit, dem Leben zurückgegeben.

Die gerade Richtung seines Weges mußte ihn fast unmittelbar an der Eiche vorbeiführen, hinter welcher die beiden Gensd’armen verborgen standen. Sie winkten sich wieder mit den Augen zu, an welcher Seite des Baumes er vorüber gehen werde. Keine halbe Secunde lang hatten sie ihn aus den Augen gelassen. Sie verfolgten ferner jede seiner Bewegungen. Die Mündungen ihrer Karabiner waren auf ihn gerichtet. Aber sie waren nicht die Einzigen, die ihn gesehen hatten.

Auch der finstere, greise Spaziergänger hatte die Schritte vernommen, die sich von der Anhöhe naheten. Er hatte sich nach ihnen umgesehen und zwischen den verdeckenden Bäumen zuerst nur den blauen Kittel erblickt, dann die volle hohe Gestalt. Dann sah er wieder die in der höchsten Spannung lauernden Gensd’armen und ihre auf den Fremden gerichteten Gewehre.

Ein Flüchtling! Welche andere Ahnung, welcher andere Gedanke konnte in seinem Innern Platz finden? Dem Gedanken war ein eben so schneller Entschluß gefolgt. Er kehrte zurück in der Richtung, in welcher der Fremde stand, der jetzt schon wieder sich voran bewegte. Der Fremde hatte ihn noch nicht gesehen. Er hörte Schritte und hielt die seinigen an. Sein Blick flog mit der Schnelle des Blitzes durch die Schlucht. Er sah den Greis. Ein Entsetzen ergriff ihn. Der Greis war allein, ohne Waffen. Seine Miene, wie finster sie war, war keine feindliche, keine drohende. Der Flüchtling stand dennoch, wie von einem plötzlichen betäubenden Schlage getroffen. Er starrte den Greis wie eine Erscheinung des Schreckens, des Todes an. Aber nur einen Augenblick, dann war das Entsetzen gewichen. Er hatte den finstern Greis erkannt, man sah es ihm an, und die Erkennung erfüllte sein Herz mit der Angst. Den Mann selbst fürchtete er nicht. Er wandte sein Gesicht von ihm ab und ging weiter, aber seitwärts, um die Nähe des Erkannten zu vermeiden. Da durchfuhr auch den Greis plötzlich etwas Entsetzliches. Er hatte den Fremden genauer betrachtet und erkannte auch ihn. Er wollte fliehen, fliehen vor dem Flüchtling, der vor ihm entwich, um desto sicherer in die [771] Hände seiner Verfolger zu fallen. Er vermochte es nicht. Eine Gewalt, der er nicht widerstehen konnte, trieb ihn dem Verfolgten entgegen.

Die beiden Gensd’armen hatten ihn nicht bemerkt. Sie sahen nur den Flüchtling und hielten ihre Gewehre im Anschlage auf ihn. So ließen sie ihn auf sich zukommen. Sie gewahrten dann sein plötzliches Stutzen und Erbleichen. Aber sie konnten nicht sogleich die Veranlassung entdecken. Die Bäume verbargen ihnen den Greis. Im Augenblicke darauf kam der Flüchtling nur um so gerader auf sie zu. Sie ließen ihn ruhig herankommen. Entgehen konnte er ihnen nicht mehr. Todt oder lebendig, auf Eine Weise mußte er in ihre Hände fallen, und darauf lautete wohl ihr Befehl.

Der Flüchtling sah sich nach dem Greise nicht wieder um.

Der Greis mußte ihm zurufen, wenn er ihn warnen, retten wollte.

„Zurück!“ rief er, mit gedämpfter Stimme, mit desto größerer Angst. Der Verfolgte mußte sich nach der Stimme umsehen. Er sah die Angst des Rufenden und erkannte auf einmal etwas Anderes. Er erkannte eine Gefahr, die hohe Gefahr, in der er schwebte.

Er wollte umkehren. Es war zu spät.

„Halt!“ tönte es laut durch den Wald. „Halt, keinen Schritt mehr!“ rief es, daß es von den Wänden der Schlucht widerhallte.

Einer der beiden Gensd’armen rief es. Beide sprangen mit den angelegten Karabinern hinter der Eiche hervor.

Der junge Mann sah sie, aber er erschrak nicht mehr. Wie er sie sah, war schon sein Entschluß gefaßt. Er stand dreißig Schritte von ihnen. Entfliehen konnte er nicht mehr, ihre Karabiner trugen achtzig bis hundert Schritte weit. Hätte er es aber auch vielleicht gekonnt, von Baum zu Baum springend, bis er das schützende dichtere Gebüsch, aus dem er gekommen war, wieder erreicht hatte – sein kräftiges Gesicht zeigte einen hohen Stolz und einen dieses Stolzes würdigen festen Entschluß. Er riß aus seiner Brusttasche ein Doppelpistol hervor und spannte beide Hähne.

Dann ging er langsamen Schrittes auf die beiden Gensd’armen zu, mit ruhiger Achtsamkeit jeden ihrer Blicke, jede ihrer Bewegungen im Auge haltend. Er hatte ein eben so muthiges, wie stolzes Herz. Todt oder lebendig sollte er in die Hände seiner Verfolger fallen. Er wußte es. Für seine Freiheit und für sein Leben wollte er kämpfen, so lange er es vermochte. Dann hatte er die Ehre gerettet. Stolzer, fester Muth imponirt Jedem.

Die beiden Gensd’armen waren es jetzt, die unschlüssig standen. Aber nur einen Augenblick. Sie hatten einander fragend angeblickt. Da wußten sie auch wieder, was sie zu thun hatten.

„Halt, oder wir schießen!“ rief wiederholt einer von ihnen.

Noch zweimal setzte der junge Flüchtling den Fuß vorwärts.

Dann stand er starr, unbeweglich, festgebannt. Er hatte einen raschen Schritt gehört, der sich ihm von der Seite nahete. Er sah sich nach ihm um. Der Greis kam auf ihn zu, den er gemieden, der vor ihm entwichen war. Drei Schritte machte der finstere Mann noch, dann stand er in der Schußlinie der Gensd’armen. Er deckte mit seinem ganzen Körper den Flüchtling.

„Fort!“ rief er diesem zu. Seine Stimme war fest, laut, befehlend.

Den Flüchtling traf sie, wie wenn er in der Schlacht eine Kommandostimme gehört hätte. Er zuckte zusammen. Aber gehorchen konnte er ihr nicht. Sein Gesicht verfinsterte sich. Es wurde stolzer, aber es war ein trotziger Stolz, der sich darin zeigte.

Mit diesem wandte er sich an den Greis.

„Zurück!“ sagte er zu ihm, ruhig, kalt. „Will ich leben, so kann ich mein Leben selbst vertheidigen.“

Er wollte noch etwas hinzusetzen, und es mußte wohl etwas Bitteres sein. Ein strenger Ausdruck seines Gesichtes ließ es errathen.

Er schwieg. Er bedurfte auch keines Wortes mehr. Durch das gefurchte Gesicht des Greises war ein tiefer Schmerz gezogen, sein Körper drohte zusammenzubrechen. Er senkte tief sein weißes Haupt und trat still zurück. Der Flüchtling konnte dennoch nicht weiter voran schreiten. Von allen Seiten war schon in der Schlucht Bewegung entstanden.

Die Gensd’armen hatten nicht ohne Absicht mit lauter, der Greis hatte nicht ohne Ahnung mit gedämpfter Stimme gerufen.

Die Grenze war in weiter Ausdehnung besetzt. An dem Flüchtling mußte sehr viel gelegen sein. Ein Dutzend Gensd’armen waren in die Schlucht gedrungen. Der Flüchtling war von ihnen umringt, der Greis konnte ihn nicht mehr beschützen; keine Hülfe konnte es. Er war verloren, unrettbar. Sollte er dennoch kämpfen? Seine Augen blitzten noch muthig.

Da trat einer der Gensd’armen aus dem Kreise vor, seinen Karabiner nicht angelegt, aber tief gesenkt. Es war eine stattliche Figur, ein schon ältlicher Mann, die Spitzen seiner Haare waren grau. Gram bedeckte sein Gesicht.

„Ergeben Sie sich,“ sagte er zu dem Flüchtling, ruhig, fast würdevoll. „Sie können zwei von uns erschießen, wenn Ihnen das Glück günstig ist. Aber es wäre dennoch ein Unglück für Sie. Entgehen können Sie uns nimmer, und auch Ihr Leben können Sie nicht einmal einsetzen. Da ergibt sich der Soldat nach allen Kriegsregeln, und das kann auch ein braver preußischer Officier.“

Dem Manne waren die Thränen in die Augen getreten. Sämmtliche Gensd’armen standen in stummem, fast ehrerbietigem Schweigen. Der Flüchtling stand mit wogender Brust, in seinem Gesichte wechselten tiefe Blässe und dunkle Röthe. Aus der Brust des finsteren Greises aber rang sich, als er die Worte von einem braven preußischen Officier aussprechen hörte, ein Schmerzensschrei. Er verhüllte sein Gesicht; seine Gestalt beugte sich wieder. Er verschwand unter den Bäumen. Keiner hatte auf ihn geachtet. Der Flüchtling hatte sein Pistol gesenkt. Er reichte es dem Gensd’armen hin, der ihn angeredet hatte.

„Nehmt mich gefangen!“


2. Franzosenwirthschaft.

In einer Entfernung von fünf Minuten lag vor dem Thore der Stadt ein einfaches Landhaus. Die Stadt war eine kleine Landstadt mit zwei- bis dreitausend Einwohnern. In einem weiteren Umkreise die einzige Stadt an der Grenze, und daher der nothwendige Sitz französischer Civil- und Militärbehörden, die an der Grenze concentrirt werden mußten. Die Grenze war eine Viertelmeile entfernt. Das einfache Landhaus lag freundlich seitab von der Landstraße, ein kleiner, mit Bäumen bepflanzter Weg verband es mit dieser. Ein umfangreicher Garten umgab es. An den Garten schloß theils Ackerfeld, theils dichte, bis an das Gebirge reichende Waldung sich an.

In einem hellen Wohnzimmer des Landhauses befanden sich zwei Damen. Sie waren von verschiedenem Alter und auch sonst in allem Anderen einander unähnlich, eine gewisse Familienähnlichkeit gab sie dennoch als Verwandte zu erkennen.

Die Aeltere war eine hohe, aber hagere und gebeugte Gestalt. Das Gesicht, von einem wunderbar feinen und vornehmen Schnitt, war bleich und eingefallen. Die Augen waren groß, dunkelbraun; dichte schwarze Augenbrauen überschatteten sie, bedeckten sie aber nicht und verbargen nicht ihren Blick. Dieser Blick war ein eigenthümlicher; bald glänzte er wie ein zuckender Blitz, bald brannte er wie ein dunkel glühendes Feuer in stürmischer Waldnacht; dann senkte er sich plötzlich ermattet, ohnmächtig, erloschen. Eine Fülle rabenschwarzer Locken umzog das Gesicht. Die Dame konnte achtundzwanzig bis dreißig Jahre zählen.

Die Jüngere schien in dem frischen Alter von achtzehn Jahren zu stehen. Die zierliche Gestalt trug ganz die Frische dieses Alters. Das schöne Gesicht hatte aber schon Züge einer tiefen Schwermuth. Das große blaue Auge schien weinen zu wollen, wenn man hinein sah, und wer hinein sah, meinte dann, in die eigenen Augen müßten ihm recht schmerzliche Thränen über den Gram und den Schmerz des schönen jungen Kindes treten. Und sie war sehr schön.

Die hohe, gebeugte Gestalt der Aelteren, ihr dunkelglühender Blick unter den starken Augenbrauen, der vornehme Schnitt ihres Gesichts erinnerten zu sehr an den Greis, der, vielleicht kaum eine Stunde früher, in der Waldschlucht an der Grenze den Flüchtling hatte retten wollen, als daß man nicht sofort Töchter des alten Herrn hätte erkennen sollen.

Vor beinahe sieben Jahren, an einem kalten Decemberabende des Jahres 1806, war in der kleinen Landstadt eine Herrschaft mit Extrapost angekommen, ein Herr mit zwei Töchtern. Sie reisten ohne Bedienung; ihre Erscheinung hatte dennoch etwas Vornehmes. Sie wollten in der Nacht nicht weiter fahren und kehrten in dem Gasthof des Städtchens ein. Der Herr, schon ältlich, hatte ein finsteres, fast menschenscheues Aussehen. Die ältere Tochter war kränklich und so hinfällig, daß der Vater sie aus dem [772] Wagen in den Gasthof mehr tragen als führen mußte. Sie war trotz ihres Leidens bildschön gewesen. Die zweite Tochter, ein sanftes, reizendes Kind von elf Jahren, war weinend neben der Schwester hergegangen. In das Fremdenbuch hatte der Herr den Namen Krajewski, Particulier aus Polen, eingeschrieben. Alle drei sprachen deutsch.

Die ältere Tochter war noch in derselben Nacht ernstlich erkrankt. Man hatte zu einem Arzt schicken müssen. Bevor der Arzt zu der Kranken eingetreten war, hatte er eine mehr als halbstündige geheime Unterredung mit dem Vater, dem Herrn Krajewski, gehabt. Nachdem er sodann die Kranke untersucht, hatte er den Ausbruch eines heftigen Nervenfiebers angekündigt. Von einem Weiterreisen der Familie konnte nicht die Rede sein. In den ersten sechs Wochen, erklärte der Arzt, sei in der strengen Winterzeit und in dem rauhen Gebirgsklima nicht daran zu denken, vielleicht gar vor dem Eintritte des Frühlings nicht. Das Nervenfieber nahm seinen regelmäßigen Verlauf, nach der Versicherung des Arztes wenigstens. Denn außer ihm kam kein Fremder zu der Kranken. Der Vater und die Schwester besorgten ihre Pflege. Der Arzt war ein alter, würdiger, verschwiegener Mann.

Es müsse da ein Geheimniß vorliegen, meinten die Einwohner des Städtchens. Der Arzt erklärte Alles natürlich. Auffallend blieb es dennoch, daß man die Kranke in ihrem Fieber oft laut und anhaltend wehklagen, jammern, weinen und dann plötzlich kurze, heftige Schmerzensschreie ausstoßen hörte. Wer das namentlich in der Nacht hörte, dem wollte es beinahe das Herz zuschnüren. Es seien das Fieberparoxysmen, erklärte der Arzt.

Aber sechs, acht Wochen waren vergangen; das Fieber war längst verschwunden; die lange anhaltenden Klagetöne vernahm man gleichwohl noch manchmal durch die Stille der Nacht, wenn sie auch weniger laut waren, und selbst die kurz abgestoßenen, durchdringenden Schmerzensrufe wollten einzelne Personen ein paar Mal wieder gehört haben. Und als das Frühjahr kam – die Familie hatte in der That während des Winters an die Weiterreise nicht denken können – und der Vater die Genesene oder Genesende draußen in die warmen, erquickenden Strahlen der Frühlingssonne führte, glaubten die, die in das furchtbar bleiche, schöne Gesicht der hohen und fast zerbrochen gebeugten Gestalt sahen, darin mehr als die Spuren einer schweren körperlichen Krankheit, glaubten sie darin die Zeichen einer tiefen Krankheit des Gemüths und in dem manchmal wilden Blitzen und Glühen der Augen gar den Ausdruck eines Irrsinns des Geistes zu entdecken. Das finstere Gesicht des Vaters, der die Tochter führte, blieb unbeweglich. Die jüngere Schwester, die schweigend folgte, schien alle ihre Kraft aufbieten zu müssen, um ihre Thränen zurückzuhalten. Was war der eigentliche Grund des schweren Leides der Familie? Der Arzt blieb stumm, wie das Grab. Sie selbst sprachen mit Niemandem, als dem Arzte.

Der Frühling des Jahres 1807 war ein milder, warmer geworden. Auch um das kleine Landstädtchen breitete er rund umher auf Bergen und Hügeln seinen grünen Waldesschmuck, die bunte Pracht und den süßen Duft seiner Blüthen aus. Das Städtchen lag in einem abgelegenen, verborgenen, wilden Thale. Im Frühlingsschmucke ist das wildeste Thal das reizendste. Für eine Genesende ist die stillste Natur die wohlthuendste. „Ich möchte hier bleiben,“ hatte die kranke Tochter zu dem Vater gesagt. Dem finsteren, ewig schweigsamen Manne war ein Stein vom Herzen gefallen. Fünf Minuten vor dem Thore der Stadt stand ein Landhaus zum Verkauf. Er kaufte es für den Preis, den man forderte. bezahlte ihn baar. So war er geblieben.

Die Aeltere genas, aber ihre hohe Gestalt blieb gebeugt, ihr feines Gesicht bleich und eingefallen. Der irre Blick der Augen verlor sich, aber ihr dunkles, wildes Glühen konnte den, der es noch manchmal sah, mit einem unheimlichen Schauder erfüllen. Die jüngere Schwester war zur schönen Jungfrau, zu jenem Engel an weicher Milde emporgeblüht. Der Vater war finsterer, schweigsamer, menschenscheuer geworden. Auf ihm besonders, auf ihm am schwersten und drückendsten mußte das Geheimniß und das Unglück der Familie lasten.

Was dieses Unglück war, blieb ein Geheimniß. Der alte Arzt war gestorben, als treuer, verschwiegener Freund. Was er wußte, hatte er mir sich in das ewig stumme Grab genommen. Der Vater, der Greis, hatte seit dem Tode des Arztes mit Niemandem Umgang. Die ältere Tochter hatte immer die Menschen mehr gemieden, als er. Die Jüngere hatte ihrer Erziehung und Ausbildung wegen dem Verkehre mit der Welt nicht ganz entzogen werden können, aber nie hatte sie ein Wort über ihr Haus, ihre Familie und ihre Verhältnisse gesprochen. Nicht gegen ihre Freundinnen, an wie wenige sie sich auch angeschlossen hatte, nicht gegen einen edlen, jungen Mann – doch über diesen noch einige Worte.

Die jüngere Tochter des Gutsbesitzers Krajewski zeichnete schon in ihrem siebzehnten Jahre durch ihre weiche, feine Schönheit sich aus. Sie wurde der Gegenstand der Aufmerksamkeit der jüngeren Beamten der Stadt und der Officiere der Garnison. Die Beamten waren Deutsche, die Officiere Franzosen. Das junge Mädchen achtete nicht auf die Einen und nicht auf die Anderen. Sie vermied sie Alle. Nur ein Einziger durfte sie grüßen, und sie erwiderte seinen Gruß. Es war ein junger Advocat an dem Districtstribunale. Anfangs hatte sie auch ihn nicht beachtet. Aber da hatte sie sich eines Tages mit der Rückkehr aus der Zeichenstunde, die sie bei einem Lehrer in der Stadt hatte, verspätet. Das Halbdunkel des Abends war schon eingetreten, als sie das Thor der Stadt verließ. In der Stadt hatte sie hinter sich einen Schritt gehört, der immer in gleichmäßiger Entfernung von ihr blieb, der sie zu verfolgen schien. Sie war allein, sie sah keinen Bekannten auf der Straße und wagte auch nicht, sich umzusehen. Sie beeilte nur ihre Schritte. So verließ sie die Stadt und erreichte die menschenleere, dunkle Landstraße. Der verfolgende Schritt war hinter ihr geblieben. Sie verdoppelte die ihrigen, aber trotzdem konnte sie ihm nicht entgehen, nach einer Minute hatte er sie erreicht.

In der Stadt und ihrer weiteren Umgegend war ein Regiment stationirt. Der Oberst mit den meisten Officieren befand sich in der Stadt. Der frivolste und frechste Officier des Regiments war der Adjutant des Regiments. Er war der Neffe und der Liebling seines Obersten, der ihm Alles nachsah. Der Oberst war der höchste Befehlshaber in der Stadt und Umgegend, dem Alles gehorchte, auch die Verwaltung, auch die Gerichtsbehörden. Er war Franzose, sie waren Deutsche, die den Franzosen dienten.

Der Regimentsadjutant war an der Seite des jungen Mädchens. Er war frech und frivol wie immer. Er nahm mit Gewalt ihren Arm und wollte sie in eine enge, dunkle Straße führen, die sich von der Landstraße seitwärts zwischen die Gärten vor der Stadt zog. Sie war vom Schreck gelähmt und konnte ihm nicht entfliehen, sie konnte sich nicht gegen ihn wehren. Sie wollte laut um Hülfe rufen, aber sie vermochte es nicht. Der Schrei wurde ein ersticktes Stöhnen.

„Sie sind so erschrocken, mein Kind,“ höhnte der freche Franzose sie. „Ein Spaziergang in dieser herrlichen Abendluft wird Ihnen den Muth wiedergeben. Kommen Sie! Und vor Allem lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich Sie anbete.“

„Hülfe! Hülfe!“ wollte sie noch einmal rufen.

„Ich verschließe Ihren schönen Mund mit Küssen,“ drohte der Franzose.

Aber eine Hülfe für das arme Kind war schon da.

„Sie sind ein Elender, mein Herr!“ rief unmittelbar hinter ihr eine Stimme.

Der Arm des Officiers wurde von einer kräftigen Hand aus dem ihrigen gerissen. Mit flammenden Blicken stand ein junger Mann zwischen ihr und dem Franzosen. Es war ein junger Advocat des Districtstribunals, der ihr öfters, und wie oft geflissentlich, begegnet war, der aber immer nur stumm und ehrerbietig sie zu grüßen gewagt hatte. Der Officier sah ihn wüthend an.

„Mein Herr, Sie wagen es –“

„Sie einen Elenden zu nennen, mein Herr, und Sie aufzufordern, sofort diese Dame zu verlassen.“

„Mein Herr, Sie verdienen Züchtigung.“

Der Franzose war bewaffnet, er faßte den Griff seines Degens.

Der junge Advocat war ohne jede Waffe. Desto größer und edler war sein Muth.

„Mein Herr,“ sagte er ruhig, „Sie sind von mir beleidigt, ich habe Sie einen Elenden genannt. Ich bin ein Mann von Ehre. Sind auch Sie es, so wissen Sie, welche Genugthuung Sie von mir zu fordern haben. Sollten Sie es nicht wissen, so weiß Ihr Officiercorps Ehre und Feigheit von einander zu unterscheiden.“

Der Franzose knirschte mit den Zähnen, aber er ging.

[785] Man muß es den Franzosen auch jener Zeit lassen: keine Frechheit, kein Hohn, keine Gewalt war für sie in Deutschland gegen Deutsche frech und empörend genug, daß sie davon hätten abstehen sollen; jener Sitte des Duelles, die Muth und konventionelle Ehre von ihnen forderten, entzogen sie sich selten, durfte namentlich der Officier, wenn sein Corps davon erfuhr, sich nie entziehen. Der Advocat brachte das junge Mädchen nach Hause.

„Sie müssen sich mit dem Menschen schlagen?“ fragte sie ihn entsetzt.

„Möchte es mir gelingen, den französischen Uebermuth zu züchtigen!“

„Aber wenn er der Sieger bleibt, wenn er Sie –“

Sie konnte das Wort, das sie auf den Lippen hatte, nicht aussprechen. Sie zitterte heftiger als vorher an der Seite des Franzosen.

„Mein Fräulein,“ erwiderte er ihr ruhig, aber im Tone tiefer Trauer, „falle ich, so hat fast ein gütiges Schicksal mich betroffen. Sie sind Polin, keine Deutsche –“

„O, mein Herr –“ rief das Mädchen.

Er hatte die Worte nicht gehört.

„Sie,“ fuhr er fort, „fühlen das Elend, die Schmach nicht, unter denen Deutschland seufzt.“

„O doch,“ mußte das Mädchen ihn nochmals unterbrechen.

„Wohlan, so müssen Sie auch den Druck fühlen, der auf jedes Deutschen Brust lastet, die Schmach, die ihn zu vernichten droht.“

Sie waren an der Wohnung des Mädchens angelangt. Ein anderer Gedanke erfüllte auf einmal ihr Inneres. „Mein Vater!“ rief sie mit neuem Entsetzen. „Wenn er es erfährt!“

„Ich werde von meiner Seite Alles aufbieten, daß er nichts erfährt. Leben Sie wohl.“

Sie hatte in ihrer Angst ihren Dank vergessen. Sie wollte ihm solchen zurufen, aber er war schon fort. Ein Gefühl wie der Schuld des Undankes brannte in ihrem Herzen. Fast heißer brannte sie noch der Händedruck, mit dem er rasch von ihr geschieden war.

Am andern Mittag erhielt sie die Nachricht, daß der Advocat Rohden den Adjutanten des Obersten im Duell erschossen habe. Ueber die Veranlassung des Duells hatte man nur erfahren, daß die Beiden am Abende vorher bei einem zufälligen Begegnen in einen heftigen Streit gerathen seien. Das Duell hatte am frühen Morgen stattgefunden. Vorher hatte, außer den zunächst Betheiligten, Niemand etwas davon gewußt. Der Oberst des Regiments war in mancher Beziehung ein Ehrenmann, der seine nachsichtige Schwäche gegen seinen Neffen sich oft zum Vorwurfe gemacht hatte. Er verbot seinen Officieren auf das Strengste, für den Tod ihres Kameraden an dem Advocaten Rohden irgend Rache zu nehmen. Die Ursache des Duells erfuhr längere Zeit auch ferner Niemand.

Das junge Mädchen nahm keine Stunden in der Stadt mehr. Sie vermied es mehr als früher, sich außer dem Hause zu zeigen. Man sah sie fast nur in Begleitung ihres Vaters. Nur zweimal war sie seitdem dem jungen Advocaten begegnet, der ihr Retter gewesen war. Er hatte sie stumm und ehrerbietig gegrüßt, wie früher. Aber sie hatte seinen Gruß erwidert. Ihr Vater hatte finster das Gesicht abgewandt, freilich wie immer, wenn ihm Jemand begegnete. –

Beinahe ein Jahr war seit dem Duell vergangen. Elvire Krajewska war mit ihrem Vater spazieren gegangen. Sie verließ fast nur mit ihm das Haus. Er liebte auf seinen Spaziergängen ihre Begleitung. Die ältere kränkliche Tochter verließ die nächste Umgebung des Landhauses nie. Sie kamen aus einer Waldung und betraten die zu der Stadt führende Landstraße, welche sie eine Strecke verfolgen mußten, um dann in einen Seitenweg einzubiegen, der sie näher zu ihrer Wohnung führte. Sie waren noch keine dreißig Schritte gegangen, als sie aus einer Biegung der Straße einen Trupp Officiere sich entgegen kommen sahen. Es waren jüngere Officiere des in der Stadt garnisonirenden Regiments. Sie waren laut, besonders zwei von ihnen, die betrunken zu sein schienen. Die Miene des finstern Greises verfinsterte sich mehr, als er sie sah. Seine Tochter wurde ängstlich.

„Kehren wir zurück, Vater,“ wollte sie bitten. Aber es war nicht mehr möglich. Die Franzosen hatten sie schon gesehen, und einer der Betrunkenen hatte bereits mit der Hand nach ihnen gezeigt.

„Ah, la voilà!“ hatte der andere gerufen.

Zurückgehen wäre Flucht, die Flucht wäre eine Aufforderung für die betrunkene Rohheit zu einer lauten, frechen Verfolgung gewesen.

„Fasse Muth, mein Kind,“ sagte der Greis.

„Ich fürchte nur für Dich, mein Vater.“

Sie hatte wohl für ihn zu fürchten, wenn sie sah, wie in seinem bleichen, von den tiefen Furchen durchzogenen Gesicht ein starker, edler Zorn, und dann auf einmal eine so sonderbare angsthafte Scheu mit einander kämpften. Er führte sie am Arme, und dieser Arm zitterte heftig.

„Fasse Du Muth, mein armer Vater,“ drängte es sie, ihn zu bitten. Sie durfte es nicht wagen, denn sie schien zu erkennen, [786] daß er sich selbst wie im Angesicht einer Gefahr, einer entsetzlichen Entscheidung fühlte, daß er aber auch selbst fürchtete, nicht den Muth zu besitzen, dessen er bedurfte. Sie durfte seine Verwirrung nicht vermehren.

Aber was war es, was dem hohen Greise den Muth nahm, seine Ehre, selbst die Ehre seiner Tochter zu schützen? Eine Todesangst hatte sie gefaßt. Sie zitterte heftiger als er. Ihre Füße versagten ihr fast den Dienst. Die Officiere kamen ihnen näher.

„Ja, ja, sie ist es wirklich!“ rief einer der Betrunkenen.

„Die Mörderin des armen Delaparte.“

Die Anderen wollten ihm Schweigen gebieten.

„Was wollt ihr?“ rief er lauter. „Warum soll es die Welt nicht wissen, daß sie die Mörderin ist? Er ist todt, sie leben; he Mademoiselle –“

Sie standen keine fünf Schritte mehr von einander, der Betrunkene mit seinen Begleitern, der Greis mit seiner Tochter. Das Mädchen mußte sich krampfhaft an dem Vater festhalten. Sein Gesicht war mit Schweiß bedeckt. Der Betrunkene wollte auf das Mädchen losstürzen. Seine Cameraden suchten vergebens ihn zu halten. Etwas Anderes hielt ihn. Aus der Biegung der Landstraße kam in Galopp ein Reiter herangesprengt. Er mußte das laute, tobende Rufen des Betrunkenen vernommen haben.

„Der Oberst!“ riefen die Officiere. Sie standen wie erstarrt, selbst der am meisten Betrunkene. Es war ihr Oberst. Er sprengte an sie heran und maß sie mit dem Blicke der strafenden Entrüstung des Vorgesetzten.

„Meine Herren, Sie verfügen sich sofort sämmtlich zum Arrest.“

Die Officiere kehrten gehorsam und schweigend zu der Stadt zurück. Der Oberst wandte sich an das junge Mädchen.

„Mein Fräulein, die Schuldigen werden bestraft werden, nach der strengsten Strenge der Gesetze, aber es ist das nur eine geringe Genugthuung für die Armee des Kaisers, für den französischen Namen. Für Sie, mein Fräulein, habe ich nur Eine Genugthuung, die Bitte an Ihr edles Herz, die Rohheit, die jene Elenden gegen Sie gezeigt haben, mir, ihrem Vorgesetzten, verzeihen zu wollen.“

„O, mein Herr, ich verzeihe Allen!“ preßte das weinende Mädchen hervor.

„Sie sind ein Engel an Güte und Bravheit des Herzens.“

Er zog seinen Hut tief vor ihr; dann gab er seinem Pferde die Sporen. Von ihrem Vater hatte er keine Notiz genommen. Nicht sein flüchtigster Blick hatte ihn gestreift. Doch indem er sein Pferd weiter in Bewegung setzen wollte, kehrte er sich nach dem Greise um, aber mit einem Blicke der unbeschreiblichsten Verachtung. So sprengte er davon. Die Tochter hatte den Blick nicht gesehen. Wohl ihr! Der alte, finstere Mann aber war zusammengebrochen. Er mußte sich auf einem Steine, der an der Straße stand, niederlassen, um Kräfte zum Weitergehen zu sammeln. Auf dem Wege sprach er kein Wort mehr. Zu Hause mußte das Mädchen ihm erzählen. Er hörte ihr still zu und er blieb auch den ganzen Abend stumm. Er schien einen Entschluß zu suchen. Am andern Morgen hatte er ihn gefunden. Er ging zu dem Advocaten Rohden. Er hielt sich höher aufrecht, als man ihn je gesehen hatte. Seine Augen zeigten eine stille Wehmuth. Er drückte dem jungen Advocaten die Hand.

„Mein Herr, ich habe gestern gehört, was Sie für mein Kind gethan haben; ich kann mich seit gestern bei dem Namen eines Deutschen wieder erheben.“

„Und Sie sind selber ein Deutscher?“ fragte ihn der junge Mann.

Der Greis bebte bei der Frage. „Ja!“ sagte er leise.

Dann nahm er wieder die Hand des Advocaten. Er hatte noch etwas auf dem Herzen. „Mein Herr! nebst meinem Danke hat mich eine Bitte zu Ihnen geführt.“

„Sprechen Sie sie aus, mein Herr.“

„Ich stehe nicht weit mehr vom Grabe. Nach meinem Tode sind meine beiden Töchter in der Welt völlig allein. Ich habe in Ihnen den Mann gefunden, dem ich sie anvertrauen kann. Darf ich sie Ihnen anvertrauen?“

Das Gesicht des jungen Advocaten war von einer dunklen Gluth übergossen.

„Mein Herr,“ rief er, „ich werde keine heiligere Pflicht kennen, als die Sie mir da anvertrauen wollen.“

Da athmete der Greis tief auf, wie aus einer plötzlich von einer schweren Last erleichterten Brust. „O, jetzt wird der Tod mir Befreiung sein!“

Er schien wirklich seit der Zeit ruhiger und freier zu sein. Finster und schweigsam blieb er immer. Momente eines tiefen, die Brust ihm durchwühlenden Grames ergriffen ihn auch noch. Aber der ewig schwere Druck, der früher ihn niedergebeugt hatte, lastete mit jener Schwere nicht mehr auf ihm.

Der Advocat Rohden durfte fortan sein Haus besuchen. Die sämmtlichen Officiere, die an jenem Ueberfalle Theil genommen hatten, waren vom Regiment entfernt worden.




3. Die Schwestern.

Wir müssen zu dem Anfange des vorigen Capitels zurückkehren. Die beiden Schwestern saßen beisammen, Melanie, die ältere kränkliche, Elvire, das weiche Kind von achtzehn Jahren, die in das goldene Alter der Jungfrau mehr unter Thränen und Sorgen, als unter Lachen und Spiel eingetreten war. Der Tag neigte sich. Man hatte durch die Fenster des Wohnzimmers den Anblick des benachbarten Gebirges. Die letzten Strahlen der Abendsonne färbten den herbstlich gelben Gebirgswald dunkler. Es war behaglich in der hellen Stube. Auch die Kälte des anbrechenden Octoberabendes war nicht hineingedrungen. Die ältere Schwester hatte sich dennoch in einen dichten wollenen Shawl eingehüllt. Sie fror. So saß sie auf dem Sopha, mit den großen schwarzen Augen in einen dunkler und dunkler werdenden Winkel des Gemachs hinein starrend. Die Jüngere saß mit einer Arbeit am Fenster. Sie war indeß nicht bei der Arbeit, sondern sah unruhig auf die vorüberführende Landstraße hinaus.

„Wo der Vater heute bleiben mag? Er hat sich noch nie so verspätet.“ Sie sagte es mehr für sich, als zu der Schwester. Diese hatte dennoch darauf geachtet.

„Wo er bleibt?“ sagte sie. „Ich sehe ihn. Er ist in der Tiefe des Waldes und kehrt schwer belastet von einem neuen Unglück nach Hause zurück. – Wie er keucht unter der Last dieses neuen Unglücks!“

Sie sprach ebenfalls mehr für sich, langsam, abgebrochen, mit hohl klingender Stimme. Ihr starrer Blick war unheimlicher geworden, er schien den dunklen Winkel durchbohren zu wollen.

Die jüngere Schwester seufzte leise vor sich hin und sah mit einer scheuen Besorgniß zu ihr hinüber. „Die Unglückliche!“ sagten mehr ihre Augen, als ihre Lippen. „Sie war lange ruhig. Sollte es jetzt wieder schlimmer mit ihr werden? Und sollte gar wirklich ein Unglück wieder herannahen wollen? Auch damals war sie so, zur Zeit jener entsetzlichen Geschichte – Melanie!“ sagte sie beruhigend. Die Kranke schreckte auf.

„Ha, Du, Elvire!“ Dann wurde der irre Blick auf einmal trübe. „Auch Du! Auch Du! Für Dich thut es mir weh. Du bist noch so jung. Du solltest glücklich werden können! Aber es faßt auch nach Dir. Es hat Dich schon.“

Elvire war aufgestanden und trat zu der Schwester.

„Gib die Träume auf, Melanie. Komm, steh’ auf. Es ist kalt in der Stube; auch mich friert. Gib mir Deinen Arm; wir spazieren durch die Stube, so erwärmen wir uns.“

„Dich friert?“ sagte die Kranke. „Mir ist heiß.“

Sie wickelte sich fester in ihr wärmendes Tuch. Dann fuhr sie fort: „Den Armen friert. Er hat Hunger und Kälte. Das Unglück brennt, verzehrt mit wilder Gluth. Geld haben wir, ja, aber auch das Unglück haben wir, und wir haben es uns selbst herbei gerufen. Auch für Dich, Du armes Kind. Und dem Unglück ruft man nicht vergebens. Es kommt –! Horch! Es klopft von selber an – Horch! Horch!“

An die Thür der Stube wurde geklopft. „Horch!“ wiederholte die Kranke.

Elvire war bleich geworden. „Wer mag da sein?“

„Das Unglück!“ rief die Kranke.

Es wurde zum zweiten Male geklopft.

„Herein!“ mußte Elvire rufen.

Die Thür öffnete sich. Ein Unterofficier von der französischen Besatzung des Städtchens trat ein. Er trug ein kleines versiegeltes Schreiben, welches er der jungen Dame übergab.

„Von dem Herrn Obersten, an Herrn Krajewski. Der Herr Oberst schickt zugleich seine Complimente.“

Er entfernte sich wieder. Elvire hatte die Aufschrift besehen. Der Brief, oder vielmehr das Billet, war an ihren Vater. Die [787] Handschrift schien aus der Militärkanzlei des Obersten zu kommen. Das Siegel war aber kein amtliches. Das junge Mädchen war bleicher geworden. Das dünne Papier zitterte in ihrer Hand.

„Was mag es enthalten? Was kann der französische Oberst von dem Vater wollen?“

Sie sann vergebens nach und unwillkürlich mußte sie einen Blick auf die Schwester werfen, die das Unglück angemeldet hatte. Die Kranke saß unbeweglich auf dem Sopha; sie starrte wieder in den Winkel hinein, der völlig dunkel geworden war. Sie träumte wieder; oder sah sie wieder entsetzliche Bilder eines irren Geistes?

„Licht!“ rief Elvire durch die Thür dem Diener zu.

Sie mußte Licht haben. Die Sonne war untergegangen. Die Dunkelheit des Abends nahm immer mehr im Zimmer überhand. Dem Mädchen wurde unheimlich in der Finsterniß, allein mit der Schwester, die nur Bilder des Irrsinns und des Unglücks sah. Der Diener brachte Licht herein. Das Auge der Kranken glänzte wirr in dem Scheine. Auf einmal richtete sie sich auf.

„Er kommt,“ sagte sie.

„Der Vater?“ fragte die jüngere Schwester.

„Der Andere!“

„Rohden?“

„Der Vierte in unserem Bunde des Unglücks! Hatte es denn an Dreien genug? Hat es je genug?“

„Melanie!“ bat die Schwester.

„Melanie!“ rief die Kranke, in deren Augen auf einmal wilder und wilder eine dunkle Gluth aufloderte. „Nenne mich Kassandra. Kassandra ist mein Name, und ich bin sie Euch, zu Eurem und zu meinem eigenen Fluche. Meine Weissagungen sind für Euch nicht da, aber sie treffen Euch dennoch. Auch ihn, der Dein Herz liebt. Du bist zum Unglücke, zum Untergang verdammt, wie ich es war. Und auch Du wirst das mit in Dein Unglück hineinziehen, was Dein Herz liebt, wie ich es mußte. Auch ihn, auch ihn, Dein Herz möchte ihn dann aufgeben, von sich stoßen können, wie mein Herz es nicht konnte. Ich konnte, ich konnte es nicht!“ schrie sie lauter auf. „Wehe mir! Ich kann es noch nicht!“

Sie war völlig aufgesprungen. Eine helle Röthe flog durch ihr Gesicht. Sie schlug auf ihre Brust. Sie wollte ihr Haar zerreißen. Elvire flog in ihre Arme, hielt ihr die Hände.

„Melanie, Du tödtest Dich, Du tödtest mich, unseren armen Vater –“

„Ihn!“ schrie die Kranke wieder wild auf. „Ihn? O –“

Sie ließ die Arme sinken; sie ließ sich ohne Widerstreben zu dem Sopha zurückführen, in dessen Kissen sie niedersank. Ein Strom von Thränen floß aus ihren Augen. Sie bedeckte die Augen mit den Händen. Der heftige Nervenanfall, der plötzlich sie ergriffen hatte, oder was es sonst war, war ebenso plötzlich vorübergegangen. Sie konnte nur noch still weinen. Die jüngere Schwester störte sie nicht.

Nach einer Weile ließen sich draußen vor dem Zimmer Schritte vernehmen. Auch die Kranke hörte sie und stand auf. Sie enthüllte ihr Gesicht; es war ruhig, aber von einer furchtbaren Blässe bedeckt.

„Es ist Rohden,“ sagte sie mit einer milden, ruhigen Stimme, „Er darf mich so nicht sehen. O, Elvire, mein liebes Kind, möchtest Du glücklich werden können! Mit ihm! Aber –“

Sie schüttelte schmerzlich das bleiche Haupt und ging in ein Nebenzimmer. An die Thür, vor der die Schritte gehört worden waren, wurde geklopft.

„Herein!“ rief leise das junge Mädchen, indem sie sich mühsam zu fassen suchte.

Der Advocat Rohden trat ein; er war ein schöner Mann mit seinem geistvollen, muthigen, besonnenen, kräftigen Gesicht. Man fühlte sich unwillkürlich beruhigt und sicher in seiner Nähe. Heute war seine Stirn umwölkt; sie wurde es noch mehr, als er sein Auge durch das Zimmer geworfen hatte, und sein erster Blick den Brief traf, den der französische Unterofficier gebracht hatte, und der auf dem Tische lag.

„Auch hier? ich hatte es gedacht!“ sagte er.

Seine Besorgniß machte das Märchen von neuem ängstlich.

„Sie haben etwas, Rohden.“

„Ja, liebe Elvire,“ erwiderte er, „und etwas recht Schweres.“

„Sie dürfen es mir mittheilen?“

„Ich muß es.“ Sie waren Freunde, das junge Mädchen und der junge Mann, der sie aus schwerer Gefahr errettet, der dann sein Leben für sie eingesetzt hatte. Ihre Herzen standen sich vielleicht noch näher. Und sie wußten es vielleicht auch. Gesagt hatten sie es sich noch nicht. Sie waren vertraute Freunde, die sich mittheilen mußten, was sie auf dem Herzen hatten. Nur die Geheimnisse der Familie, das schwere, entsetzliche Geheimniß der unglücklichen Familie, kannte er nicht.

„Ich bringe Ihnen mehrfache traurige Nachrichten,“ sagte er zu dem ängstlich horchenden Mädchen. „Lassen Sie mich mit der schrecklichsten beginnen. Sie betrifft uns Alle, sie vernichtet uns Alle, unser ganzes deutsches Vaterland. Sie wissen, man erwartete täglich die Nachricht von einer entscheidenden Schlacht zwischen den Alliirten und Franzosen.“

„Man erwartete, sie werde in Sachsen stattfinden,“ sagte das Mädchen.

„Sie hat dort stattgefunden – in der Nähe Leipzigs.“

„Und die Franzosen haben gesiegt?“

„Sie haben gesiegt. Napoleon hat einen großen, glänzenden, entscheidenden Sieg über die Verbündeten davon getragen – vorgestern, am sechzehnten. Den ganzen Tag hat der furchtbare Kampf gewüthet. Am Abend waren die Deutschen geschlagen, und der Kaiser Napoleon konnte Couriere nach allen Seiten mit der Nachricht des erfochtenen Sieges absenden. Einer von ihnen kam heute Nachmittag hier durch, die Nachricht dem Regimente zu überbringen. Als er Leipzig verlassen, hatten die Glocken der deutschen Stadt zu dem Siege der Franzosen über die Deutschen läuten müssen. Noch einmal ist unser Vaterland verloren. O, auf wie lange!“

Dem jungen Advocaten standen Thränen in den Augen Das junge Mädchen hatte einen anderen für sie tieferen Schmerz.

„Mein Vater! mein armer Vater!“ rief sie aus.

Der Advocat sammelte sich.

„Zu der Nachricht des Schreckens und der Trauer gesellt sich die Schmach. In der Stadt herrscht lauter Jubel über die Siegesnachricht. Die französischen Soldaten sind außer sich vor Freude. Die deutschen Beamten schließen sich ihnen an, sie wollen nicht zurückstehen, sie wollen jene überbieten. Sie nennen es Patriotismus! O, der furchtbaren, der ewigen Schmach!“

Die Stimme drohete ihm zu ersticken, er war leichenblaß geworden. Das Mädchen stand zitternd und leichenblaß vor ihm. Sie hatten Beide nicht gehört, wie sich langsam und leise die Thür des Zimmers geöffnet hatte. Der hohe finstere Greis war eingetreten und stand auf einmal vor ihnen, einem Gespenste ähnlich, das dem Grabe entstiegen ist. Die Gesichtszüge waren entstellt, verzerrt. Er wankte stumm zum Sopha. Er verhüllte sein Gesicht mit beiden Händen.

„Vater, mein Vater!“ eilte das Mädchen zu ihm. „Du hast es schon vernommen?“

Er antwortete nicht.

„Du weißt es! O, sprich, sprich! Vereinige Deinen Schmerz mit dem unsrigen, damit er Dich nicht tödtet.“

„Ich weiß es,“ sagte der Greis tonlos, „ich erfuhr es auf dem Rückwege. Sie sprachen davon,“ sagte er dann zu Rohden, „fahren Sie fort.“

„Sie wissen auch den Jubel, die Schmach?“ fragte Rohden.

„Ich weiß Alles.“

Der Advocat fuhr fort: „Das Schwerste, das Empörendste erwartet uns noch. Morgen soll in der Kirche ein feierliches Tedeum gehalten werden. Heute Abend gibt das Officiercorps einen glänzenden Ball. Wer zu jenem, wie zu diesem nicht erscheint, soll als ein Verräther des Vaterlandes, als ein Feind des Kaisers behandelt werden.“

Elvire hatte bebend den Brief des Regimentsobersten ergriffen und übergab ihn ihrem Vater.

„Von dem Obersten,“ sagte sie, „ein Unterofficier brachte ihn vor einer Stunde.“

Der Greis wollte aufspringen, vermochte es aber nicht. Seine Kräfte schienen auf einmal wie von einem furchtbaren Schlage erschöpft zu sein. Er streckte die zitternde Hand nach dem Briefe ans, sank aber wie gelähmt zurück.

„Lies Du!“ sagte er leise.

Sie erbrach das Billet und las:

„Der Oberst Charoul gibt sich die Ehre, Herrn Krajewski [788] mit seiner Familie zu dem Balle einzuladen, welchen das Officiercorps der Garnison heute Abend um neun Uhr zur Feier des großen französischen Sieges bei Leipzig veranstaltet hat. Man hat das Vertrauen zu dem Patriotismus und zu der Treue und dem Gehorsam des Herrn Eingeladenen gegen unseren erhabenen Souverain, den Kaiser, daß er dieser Einladung gern Folge leisten wird.“

Elvire sah stumm ihren Vater an, nachdem sie zu Ende gelesen hatte. Er saß bewegungslos mit dem verhüllten Gesicht da.

„Wir gehen nicht hin, Vater!“ sagte das Mädchen. Sie sprach es halb entschieden, halb bittend.

Er antwortete nicht; er bewegte sich nicht. Rohden nahm ihre Hand und führte sie auf die Seite.

„Er ist in einem furchtbaren Zustande,“ flüsterte er ihr zu.

„So ist er immer, wenn von diesem Kriege, von Deutschland, von Franzosen gesprochen wird. Darum hatte ich Sie gebeten, nie mit ihm über die Zustände unseres Vaterlandes zu reden.“

„Ich hatte es geahnt, ich wußte es,“ sagte der Advocat für sich. „Und da liegt sein und der Familie Geheimniß.“

„Drängen Sie ihn nicht, Elvire,“ fuhr er zu dem Mädchen fort. „Hören Sie mir vorher zu. Wir sind in einer verzweifelten Lage, und ich bin Ihnen volle Offenheit schuldig.“

„Reden Sie,“ bat das Märchen.

„Der Oberst und die Behörden legen auf diesen Ball ein besonderes Gewicht. Sie haben ihn absichtlich und in böser Absicht veranstaltet. Der deutsche Geist, wie in ganz Deutschland, ist auch hier erwacht, unmittelbar unter der französischen Herrschaft selbst. Er konnte, daß er nicht in Thaten sich kundgab, nur durch den strengsten Terrorismus niedergedrückt werden. Dennoch war er unter den Siegen der Alliirten in Schlesien, in Brandenburg, in Sachsen lauter und lauter geworden. Unsere Unterdrücker begannen schon sich wie in fremdem Lande zu fühlen und in dem fremden Lande sich zu fürchten. Auf einmal heute die Siegesnachricht. Auf ihre Furcht folgt der Triumph, der Uebermuth und zugleich das Verlangen, Rache dafür zu nehmen, daß sie sich hatten fürchten müssen. Dafür morgen das Tedeum, heute dieser Ball. Wehe dem, der nicht erscheint! Gegen Ihren Vater, Elvire, hat man einen ganz besonderen Haß –“

„Wegen meiner –“ sagte das Mädchen.

„Nicht blos deshalb. Es ist auch noch ein anderer und wahrscheinlich viel dringenderer Grund da.“

„Welcher könnte das sein?“

„Ich weiß es nicht, nur der Oberst scheint ihn zu kennen, vielleicht auch der Oberprocurator. Ich habe nur wie von einem tiefen Geheimniß davon sprechen hören. Aber bestimmt wollte man dabei wissen, daß bei dem ersten revolutionären Symptome, das sich in der Bevölkerung zeige, Ihr Vater der Erste sein werde, den man vor ein Kriegsgericht stelle, um ihn zu erschießen.“

„Allmächtiger Gott!“ rief das zum Tode erblaßte Mädchen.

„Es ist so, Elvire, und ich mußte es Ihnen jetzt, bei dem Herannahen der Gefahr, sagen.“

„Was machen wir, Rohden?“

„Vor allen Dingen darf er kein Wort von dem erfahren, was ich Ihnen hier mittheilte; er würde sonst keine Wahl mehr haben.“

„Wir würden hin müssen. Aber müssen wir das nicht immer?“

„Erwägen Sie auch das Andere, Elvire, Ihre Lage.“

„Lassen Sie uns nicht an mich denken, mein Freund.“

„Ihre Lage ist zugleich wieder die Ihres Vaters. Das Officiercorps haßt Sie. Die Rache, die man an Ihnen nehmen will, hat bisher nur mühsam unterdrückt werden können. Wird sie in dem Uebermuthe des heutigen Abends nicht um so mehr, vielleicht um so roher sich Luft zu machen suchen? Und was wird dann Ihr Vater thun? Sie kennen seine Liebe für Sie, seinen Stolz, seinen heftigen, krankhaft heftigen Charakter.“

Das Mädchen stand in sprachloser Angst.

„Erwägen Sie dagegen freilich,“ fuhr der junge Mann fort, „daß mit Ihnen ich da sein werde, und daß Sie zu allernächst unter meinem Schutze stehen werden.“

Ein neues Entsetzen hatte die Arme erfaßt.

„Sie, Rohden? Ihr Leben sollte ich zum zweiten Male auf das Spiel setzen? Nimmer. Ich gehe nicht zu diesem unglücklichen Ball.“

„Und Ihr Vater dann, Elvire?“

Die Arme durfte nicht einmal laut weinen, damit ihr Vater es nicht hörte.

„O,“ schluchzte sie in ihr nasses Tuch hinein, „o, wohl hatte die arme Schwester Recht, mit jenem Briefe meldet sich das Unglück bei uns an; es ist jetzt da. – Was machen wir, Rohden?“ fragte sie dann, „rathen Sie.“

Der muthige, stets entschlossene junge Mann mußte sich doch besinnen. Aber nur einen Augenblick lang. Eine Gefahr war immer da; sein Muth und seine Ehre entschieden für die Gefahr, die auch für ihn da war; einer andern Stimme, als der des Muthes und der Ehre, gehorchte er nicht. Die Geliebte – das schöne, brave, junge Mädchen war ihm schon längst die Geliebte seines Herzens – sie war freilich mit in der Gefahr, die auch für ihn da war, nur um ihretwillen konnte er hinein gerathen. Aber er durfte das nicht weiter beachten.

„Wir gehen, Elvire, Sie, Ihr Vater und ich.“

„Auch Sie?“

„Ich führe Sie in den Saal.“

„Es muß so sein,“ sagte sie.

Sie drückte ihm die Hand. Er drückte sie ihr herzlich wieder. Der warme Druck goß Muth in ihr Herz. Mit Muth und noch immer mit Angst, und durch beide mit stiller, inniger Liebe blickte sie in seine Augen, die voll Liebe auf ihr ruhten.

Der junge Advocat hatte noch etwas auf dem Herzen.

„Ich habe Ihnen noch eine recht traurige Nachricht mitzutheilen, Elvire; Ihr Vater darf sie nicht erfahren.“

„Sie betrifft ihn, Rohden?“

„Sie betrifft ihn nicht; aber sie würde ihn gerade heute unangenehm berühren. Die Gensd’armen haben vor kaum einer halben Stunde einen preußischen Officier eingebracht, der die Grenze überschreiten wollte.“

„Einen preußischen Officier?“

„Einen vormaligen wenigstens.. Er war mit dem Schill’schen Corps gefangen genommen, in das Innere von Frankreich geschleppt und auf die Galeeren gebracht. Es war ihm geglückt zu entkommen, aber nur bis hier. Ein Zufall muß ihn verrathen haben. Seit gestern war die gesammte Gensd’armerie der Gegend zu seiner Verfolgung aufgeboten. Gerade an der Grenze hat man heute ihn ergriffen.“

Elvire war aufmerksam geworden, dann unruhig.

„Ein Officier des Schill’schen Corps?“

„So heißt es in der Stadt.“

„Haben Sie seinen Namen gehört?“

Er nannte einen Namen.

„Großer Gott!“ rief das Mädchen.

Die Arme mußte krampfhaft das Tuch vor den Mund drücken, um den Ausruf des Schreckens zu dämpfen.

„Sie wissen von ihm?“ fragte Rohden.

„Ich hoffe nicht.“

„Aber Sie erschraken!“

„Ich hatte den Namen von meiner Schwester gehört, in ihren Nervenanfällen, ohne nähern Zusammenhang. Aber der Name ist ein vielverbreiteter, auch in der preußischen Armee. Auf keinen Fall, Sie haben Recht, darf mein Vater von der traurigen Begebenheit hören. Lassen Sie uns zu ihm gehen.“

Sie kehrten zu dem Greis zurück; er daß noch immer mit verhülltem Gesichte da. Ein furchtbarer Schmerz mußte in ihm wühlen; ein schwerer Kampf war vielleicht hinzugetreten.

„Wir gehen zu dem Balle, Vater,“ redete ihn, mit ihrer weichen Stimme bittend, die Tochter an. „Rohden begleitet uns,“ setzte sie hinzu.

Er fuhr auf, er hatte ihre Stimme gehört, aber nicht ihre Worte.

„Was sagtest Du?“ fragte er.

„Wir gehen zum Ball,“ wiederholte sie, „Rohden wird uns begleiten.“

Einen Augenblick starrte er sie an. In seinem Innern wälzten und drängten sich Gedanken und Pläne. Auf einmal schien er etwas festzuhalten.

„Wir gehen!“ sagte er hastig. „Mache Dich fertig.“

Er verließ das Zimmer. Der Advocat sah ihm kopfschüttelnd, Elvire mit schwerer Sorge nach.

„Hätte ich es ihm nicht gesagt! Er hat etwas vor. Es gibt ein Unglück. Kassandra, Kassandra, ich glaube Dir.“

„Fassen Sie Muth, Elvire, ich verlasse Sie nicht.“

[801]
4. Ein deutscher Festball.

Der Casinosaal des Städtchens war zu einem eleganten Ballsaal eingerichtet. Die Officiere des Regiments hatten Alles aufgeboten, um auch durch den Ball, den sie gaben, die Feier des Sieges bei Leipzig zu einem so glänzenden wie möglich zu machen. Und es war ein Sieg der Franzosen über Deutsche, und Franzosen feierten ihn im deutschen Lande, und zwangen die Deutschen mitzufeiern. Wie Mancher freilich feierte auch freiwillig mit und trug eifrig seinen Eifer zur Schau! Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Ohne daß sie es wußten, feierten sie einen andern Sieg, der wirklich erfochten war.

Am 16. October hatte Napoleon wohl gemeint, oder auch sich selbst nur vorgeredet, er sei der Sieger des Tages geblieben, und er hatte Couriere mit der Siegesbotschaft nach allen Richtungen ausgesandt, und Leipzigs Glocken hatten läuten müssen. Am 18. October aber entschied der Herr der Schlachten und der Geschicke der Völker anders, und während sie da hinten in der kleinen Stadt tief im westphälischen Gebirge den Sieg des großen französischen Kaisers feierten, in derselben Stunde war der französische Kaiser von den Deutschen auf das Haupt geschlagen, sein Heer war vernichtet, und der geschlagene Kaiser und was von seinen Soldaten übrig geblieben war, mußte in wilder Flucht sein Heil suchen. Zu derselben Stunde waren freilich auch die Fluren Leipzigs mit anderthalbhunderttausend Todten und Verwundeten bedeckt.

In dem Casinosaal des Städtchens tanzten sie lustig, französische Herren und deutsche Frauen und Jungfrauen. Auch deutsche Herren; vielleicht mehr als französische. Doch nicht Alle waren sie lustig, diese deutschen Männer und Frauen. Wie Manche hatte nur die Furcht hergetrieben, die elende Feigheit! Wie Manchen aber auch die zwingenden Verhältnisse! Das Glück eines Kindes, das Wohl eines Bruders, die Existenz einer Familie stand auf dem Spiele. Die Verhältnisse sind die besten Freunde des Despotismus und der Tyrannei, und die verderblichsten Feinde der Sitte, des Muthes, der Mannes- und Frauenwürde. Sie tanzten und scherzten; sie liebten und flüsterten, sie tranken Champagner und wurden laut. Auf dem Schlachtfelde bei Leipzig stöhnten und ächzten Tausende und Tausende im Todeskampfe. –

„Parbleu, Morel, haben Sie den Monsieur Krajewski mit seiner schönen Tochter noch nicht gesehen?“

„Sie meinen den Polen, Bourquin? Er ist noch nicht da.“

„Pole? Woher wissen Sie, daß er ein Pole ist?“

„Man sagt es doch.“

„Noch Niemand hat ihn Polnisch reden hören. Er spricht ein reines Deutsch. Und der Oberst, wenn er wollte, würde uns genau genug seine deutsche Heimath angeben können.“

„Man versichert es.“

„Ich weiß es bestimmt.“

„Indeß gleichviel. Seine Tochter ist schön und reizend, wie man nur je eine Polin sich denken kann.“

„Aber auch gefährlich, mein lieber Morel. Der arme Delaparte hat durch sie schon das Leben eingebüßt, und zwei von unsern Cameraden sitzen um ihretwillen noch heute auf der Festung.“

„Ihr Geliebter ist auch noch nicht da, wie ich sehe.“

„Er wird nicht ohne seine Dame kommen.“

„Wenn sie überhaupt kommen werden.“

„Parbleu, Morel, ich glaube der Oberst ließe den Alten morgen füsiliren, wenn sie nicht kämen.“

„Glauben Sie, Bourquin?“

„Können Sie zweifeln? Der Delaparte war sein Neffe, sein Liebling. Der Dienst verbot ihm, Rache zu nehmen. Um so lebendiger lebt das so lange verschlossene Rachegefühl in seiner Brust.“

„Ventre-saint, Bourquin, auch wir sind unsern Cameraden noch die Revanche schuldig. Was meinen Sie? Heute wäre die Zeit –“

„Und an wem sollen wir die Rache nehmen?“

„An der Dame, dem Liebhaber, an Allen, die hierher kommen.“

„An der Dame, Morel? Sie ist eben eine Dame.“

„Pah, eine Deutsche! Und durch sie kränken wir die Andern um desto empfindlicher.“

„Freilich die Laune des Obersten ist heute, wie man sie nicht besser wünschen kann. „Zum Teufel!“ hörte ich ihn noch vorhin sagen, „diese Deutschen wollten anfangen, von ihrer Freiheit zu träumen. Man muß ihnen einmal wieder die strengen Herren zeigen. Erniedrigen wir sie heute noch durch unsere Herablassung. Vive l’Empereur sollen sie mit uns rufen, lauter als wir. Vive le vainqueur de Leipzig! Morgen knechten wir sie. Morgen Standrecht, Fusilladen, wenn eine Stimme ohne unsere Erlaubniß laut wird.““

„Also, Bourquin?“

„Wohlan, Morel! Und siehe da, gerade kommen sie.“

Die Thüre des Saals hatte sich geöffnet. Verspätete Gäste traten noch ein: der alte Krajewski, am Arme seiner Tochter [802] Elvire. Beiden folgte der Advocat Rohden. Das Gesicht des Greises war finster wie immer; aber es trug heute noch zugleich den Ausdruck eines herausfordernden Stolzes. Welcher schwere Druck dennoch auf seinenn Innern lastete, das verrieth die unwillkürlich gebeugte Haltung seiner hohen Gestalt. Der Advocat Rohden zeigte die ernstesten, verschlossensten Gesichtszüge; man sah den Mann, der unter allen Umständen sich beherrschen, sich aber auch nichts vergeben wollte. Elvire Krajewska hatte sich so einfach gekleidet, wie sie durfte, ohne den Anstand zu verletzen. Sie war in ihrer Einfachheit doppelt schön. Ihr Gesicht war sehr blaß und sie zitterte, als sie an dem Arme ihres Vaters in den Saal trat. Sie erregte dennoch die Bewunderung Aller, die sie, sahen.

Ein Adjutant des Obersten gab ihr seinen Arm, sie zu ihrem Platze zu führen. An seinem Arme zitterte sie nicht. Das weiche Mädchen war stark, wenn es sein mußte.

„Parbleu, Morel,“ sagte der Herr von Bourquin, „sie ist schön. Man möchte lieber ihre Liebe, als ihren Haß zu gewinnen suchen.“

„Sie haßt uns schon, Bonrquin, mehr als wir glauben. Nur noch auf Rache für unsere Cameraden kommt es an.“

„Sie sprechen von Rache für unsere Cameraden, meine Herren? Sie meinen gewiß die kleine Krajewska? Da bin ich dabei. Der brave Delaparte war mein Freund.“

Ein Dritter, der zu den beiden Officieren herangetreten war, sprach die Worte. Er trug ebenfalls die französische Officiersuniform, auch die des nämlichen Regiments, dennoch war er anders als jene Beiden. Man konnte den Unterschied in der verschiedenen Gesichtsbildung finden; sie war bei ihm keine französische, sie war eine deutsche. Noch mehr zeigte ihn der Ausdruck des Gesichts. Auch die Franzosen trugen Uebermuth im Gesicht, aber einen leichten, frivolen, unbekümmerten. Das deutsche Gesicht des jungen Mannes in der Uniform des französischen Officiers hatte einen gemeinen, zugleich cynischen und kriechenden Uebermuth. Mit diesem cynischen und kriechenden Uebermuthe hatte er die Worte gesprochen. Selbst seine Cameraden sahen ihn mit einiger Verwunderung an.

„Sie wollen gemeinschaftliche Sache mit uns machen, Herr von Aschersleben? Gegen Ihre Landsleute?“

„Diese plumpen Westphalen sind meine Landsleute nicht.“

„Die Dame und ihr Vater sind keine Westphalen.“

„Pah, Polen denn.“

„Auch das wohl nicht –“

„Nun, meinethalben auch Deutsche. Ich gehöre der großen Nation an. Aber lassen Sie uns zur Sache kommen; hatten Sie schon einen Plan gemacht?“

„Noch nicht.“

„So wüßte ich einen.“

„Lassen Sie hören, Herr von Aschersleben.“

„Indeß, wozu noch erst ein weitläufiger Plan? Die Sache ist sehr einfach und macht sich von selbst. Man fordert die junge Dame zum Tanze auf, tritt mit ihr an, und läßt sie auf einmal ohne alle Veranlassung in möglich auffallender Weise stehen.“

„Und wer soll die Rolle übernehmen, Herr von Aschersleben?“

„Ich bin bereit dazu. Warum nicht?“

Die beiden Franzosen sahen sich an. „Er ist ein elender Deutscher,“ sagte der Blick des einen.

„Aber er thut es und nicht wir,“ antworteten die Augen des anderen. –

Die Franzosen hatten Recht. Es war ein elender, einer der elendesten, der verächtlichsten Deutschen, der so handeln konnte. Der elenden, verächtlichen Menschen gibt es viele, in allen Nationen; Deutschland hatte ihrer zu jener Zeit sehr viele, und besonders bekanntlich unter dem Adel. Aber freilich war es französische Nichtswürdigkeit, die an ihnen gearbeitet und verdorben hatte, lange vor dem Jahre 1807 schon an den deutschen Höfen, deren schmachvolle Aufgabe es geworden war, die Sittenlosigkeit des französischen Hofes in möglichst roher Weise nachzuahmen; die französische Fremdherrschaft in Deutschland hatte dann alles deutsche Ehr- und Nationalgefühl systematisch zu unterdrücken und zu vernichten gesucht. Die Renegaten sind überall die eifrigsten Lumpe. Sie werden dafür am meisten von denen verachtet, denen sie dienen.

„Weiter,“ sagten die Franzosen zu dem Deutschen.

„Das Weitere, meine Herren, gibt sich gleichfalls von selbst. Der Liebhaber, der Vater werden Genugthuung fordern. Man wirft sie heute hinaus, und gibt ihnen morgen Genugthuung. Man ist sie ihnen schuldig.“

„Ja, man wäre sie ihm schuldig.“

„Und Sie werden dabei sein.“

„Dabei allerdings.“

„So wären wir fertig.“

„Morgen rechnen Sie auf uns.“

„Da beginnt gerade ein Tanz. Ich gehe die Dame aufzufordern.“

Er wollte gehen, mußte aber seinen Schritt anhalten.

„Was, zum Teufel, ist das?“

„Der Oberst geht zu der Dame.“

„Er selbst scheint sie auffordern zu wollen.“

„In der That. Horchen wir, was er sagt.“

Der Oberst des Regiments war auf Elvire Krajewska zugegangen. Er verbeugte sich mit der vollen Galanterie des französischen Officiers vor ihr.

„Mademoiselle, schenken Sie mir die Ehre dieses Tanzes! Sie hatten mir einst verziehen, zeigen Sie den Ernst Ihrer Verzeihung.“

Elvire wurde verlegen. Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu tanzen. Jedem Anderen hätte sie es ruhig mit der Festigkeit ihres Vorsatzes gesagt. Auf eine Aufforderung des Obersten war sie nicht vorbereitet. Sie erröthete tief. Aber ihr starkes und muthiges Her; verließ sie auch hier nicht.

„Herr Oberst,“ sagte sie klar und entschieden, „mein Vater und ich haben Ihre Einladung unter den herrschenden Umständen als einen Befehl ansehen müssen, dem man sich nicht entziehen dürfe. Tanzen kann ich aber heute nicht. Ich muß Ihnen danken für die Ehre, die Sie mir erweisen wollten.“

„Wenn ich Sie nun zugleich gerade um Ihretwillen bäte, Mademoiselle?“

Der schon etwas bejahrte Officier sah sie wohlwollend an.

Sie mußte sich gleichwohl noch besinnen.

„Nur eine einzige Tour, Mademoiselle.“

Sie reichte ihm die Hand. Er eröffnete mit ihr den Tanz.

Er tanzte, wie er versprochen hatte, nur eine Tour mit ihr. Dann führte er sie mit seiner ganzen Höflichkeit auf ihren Platz zurück. Die drei Officiere standen noch beisammen.

„Was hat er denn gewollt?“

„Hat er einen Eigensinn durchsetzen wollen?“

„Oder wollte er sich zu ihrem Beschützer erklären?“

„Gegen wen?“

„Gegen uns. Er war vorher in unserer Nähe, er kann aus unserem Gespräch einzelne Worte aufgefangen, er kann es aus unseren Mienen errathen haben.“

„So wird es in der That sein.“

„Gleichviel.“

„Sie wollen den Obersten herausfordern, Herr von Ascherseben?“ „Ich habe als Tänzer eben so viel Recht, wie der Oberst.“

„Das heißt?“

„Das heißt: Ich werde sie auffordern, wie er that. Sie wird mir den Tanz abschlagen. Was ist dann meine Sache? Und die Ihrige, wenn Sie ferner mit mir halten wollen?“

„Sie wollen die Dame also nicht beschimpfen?“

„Es bedarf dessen jetzt nicht mehr.“

„Wohlan!“

„Zum nächsten Tanz also!“

Sie wollten auseinander gehen. Ein vierter Officier kam auf sie zu. Er war soeben in den Saal getreten. Es war ein Adjutant des Regiments. Er trug das Abzeichen des Dienstes. Er wandle sich an die beiden Franzosen.

„Herr von Bourquin und Herr von Morel, Sie sind auf morgen früh um neun Uhr zum Kriegsgericht commandirt.“

„Zum Standrecht? Was wäre vorgefallen?“

„Ein entwichener Galeerensträfling ist hier eingefangen.“

„Und über ihn sollen wir zu Gericht sitzen?“

„Es ist ein ehemaliger preußischer Ofsicier, der gefangen genommen und zu lebenswieriger Galeerenstrafe verurtheilt war. Vor vierzehn Tagen war er aus dem Bagno entwichen. Er war an der ganzen Grenze signalisirt. Von Paris war der Befehl gekommen, ihn sofort, wenn er ergriffen sei, vor ein Kriegsgericht [803] zu stellen und zum Erschießen zu verurtheilen. Er ist heute Abend ergriffen. Morgen früh wird das Kriegsgericht zusammen treten.“

„Mit dem Befehle, ihn zum Tode zu verurtheilen?“

„Bis morgen Mittag muß das Unheil vollzogen sein. So lautet der Befehl.“

„Sehr wohl.“

„Und ich bin zu der Sitzung des Gerichtes nicht commandirt?“ fragte der Herr von Aschersleben.

„Nein, mein Herr,“ sagte der Adjutant. Auch er mußte den Mann mit Verachtung ansehen.

Der Renegat sah es nicht.

„Ach,“ sagte er, „da beginnt ein neuer Tanz. Werden Sie bereit sein?“

„Wir werden bereit sein,“ sagten die Herren von Morel und von Bourquin.

Der Adjutant hatte sich wieder entfernt. Elvire Krajewska saß noch auf demselben Platze, zu dem nach ihrem Eintreten der Adjutant sie geführt und nach dem Tanze der Oberst sie zurückgeführt hatte – zwischen Damen, die sie wenig oder gar nicht kannte. Sie hatte sich einsylbig mit ihnen unterhalten. Ihre Aufmerksamkeit war auf ihren Vater und auf Rohden gerichtet, und auf die drei Officiere, die zusammengestanden und angelegentlich mit einander geredet hatten. Die Blicke der Drei waren manchmal verstohlen auf sie gerichtet gewesen; man sprach also von ihr. Es waren keine freundlichen Blicke gewesen. Was sollte ihr auch aus jenem Kreise Gutes oder Wohlwollendes kommen? Besonders von dem deutschen Verräther! Sie wahrte um so sorgsamer und ängstlicher mit ihren Augen den Vater und den Geliebten – denn ihr war Rohden der Geliebte ihres Herzens.

Für den Vater hatte sie eine besondere Sorge. Sein plötzlicher hastiger Einschluß, zu dem Balle zu gehen, hatte sie stutzig gemacht. Er war dann in einer fortdauernden, oft zerstreuten und oft wieder tief ängstlichen, scheuen Unruhe geblieben. Dabei war er stumm, verschlossen. Die Worte, die er gesprochen, hatten nur zur Eile getrieben. Er hatte etwas vor. Es mußte wichtig, entscheidend, gefährlich sein. Sie suchte vergebens zu errathen, was es sein könne. Auf dem Balle hatte er sich zusammengenommen, aber sogleich, nachdem er gesehen, wie der Oberst mit wohlwollender, fast ehrerbietiger Höflichkeit seine Tochter zum Tanze führte, hatte er den Saal verlassen. Er war still fortgegangen, wie um nicht bemerkt zu werden, und wie in der Meinung, als werde er nicht bemerkt. Elvire hatte ihn wohl gesehen. Sie durfte ihr inneres Erbeben nicht verrathen. Der Tanz war zu Ende. Der Oberst hatte sie zu ihrem Platze zurückgeführt. Sie winkte mit den Augen Rohden zu sich.

„Mein Vater ist fortgegangen.“

„Ich habe es gleichfalls gesehen.“

„Sie wissen nicht, wohin?“

„Ich suche es vergebens zu errathen.“

„Er hat etwas vor.“

„Es schien so.“

„Etwas Unglückliches.“

„Fürchten wir nicht gleich Schlimmes.“

„Melanie! Sie war mir lange die Kassandra, der ich nicht glauben wollte. Heute drückt mich jedes ihrer Worte centnerschwer.“

„Verlieren Sie nicht Ihren Muth, Elvire. Ich werde nachsehen, wohin Ihr Vater gegangen ist.“

Sie mußte von neuem erbeben. „Auch Sie wollen mich verlassen?“ schwebte es ihr auf den Lippen. Sie drängte die Worte zurück. Sie hätte Mittheilung über die heimliche Unterhaltung und die feindlichen Blicke der drei Officiere machen müssen, und sie wollte den Geliebten ohne Noth weder aufregen, noch beunruhigen.

„Bleiben Sie nicht zu lange,“ bat sie ihn.

Er ging und kam nach kurzer Zeit zurück. Er hatte keine Nachricht. Niemand hatte den Greis gesehen. Er war um so besorgter. Auch Elvire wurde es.

„Aber,“ ermahnte er, „lassen Sie uns keine Unruhe zeigen. Sie würde die Abwesenheit Ihres Vaters auch den Andern auffallend machen, und er wollte sich unbemerkt entfernen.“

Er trat von der jungen Dame zurück. Sie sollte nicht lange mehr grübeln können, was ihr Vater vorhaben, was ihn betroffen haben möge.

„Melanie!“ hatte sie gesagt, „sie ist mir heute keine Kassandra mehr, der ich nicht glauben wollte.“ Und sie hatte an das Unglück geglaubt. Es nahete sich ihr.

Der deutsche Edelmann in der Uniform des französischen Officiers schritt auf sie zu. Sie sah ihn kommen. Sie konnte sich auch nicht darüber täuschen, daß er mit einem bösen Vorsatze zu ihr kam. Er zeigte eine süße Freundlichkeit. Sie hatte vorher die feindlichen Blicke gesehen und war auf Alles gefaßt. Sie hatte sich gegen Alles mit ihrer klarsten Ruhe bewaffnet.

„Mein Fräulein, dürfte ich Sie unterthänig um diesen Tanz bitten?“

„Mein Herr, ich danke Ihnen. Ich werde heute nicht mehr tanzen.“

„Aber Sie tanzten schon, mein Fräulein.“

„Darum sagte ich, daß ich nicht mehr tanzen würde.“

„Und aus welchem Grunde würden Sie nicht mehr tanzen?“

Eine leise Rölhe des Zorns stieg doch in ihr Gesicht.

„Mein Herr, ich würde als Herr mich nicht berechtigt glauben, eine Dame so zu drängen.“

Er warf seine freundliche Höflichkeit von sich, um näher zu seinem Ziele zu kommen.

„Mein Fräulein, Sie versagen mir den Tanz, unmittelbar nachdem Sie mit dem Herrn Obersten getanzt haben. Die Welt wird darin eine Beleidigung für mich finden.“

„Ich wüßte nicht, wie das sein könnte.“

„Dem subalternen Lieutenant glauben Sie es bieten zu können.“

Sie konnte lächeln.

„Mein Herr, ich glaube, die jüngern Officiere sind bei allen Damen die bevorzugten Tänzer.“

„Aber dem Deutschen wagten Sie es zu bieten.“

Da schlug dennoch, allen ihren Vorsätzen zum Trotze, die helle Flamme des Zornes in ihr schönes Gesicht. So manches Gefühl mußte mit voller Lebendigkeit, mit voller Gewalt in ihr erwachen.

„Sie haben mich herausgefordert, mein Herr,“ sagte sie. „So erfahren Sie denn von mir die Wahrheit. Ich kann hier heute Abend nicht tanzen, weil ich als deutsches Mädchen, und ich bin ein deutsches Mädchen, für einen Triumph Fremder über Deutsche nur Schmerz und Trauer habe. Ich kann mich überhaupt nicht der Freude hingeben, in dem Gedanken, daß in diesem Augenblicke ein ungeheueres Schlachtfeld mit Tausenden von Leichen und von armen, wimmernden, verwundeten Menschen bedeckt ist, die den Tod erflehen, um von ihren Leiden und Qualen befreit zu werden. Aber, mein Herr, hielte mich das Alles auch nicht zurück, Ihnen, wissen Sie es, Sie müssen es aus deutschem Munde hören, Ihnen, einem Manne, der, anstatt zur Hülfe, zur Befreiung seines deutschen Vaterlandes zu eilen, dem Feinde seines Vaterlandes seinen Arm, seinen Degen weihet, nein, in schnödem Fremdendienste sich selbst entweihet, einem solchen Menschen nur die Spitze meines Fingers zu reichen – es wäre eine Entehrung für mich!“

Sie hatte sich nicht mehr mäßigen können. Sie hatte sich so lange zusammennehmen, Alles, was an schönem, edlem, deutschem Gefühl in ihr war, gewaltsam zurückdrängen, der persönlichen, frechen Beleidigung, die ihr drohte, die ihr wurde, Ruhe und Selbstverleugnung entgegen setzen müssen. Sie konnte es nicht mehr; das Band zerriß, mit dem sie sich eingeschnürt hatte, und als es einmal zerrissen war, mußte Alles heraus, was sie auf dem Herzen hatte. An das, was folgen werde, dachte sie nicht mehr, konnte sie nicht denken. Sie war Weib – ein großherziges, edles Weib.

Der Offcier stand vernichtet. Er hatte angreifen wollen; er war angegriffen, und wie er angegriffen war, war er besiegt, geschlagen, zerschmettert. Das Mädchen hatte laut gesprochen. Nicht blos die Damen in ihrer Umgebung hatten ihre Worte gehört, auch Herren, die in der Nähe standen. Er war kreideweiß geworden. Eine furchtbare Wuth kochte in ihm. Er konnte keinen Entschluß fassen. Nur Eins wollte er, konnte er wollen. Aber konnte er es ausführen? Durfte er, als Officier, öffentlich eine Dame mißhandeln? Er hatte dennoch den Arm, die Hand erhoben. Die Wuth stieg in ihm. Ein Moment, und er wußte nicht mehr, was er that.

Da trat Jemand auf ihn zu. Der Advocat Rohden hatte Elvire nur einen Augenblick aus den Augen verloren, um sich [804] nach ihrem Vater umzusehen; zwischen den Beiden war seine Aufmerksamkeit getheilt. In dem Augenblicke hatte der Officier mit der Dame gesprochen. Als er zurückkehrte, sah er das hocherröthete Gesicht Elvire’s, das kreideweiße des Officiers. Er wußte, was geschehen war. Er eilte zu den Beiden. Er stellte sich vor den Officier, ruhig, kalt, muthig, stolz.

„Mein Herr, wünschen Sie von der Dame etwas? Ich stehe Ihnen zu Diensten.“

Die Wuth des Officiers hatte ihren höchsten Grad erreicht. Sie hatte ein Ziel, das sie angreifen durfte, das sie glaubte angreifen zu dürfen. Seine Hand fuhr an seinen Degen. Rohden war unbewaffnet. Eine fremde Hand legte sich fest auf die Hand des Herrn von Aschersleben.

„Herr Lieutenant, keine Handlung der Ehrlosigkeit.“ Der Oberst des Regiments sagte es kurz, gemessen, befehlend. Er war der bessere Franzose, dieser Oberst, ein Mann der ritterlichen Ehre gegen den Einzelnen, der freche, höhnende, übermüthige Unterdrücker gegenüber einem fremden Volke.

Der Lieutenant von Aschersleben stand einen Augenblick unbeweglich.

„Sie werden mir Genugthuung geben, mein Herr,“ sagte er dann zu Rohden.

„Jede, mein Herr!“

Der Officier entfernte sich. Der Oberst wollte ihm folgen, wurde aber aufgehalten. Ein Adjutant, derselbe, der vorhin die Officiere zum Kriegsgerichte commandirt hatte, war in den Saal getreten. Sein Gesicht zeigte Bestürzung. Er eilte auf den Oberst zu. Er sprach heimliche, flüchtige Worte zu ihm. Der Oberst erschrak sichtlich.

„Der Gefangene?“ hörte man ihn rufen.

„Zu Befehl, mein Oberst.“

„Und der Herr Krajewski, sagen Sie?“

„Der Herr Krajewski.“

„Kommen Sie.“ Er verließ mit dem Adjutanten in größter Eile den Saal, Rohden hatte Elviren den Arm geboten, sie fortzuführen.

Sie konnten Beide nicht ferner bleiben. Seine Augen suchten auch ihren Vater. Da hörte er den Obersten den Namen Krajewski aussprechen. Er erbebte. Auch Elvire hatte ihn gehört.

„Mein Vater?“ rief sie. „Er ist nicht hier.“

„Wo ist er? Was ist mit ihm geschehen?“

Er wußte es so wenig wie sie.

„Lassen Sie uns eilen. Mein Vater! Was ist mit meinem Vater geschehen?“




5. Deutsche Ehre.

Die Hauptwache der Garnison war in der Mitte der kleinen Stadt. Sie lag neben dem städtischen Rathhause. In dem Rathhause selbst war das Militairgefängniß. Es befand sich im Erdgeschosse des nicht besonders großen Gebäudes und bestand aus einer einzigen Zelle, zu der ein schmaler Gang führte. Es war in der eilften Stunde der Nacht. Vor dem Gange, der zu der Zelle führte, ging eine Schildwache auf und ab. Eine zweite Schildwache war in dem Gange. Eine dritte hörte man draußen unter dem Fenster der Zelle in ihrem langsamen, einförmigen Schritt hin und hergehen.

Die Schildwache in dem Gange war nicht allein. Eine trübe Lampe brannte an der Mauer des Ganges. In ihrem Scheine sah man einen alten Mann, der unmittelbar vor der starken, mit Eisen beschlagenen Thür des Gefängnisses auf einem Stuhle saß. Er war eine noch immer kräftige, gedrungene Figur, ein starkknochiges Gesicht mit einem großen, grauen Schnurrbart. Der Mann war unverkennbar ein ehemaliger Soldat. Jetzt trug er eine Art von Civiluniform, wie städtische Gefangenwärter sie zu tragen pflegten. Er sah mürrisch, verdrießlich aus, man konnte sogar Spuren des Kummers in dem alten, eisenfesten Soldatengesichte zu entdecken meinen.

Es hatte kurz vorher die Ablösung der Schildwachen stattgefunden. Der alte Gefangenwärter sah den neuen Posten an, freilich ohne besondere Theilnahme oder Neugierde. Die Zeit mochte ihm wohl lang werden, trotz seines Mißmuthes, und er wollte sich den Soldaten ansehen, ob er mit ihm plaudern könne. Vielleicht hatte er auch etwas Besonderes auf dem Herzen.

Der Soldat war ein noch sehr junger Mensch, wahrscheinlich ein Rekrut noch. Wie viele Menschen aus dem weiten französischen Reiche hatte der russische Feldzug, und dann wieder der Krieg in Deutschland hingerafft! Frankreich mußte immer neue Opfer liefern; Knaben, die kaum zu Jünglingen gereift waren, mußten den Fahnen des Eroberers folgen, der jetzt freilich nur noch um seine Existenz, aber desto erbitterter kämpfte.

„Woher des Landes?“ redete der Gefangenwärter in gebrochenem Französisch den Soldaten an.

„Aus Nantes,“ antwortete französisch der Soldat.

„Ein Hund von einem Franzosen!“ knurrte der Gefangenwärter vor sich hin.

„Aber ich spreche deutsch,“ fuhr in deutscher Sprache der Soldat fort. „Und eben so gut wie französisch.“

Ein wenig heiterte das Gesicht des Gefangenwärters sich auf.

„So, mein Sohn? Und wo hast Du das gelernt?“

„Meine Eltern sind Deutsche. Mein Vater war der Unterthan eines deutschen Edelmannes, der arm war und Gelüste auf meines Vaters Vermögen hatte, und der daher meinen Vater wegen geheimer revolutionärer Verbindungen, wie es hieß, zur Untersuchung ziehen lassen wollte.“

„Der Edelmann, Bursch?“ fragte der Gefangenwärter.

„Nun ja. In Deutschland sind ja auch ein halbes Tausend Edelleute souveraine Landesherren.“

„Jetzt nicht mehr, mein Sohn.“

„So waren sie es doch früher.“

„Erzähle weiter.“

„Die Geschichte ist kurz. Mein Vater hatte keine Lust, zu warten, bis man ihm seinen Kopf und, worauf es am meisten abgesehen war, sein Vermögen nahm. Er suchte seine Sachen zusammen und ging mit Frau und Kind nach Frankreich, wo er Verwandte hatte und vor dem Hängen oder Köpfen und Confisciren der deutschen Edelleute sicher war.“

„Und sein Sohn,“ brummte der alte Gefangenwärter, „will jetzt das, was seinem Vater von dem deutschen Edelmanne geschehen ist, dem deutschen Bürger und Bauer entgelten lasten!“

„Habe ich das gesagt?“

„Du bist als französischer Soldat hier.“

„Bin ich es freiwillig? War ich nicht gezwungen? Und was wollen Sie denn? Sie sind auch ein Deutscher, und dienen hier eben so gut den Franzosen, wie ich, und sogar freiwillig.“

„Ich, Bursch?“ fuhr der Gefangenwärter auf. „Ich diene dem Magistrate dieser Stadt, und dies ist hier eine deutsche Stadt und ein deutscher Magistrat. Das Gefängniß hier –“

„Ja, das Gefängniß hier!“

„Das haben wir den Franzosen nur geliehen.“

„Um Deutsche darin zu bewachen. Der da drinnen ist ein Deutscher.“

„Was soll man thun?“

„Der arme Mensch wird verteufelt strenge bewacht.“

„Wer morgen erschossen werden soll, den läßt man heute Nacht nicht entlaufen.“

„Steht es wirklich so schlimm mit ihm?“

„Der Befehl von Paris ist da. Da geht es nicht anders.“

„Es soll ein preußischer Officier sein.“

„Ja.“

„Der arme Mensch thut mir leid.“

„Mir auch.“

„Und doch müssen wir Beide ihn bewachen!“

„Ja, Bursch, das geht so in der Welt. Das ist die Pflicht, an der ein ehrlicher Kerl festhalten muß. Die großen Herren wissen Gebrauch davon zu machen. So werden Deutsche gegen Italiener, Holländer und Italiener gegen Deutsche, und die Franzosen gegen Alle gebraucht. Nun, mit den Franzosen – Höre mein Sohn, Du hast doch Dein echtes deutsches Blut und Herz bewahrt?“

„Ich denke.“

„Und wenn Du könntest, Du dientest zehnmal lieber dem Könige von Preußen, um die Franzosen aus dem Lande zu jagen, als daß Du da den französischen Rock trägst?“

„Wahrhaftig, zehnmal, hundertmal lieber.“

„Das ist brav von Dir, und da kann man ein vernünftiges Wort mit Dir sprechen.“

[817] Nach einer Pause fuhr der Gefangenwärter zu dem Soldaten gewendet fort: „So höre denn zuerst, daß ich ein alter preußischer Unterofficier bin, der mit bei Jena focht, aber nicht zu den Ausreißern gehörte, sondern schwer verwundet für todt auf dem Schlachtfelde liegen blieb und wie durch ein Wunder gerettet wurde. Ueberhaupt lag es nicht an den Soldaten, daß die Schlacht von Jena verloren wurde und der brave König von Preußen mit Weib und Kind wie ein armer gehetzter Flüchtling in der Welt herum irren mußte. Die Soldaten haben sich tapfer und muthig genug geschlagen. Aber die Generale und Officiere, bis zu den Lieutenants, sie, die Edelleute, die auch Deinen Vater nach Frankreich vertrieben haben, die haben auch ihren König in das Unglück gebracht und aus seiner Heimath und aus seinem Lande vertrieben. Die Soldaten haben auch nicht alle die schönen, großen, starken Festungen ohne Schwertstreich und Kanonenkugel dem Feinde übergeben. Elende, feige, verrätherische, vornehme Generale waren es. O Bursch, wenn ich daran denke, dann läuft mir noch immer alles Blut zum Herzen, daß ich meine, das alte Ding müsse mir zerspringen. Das war eine allgemeine Nichtswürdigkeit – nur den alten Blücher nehme ich aus und noch einige Wenige, die gegen all das andere vornehme Pack nicht aufkommen konnten. Aber ich wollte von etwas Anderem sprechen; das Alter macht geschwätzig, und ich habe lange nicht frisch von der Leber weg reden können. Von der jetzigen Zeit, mein Bursch. Sieh, jetzt sind sie vernünftiger geworden in Deutschland, auch der König von Preußen. Auf die Edelleute und Junker, die ihn damals verrathen und feige im Stiche gelassen haben, verläßt er sich nicht mehr; das Volk, sein braves preußisches Volk hat er angerufen, und das Volk hat sich überall zu ihm gestellt, und wo es mit ihm erschienen ist, da haben sie die Franzosen auf das Haupt geschlagen. Junge Burschen, die seit sechs oder vier Wochen die Muskete trugen, haben die alten, tapfern Garden des französischen Kaisers geschlagen und vernichtet. Ja, mein Bursch, diese Landwehren retteten Preußen und Deutschland. Mit der Landwehr wäre der König im Jahre 1806 Sieger geblieben; mit der Landwehr wird er jetzt die Franzosen zum Lande hinaus jagen; mit seiner Landwehr wird Preußen immer unüberwindlich bleiben. Aber mit seinen Junkern ist es schon einmal vernichtet und wird es immer zu Grunde gehen. – Ja, mein Sohn, mit der Landwehr werden die Franzosen aus dem Lande gejagt werden. Jetzt, in den nächsten Tagen. Vielleicht sind sie jetzt schon geschlagen und auf der Flucht, in diesem nämlichen Augenblicke, wo sie hier mit Ball und Tedeum und großer Parade einen Sieg feiern, an den ich nicht glauben kann. Ich verstehe auch noch etwas von dem Kriegshandwerk, und ich habe die Zeitungen studirt. Da konnte Napoleon vorgestern in einem einzigen Tage eine solche Armee, wie sie ihm bei Leipzig entgegen stand, nicht vernichtet haben, und wenn er es auch durch noch so viele Couriere aller Welt hat ansagen lassen. Es war nicht möglich, und gib Du Acht, mein Sohn, übermorgen vielleicht schon sehen wir flüchtige Franzosen hier, und mit oder gar vor ihnen die Kosaken, die schon vor drei Wochen in Kassel waren. Ja, mein Bursch, dann wird es wieder ein anderes Leben in unserem Deutschland geben. Ueber die Freiheit, über einen freien Mann geht doch nichts.“

Das kräftige Gesicht des alten Mannes erglühte, als er ausgeredet hatte. Er hatte sich erhoben und stolz und muthig aufgerichtet. Er war eine kräftige, militärische Gestalt, trotzdem daß der linke Arm ihm gelähmt herunter hing. Der junge Soldat mußte ihn fast ehrerbietig ansehen. Auch in ihm war ein Feuer entzündet.

„Warum habe ich nicht dabei sein können?“ rief er.

„Das ist eben Dein Unglück, Bursch.“

„Auch der arme Mensch, den wir hier bewachen müssen, hat wohl diese Freiheit gewollt.“

„Es ist möglich. Dafür wird er morgen erschossen.“

„Und übermorgen wären seine Retter, seine Landsleute hier, zu denen er wollte?“

„Vielleicht morgen schon. Sie würden ihn dennoch vorher erschießen.“

„Sie sagen das so kalt, Herr Gefangenwärter?“

„Ich kann ihn nicht retten. Wie soll ich mich da für ihn ereifern? Und dann, Bursch – der arme Mensch kann nicht dafür – aber er trägt nun einmal den Namen eines jener Generale, die dem Könige seine Festungen verrathen haben, und ich sagte Dir schon, wenn ich an die Menschen denke, dann will mir das Herz im Leibe zerspringen.“

„Aber der arme Lieutenant ist doch unschuldig daran!“

„Ja, das ist er, aber –“

Ein Diener des Magistrats trat in den Gang und unterbrach den Gefangenwärter.

„Sie möchten einen Augenblick herauskommen.“

„Was gibt es?“

„Es will Sie Jemand sprechen.“

Der Gefangenwärter verließ den Gang. Er durfte es. Er war nur auf Befehl seiner vorgesetzten Behörde, des Magistrats, [818] da, und nur um danach zu sehen, daß auf Seite des Militärs in dem der Stadt gehörigen Locale Alles ordentlich hergehe. Draußen vor dem Gange stand ein hoher tief in einen Mantel gehüllter Mann vor ihm.

„Folgen Sie mir wenige Schritte,“ sagte der Mann.

Er ging hierauf sogleich aus dem Gebäude auf die Straße.

In der dunkeln Straße blieb er stehen. Der Gefangenwärter war ihm gefolgt. Der Mann wandte sich zu ihm zurück.

„Sie bewachen einen Gefangenen, der morgen erschossen werden soll?“

„Ja.“

„Er ist ein preußischer Officier?“

„Ich weiß es.“

„Können Sie ihn retten?“

„Ich?“

„Sie können. Wollen Sie es?“

„Ich weiß nicht, Herr, was ich Ihnen darauf antworten soll.“

„Sie kennen mich?“

„Sie sind der Herr Krajewski.“

„So nenne ich mich. Sie waren früher preußischer Unterofficier?“

„Das war ich.“

„Sie wurden am 14. October 1806 bei Auerstädt schwer verwundet?“

„Ich lag für todt auf dem Schlachtfelde.“

„Neben Ihnen lag ein eben so schwer verwundeter Officier?“

„Er war ein preußischer Hauptmann.“

„Nach dem Hauptmann wurde gesucht. Er wurde gefunden. Man wollte ihn fortbringen. „Es liegt noch ein schwer Verwundeter in der Nähe,“ sagte er, man solle auch den retten. Er meinte Sie. Sie lagen schwach, halb ohnmächtig da, hatten kein Zeichen des Lebens mehr von sich geben können. Man suchte Sie, fand noch Leben in Ihnen und nahm Sie mit. So wurden Sie gerettet. Jenem Hauptmann verdanken Sie das Leben.“

„Was ist aus dem braven Mann geworden, Herr?“

„Er ist jetzt Oberst und wird in diesen Tagen mit bei Leipzig gekämpft haben. Aber ein Verwandter, ein naher Verwandter von ihm ist in diesem Augenblicke hier.“

„Hier in der Stadt?“

„Sein jüngerer, einziger Bruder ist der Gefangene, der morgen von den Franzosen erschossen werden soll. Wollen Sie ihn retten? “

„Herr des Himmels!“ rief der erschütterte alte Soldat.

Aber er hatte nur noch einen Augenblick geschwankt.

„Herr,“ sagte er, „ich wäre nicht mehr werth zu leben, wenn ich ihn nicht rettete. Ich stehe allein in der Welt, ich habe nicht Weib und nicht Kind, und bin ein alter Kerl, an dem nichts mehr gelegen ist. Der Officier soll frei sein.“

„Wie?“ fragte ihn der Greis.

„Seine Zelle steht mit einem andern Gefängnisse in Verbindung, aus dem man in einen Hinterhof des Rathhauses gelangt.“

„Der Hof ist nicht bewacht?“

„Er ist unbewacht.“

„Und frei?“

„Ein unverschlossenes Seitenpförtchen führt in die freie Straße.

Nur die beiden Gefängnißthüren sind verschlossen.“

„Und wer hat die Schlüssel?“

„Ich. Folgen Sie mir, Herr. Ich schließe sogleich auf und überliefere Ihnen den Gefangenen.“

„Nicht so,“ sagte der Greis. „Sie geben mir den Schlüssel, Sie gehen auf Ihren Posten zurück und bleiben dort. Sie sollen keinen Augenblick in Gefahr kommen. Die Thüren schließe ich wieder ab und die Schlüssel gebe ich Ihnen zurück. Keine Spur wird den Weg anzeigen, auf dem der Gefangene entkommen ist. Auf Sie kann am wenigsten ein Verdacht fallen, da die Schildwache wird bezeugen müssen, daß Sie immer auf Ihrem Platze waren. Tragen Sie die Schlüssel bei sich?“

„Hier sind sie.“

„Wo liefere ich sie Ihnen zurück?“

„Legen Sie sie in jene Mauernische. Ich hole sie nach einer halben Stunde von da ab.“

„Gut.“ Der Gefangenwärter kehrte auf seinen Posten zurück. Der Greis ging mit den Schlüsseln in die Straße hinein. Das Rathhaus lag mit seinen kleinern Anbauten frei. An seinen beiden Nebenseiten liefen schmale Gassen. In eine dieser Gassen ging der Greis. Er kam an eine Mauer, in der sich ein kleines Pförtchen befand, das wiederum in einen kleinen dunklen Hof führte. Leise schritt er darüber hin, einem dunklen offenen Gange zu und fand bald eine Thüre, die er mit einem der Schlüssel öffnete. Er durchschritt die Thür und befand sich in einem engen Raume. Er mußte in dem Gefängnisse sein, das an der Zelle des Officiers lag, den er befreien wollte. Er fühlte umher und fand eine zweite Thür. Er versuchte auch sie zu öffnen. Der zweite Schlüssel schloß sie auf. Er hatte Alles leise, kaum hörbar gethan. Auch in der Zelle, die er aufgeschlossen hatte, herrschte völliges Dunkel. Er hörte Geräusch darin.

„Still!“ rief er leise hinein.

Das Geräusch hörte auf, er trat in die Zelle.

„Keinen Laut!“ sagte er zu dem Menschen, der in der Zelle war. Es war der Gefangene, den er suchte, den er befreien wollte. Die vollste Geräuschlosigkeit war nöthig. Unmittelbar unter dem Fenster des Gefängnisses ging eine Schildwache. Unmittelbar vor seiner verschlossenen Eingangsthür stand eine zweite. Man konnte hören, wie dort und hier der Sand unter ihren Füßen knarrte. Sie mußten jeden Laut in dem Gefängnisse hören können.

Der Gefangene hatte in einem Winkel der Zelle auf einer Pritsche gelegen. Er hatte sich erhoben und stellte sich dem dunklen, tief in den Mantel gehüllten Manne gegenüber, der zu ihm eingetreten war.

„Wer ist da?“ fragte er, aber leise, mit gedämpfter Stimme.

„Folgen Sie mir,“ sagte ihm der Greis. „Sie sind frei.“

„Und wer verkündet mir die Freiheit?“

„Folgen Sie mir.“

Da hatte der Gefangene die Stimme erkannt.

„Ihnen?“ sagte er. „Und Ihnen soll ich auch noch meine Freiheit verdanken?“ Seine Stimme zeigte Entrüstung, Entsetzen, Abscheu.

„Adalbert,“ entgegnete ihm eine bittende, eine schmerzlich und demüthig bittende Stimme, die Stimme des Greises, dessen hohe, gedrückte Gestalt sich tiefer beugte. „Adalbert, folge mir, ich beschwöre Dich.“

Aber der Gefangene trat zurück.

„Sprechen Sie nicht so zu mir. Nennen Sie meinen Namen nicht. Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen. Nie!“

„Adalbert! Adalbert!“

„Verlassen Sie mich. Ich will auch die Freiheit, das Leben nicht von Ihnen. Es wäre ein Leben der Schande, der Schmach.“

„Adalbert, kann ich gehen ohne Dich?“

„Ich habe nichts gemein mit Ihnen, mit einem Verräther seines Königs, seines Vaterlandes, seiner Ehre. Gehen Sie! Gehen Sie! Berühren Sie mich nicht. Ich darf Ihrer Schmach nicht theilhaftig werden. Ich will sterben als Mann von Ehre, als ehrlicher, preußischer Officier.“

„Und Melanie?“ rief die zitternde Stimme des Greises.

„Melanie?“ rief der Gefangene, und neues Entsetzen hatte ihn ergriffen, aber auch ein heftiger, gewaltsamer Schmerz war ihm mit dem Namen in das Herz gedrungen. „Melanie? Wo ist die Unglückliche? Lebt sie?“

„Sie lebt. Und um ihretwillen denn beschwöre ich Dich, folge mir, nimm Deine Freiheit, Dein Leben. Dein Tod würde sie wahnsinnig machen. Sie steht schon so nahe an dem Wahnsinn. Rette sie. Rette mein Kind, Deine –“

„Kommen Sie,“ sagte mit einem gewaltsamen Entschlusse der Gefangene. „Führen Sie mich zu ihr.“

„Folge mir.“

Der Gefangene folgte dem Greise. Sie gingen leise. Der Greis schloß die Thüren der beiden Gefängnisse ab. Die Schlüssel legte er in die Mauernische, die der Gefangenwärter ihm angezeigt hatte. Fand der Gefangenwärter sie dort – und er mußte sie finden – so war es unmöglich zu entdecken, in welcher Weise und auf welchem Wege der Gefangene befreit war. Der Greis führte den Befreiten zu seiner Wohnung vor der Stadt. Sie gingen schweigend. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Sie erreichten das einsame Landhaus. Der Greis trug den Schlüssel zu der Hausthür bei sich. Er schloß sie auf. Sie traten in das Haus, in das Wohnzimmer der Familie. Es war erleuchtet, aber leer.

[819] „Melanie wird in ihrer Stube sein,“ sagte oer Greis. „Ich führe sie hierher.“

Er wollte das Zimmer verlassen. Er hatte mit einer so sonderbar tonlosen Summe gesprochen. Der Befreite mußte ihn ansehen. Er sah ihn zum ersten Male in der Helle des Lichts. Erb lickte in ein entstelltes Gesicht; die Lippe des Greises zuckte; die Augen standen weit, aber glanzlos auf. Der junge Mann erschrak.

Er kämpfte mit sich.

„Onkel!“ rief er endlich. „Onkel, was ist Ihnen?“

Der Greis blieb stehen. Er wandte sich um. Sein Gesicht drückte den tiefsten menschlichen Schmerz aus.

„Was mir ist?“ sagte er langsam. „Ich wollte Dir das Leben retten; Du wolltest es von mir nicht annehmen. Du mußtest es von mir annehmen, um einer Anderen willen; Du hattest kein Wort des Dankes für mich.“

„Konnte ich?“ mußte der junge Mann ausrufen, und er rief es mit einem Schmerze, der vielleicht nicht zorniger war, als der des Greises.

Aber da beugte sich die Gestalt des alten unglücklichen Mannes noch tiefer, und mit einer Stimme, die kaum vernehmbar war, sagte er: „Nein, Du konntest es nicht. Ich bin und bleibe ein Elender, ein Verworfener.“ Er verließ das Zimmer.


6. Sühnung

Der Oberst hatte mit dem Adjutanten eilig den Ballsaal verlassen. Sie kamen bei der Hauptwache, bei dem Militärgefängnisse an. Die Zelle, in welcher man den vormaligen preußischen Officier gefangen gehalten hatte, war leer. Doch nein, nur der Officier war fort. An seiner Stelle waren drei andere Gefangene da, die beiden Schildwachen, die unmittelbar an der Zelle ihren Posten gehabt hatten, und der alte städtische Gefangenwärter. Der Officier der Runde hatte vor einer halben Stunde das Verschwinden des Gefangenen entdeckt. Er hatte sofort dem Adjutanten vom Dienste Mittheilung gemacht. Beide hatten die vorläufigen Anordnungen getroffen. Dann war dem Obersten Meldung gemacht worden.

Zugleich wurde ihm die auffällige frühe Entfernung des Herrn Krajewski vom Balle rapportirt.

Der Oberst untersuchte näher. Die Flucht blieb unerklärlich. Die sämmtlichen Schildwachen und der Gefangewärter waren auf ihren Posten gewesen. Keiner von ihnen konnte auch nur das Geringste über fas Entweichen angeben. Die sämmtlichen Schlüssel zu den Gefängnissen wurden in dem Besitze des Gefangenwärters gefunden. Keine Spur des Entweichens und des Entwichenen war zu entdecken. Nur Eins konnte vermuthet werden: ein complotmäßiges Zusammenhandeln des Gefangenwärters mit den beiden Schildwachen. Aber es war nicht anzunehmen. Sie verwickelten sich nicht in Widersprüche. Der Officier der Wache konnte zudem bezeugen, daß die beiden Schildwachen immer auf ihren Posten gewesen seien. Die Schildwachen bezeugten dasselbe von dem Gefangenwärter.

„So werden sie alle Drei büßen,“ entschied dennoch der Oberst. Seine Entscheidung brachte kein anderes Resultat. Die Schildwachen und der Gefangenwärter blieben bei ihren Aussagen. Die Entscheidung des Obersten war im strengsten Sinne des Worts sein Ernst. Ein ehrenhafter Mann, wie er in so manchen Dingen war, war er auch im Dienst ebenso strenge. Die Besonderheit des Falles und auch seiner Lage kam hinzu.

„Der Kaiser,“ erklärte er, „hat die Erschießung des Entflohenen befohlen. Er wird statt seines den Kopf des an seiner Flucht Schuldigen fordern. Ermittle ich keinen andern Schuldigen, so bin ich unschuldig es selbst.“

Das sahen Alle ein, denen er es erklärte. Die Flucht des preußischen Officiers war ein Ereigniß. Das Ereigniß war unter den Officieren schnell bekannt geworden. Auf dem Balle hatte die plötzliche Entfernung des Obersten mit dem Adjutanten schon Aufsehen gemacht. Die meisten Officiere des Regiments waren in der Hauptwache versammelt.

„Meine Herren,“ befahl der Oberst, „constituiren Sie sich sofort zum standrechtlichen Kriegsgericht. Der Schuldige wird zur Strafe des Erschießens verurtheilt. Kraft der mir vom Kaiser verliehenen Machtvollkommenheit werde ich das Urtheil sofort bestätigen. Es wird noch in dieser Nacht vollzogen. Gerade in gegenwärtiger Zeit muß ein Beispiel der Strenge aufgestellt werden. Wer weiß, welche Nachrichten uns schon morgen von dem Kriegsschauplatze ereilen!“

Das Kriegsgericht setzte sich auf der Stelle unter dem Vorsitze eines Kommandanten des Regiments zusammen. Der Oberst blieb stummer, finsterer Zuschauer. Er hatte nachher nur das Urtheil zu bestätigen. Die drei Angeklagten wurden vorgeführt. Der Adjutant des Regiments trug als Ankläger die Anklage vor. Er beantragte die Todesstrafe des Erschießens gegen alle Drei.

Da wollte der Gefangenwärter, der alte preußische Unterofficier, sich erheben. Zu welchem Zwecke, das sah man dem breiten, kräftigen Gesichte wohl an, wie es mit Ruhe auf die beiden jungen Rekruten an seiner Seite und mit Stolz auf die Richter blickte. „Das junge, unschuldige Blut soll um meinetwillen nicht vergossen werden,“ sagte das Auge des alten Soldaten, der dem Tode schon mehr als einmal ruhig in das Gesicht geblickt hatte.

Das wollte er laut sagen. Ein Anderer kam ihm zuvor. Auch eine alte Soldatengestalt, aber nicht stolz, sondern tief niedergedrückt, nicht mit dem klaren, ruhigen Muthe einer guten That, sondern mit dem entstellten Gesichte und dem scheuen Blick des Gefühls der inneren Zerrissenheit, der Schande, die nicht mehr leben läßt. So wurde von einer Schildwache der Greis hereinführt, der in dem Landhause vor dem Städtchen unter dem Namen Krajewski lebte.

„Der Herr hat dem Herrn Obersten eine Mittheilung zu machen,“ sagte die Schildwache.

Eine allgemeine Neugierde hatte den Greis empfangen. Der Oberst erhob sich. Sein Gesicht allein war unbeweglich geblieben.

„Was wünschen Sie, mein Herr?“ fragte er, kalt, stolz, mit einem verächtlichen, wegwerfenden Stolze.

Die Gestalt des Greises beugte sich tiefer.

„Ich vernehme,“ sagte er, daß hier ein Kriegsgericht gehalten wird gegen Personen, die einen gefangenen fremden Officier befreit haben sollen. Die Angeklagten sind unschuldig. Ich habe den Gefangenen befreit, ich allein. Ich bin der allein Schuldige.“

Die Versammlung sah mit einem unverhohlenen Erstaunen auf ihn. Nur der Oberst blieb wieder unbeweglich.

„Ihre That überrascht mich nicht,“ sagte er mit jener stolzen Verachtung. „Wer einmal an seiner Ehre, wer an seinem Fürsten und Kriegsherrn zum Verräther werden, wer einen edlen Namen, die hohe Stellung eines Generals beschimpfen konnte –“

Den Greis hatte es furchtbar durchzuckt. Er mußte sich gewaltsam aufrechthalten. Dann konnte er sich noch einmal erheben, hoch, stolz vor dem fremden Officier. Es konnte noch ein Stolz in ihm sein, noch einmal, in der letzten Stunde seines Lebens.

„Mein Herr,“ sprach er strenge. „Sie sind hier mein Richter, aber Ihnen steht nicht das Recht zu, mich zu schmähen.“

„Sie haben Recht,“ sagte der Oberst mit seiner schneidenden Kälte. „Wenden Sie sich an das Kriegsgericht dort.“

Er setzte sich ruhig wieder hin. Der Greis wiederholte vor dem Kriegsgericht sein Bekenntniß. Er gab alle Einzelnheiten an, die es glaubwürdig machen mußten. Nur darüber, woher er die Schlüssel zu den geöffneten Gefängnissen erhalten habe, verweigerte er entschieden jede Erklärung. Der alte Gefangenwärter wurde wohl unruhig dabei; aber der Greis warf ihm befehlende Blicke zu schweigen zu. Die Richter blickten den unruhigen alten Mann wohl fragend an; aber ihnen befahl der Oberst kurz: „Es ist genug!“

Es verblieb bei dem Bekenntnisse des Greises. Das Verfahren war kurz. Das Gericht verurtheilte ihn zum Tode. Die anderen Angeklagten wurden freigesprochen.

„Ich bestätige das Urtheil im Namen meines Kaisers!“ sprach finster, mit fester Stimme der Oberst.

„Das Urtheil werde vollzogen!“ befahl der Vorsitzende oen Gerichts.

„Auf dem Platze vor der Hauptwache,“ befahl der Oberst. „Kann auch das Volk in dieser Mitternachtstunde nicht unmittelbarer Zeuge sein, das Krachen unserer Gewehre soll ihm doch verkünden, wie der Verrath bestraft wird. Die Wache trete unter das Gewehr und erfülle ihre Pflicht.“

Zwei Soldaten führten den Greis hinaus. Er ging stolz in ihrer Mitte. Dies war sein letzter Stolz, der Stolz, daß er ergeben ein furchtbares Schicksal lange ertragen habe, daß er es in einer Weise ende, würdig des Edelmanns und des Generals. Der [820] Adjutant des Regiments war ihm gefolgt. Der Officier der Wache war vorausgeschritten. Nach einer Minute hörte man draußen ein halblautes Commando. Die Soldaten der Wache traten unter das Gewehr. Noch einmal wurde commandirt. Zwanzig Schüsse fielen wie einer.

„Es ist geschehen,“ sagte der Oberst zu den Officieren, die mit ihm zurückgeblieben waren. „Der Tod sühnt Alles, selbst seine That. Dieser Mann, meine Herren – erfahren Sie es, damit Sie ein Beispiel sehen, wie Verrath und Feigheit sich bestrafen – dieser Mann, Edelmann und Soldat – ich nenne seinen Namen nicht – war einer von jenen Generalen, die nach der Schlacht von Jena schmachvoll die Festungen ihres Königs übergaben.“




Der Advocat Rohden und Elvire Krajewska waren an dem einsamen Landhause vor der Stadt angelangt. Es lag in nächtlicher Ruhe vor ihnen. Nur das Wohnzimmer war erleuchtet. Sie hatten es erwarten können.

„Der Vater wird da sein,“ sagte Elvire, und ihre Angst strafte ihre Hoffnung Lügen.

Die Hausthür war unverschlossen. Sie gingen in das Haus und traten in das Wohnzimmer. Melanie war da. Sie war bleicher, als je. Aber ihr Gesicht war nicht von wilder, heller Gluth durchflogen, und der Blick ihrer Augen bohrte sich nicht stechend in einen Winkel und irrte nicht mit dunkelglühendem Feuer wirr umher. Ein mildes, wenn auch zum Sterben mattes Lächeln umspielte ihre feinen Lippen, und ein klarer, stiller Glanz hatte ihre schönen Augen erhellt. So saß sie an der Seite eines hoben jungen Mannes, der sie mit seinen Armen umschlungen hielt und tief und trauernd in das Gesicht sah, das dem Gesichte einer Sterbenden, einer glücklich Sterbenden glich. Sie hatten sich wiedergefunden, die beiden Liebenden, nach siebenjähriger Trennung, nachdem keines von ihnen in dieser ganzen langen Zeit nur ein einziges Mal die Hoffnung gehabt hatte, daß das Auge des Einen jemals werde wieder in das Auge des Anderen blicken können. Sie durften sich liebend wieder in die Augen sehen, sie durften in alter Liebe wieder die Herzen an einander schlagen lassen. Auch in der alten Hoffnung?

Der preußische Officier, den der Greis befreit hatte, war der Neffe des Generals. Er und seine Cousine Melanie waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten früh einander geliebt. Ihre Liebe war die innigste, herzlichste, sie war wie der Nerv und das Blut ihres Lebens in ihre Herzen hineingewachsen. Die Eltern hatten den Bund ihrer Herzen gesegnet. Da kam der unglückliche Tag von Jena. Ihm folgten die schmachvollen[WS 1] Tage jenes Verraths und jener Feigheit preussischer Generale, die kaum ein edler hochherziger Tod wieder sühnen konnte. Der Neffe, der Verlobte seiner Cousine, selbst Officier, Adjutant seines Oheims, nannte den General einen Ehrlosen, warf ihm seinen zerbrochnen Degen vor die Füße, und entfloh einer Liebe, die er seiner Ehre opfern mußte.

Er suchte den Tod in den Schlachten von Eulau und Friedland, später in dem Schill’schen Corps. Er fand nicht den Tod, aber eine furchtbare Gefangenschaft in den französischen Bagno’s. Er ertrug sie. Was sollte er in der Heimath? Die Liebe war ihm verloren; sein Vaterland war von Fremden geknechtet. Da hörte er von dem Wiedererwachen des Geistes der Freiheit in dem deutschen Volke, von den Kämpfen, um die Freiheit des Vaterlandes wiederzuerobern, die fremden Unterdrücker wieder zum Lande hinauszujagen. Es litt ihn nicht mehr in den fremden Fesseln. Für sein Leben war wieder ein Ziel, ein hohes, edles Ziel da. Er setzte sein Leben an seine Freiheit, um es dann an die Freiheit seines Vaterlandes zu setzen. Er entkam. Er wurde wieder gefangen im letzten Momente. Er wurde wieder befreit von jenem Manne, an den die heiligsten Bande ihn fesselten, den er einen Ehrlosen genannt hatte, hatte nennen müssen, von dem er die Freiheit nicht hatte annehmen wollen, dem er für sein Leben nicht hatte danken können.

Er fand die Geliebte wieder. Der Vater selbst hatte sie zu ihm geführt. Die Ueberraschung hatte sie nicht gebrochen, nicht den Körper, nicht ihren Geist. Ihr Körper war schon längst in seinem Lebenskeime zerrüttet. Aber in der Nähe des Verlobten zog auf einmal eine mächtige Kraft des Willens in ihre Brust ein, der ihr den Körper aufrecht hielt und den Geist erhob. Nur wenige Minuten konnte der Geliebte bei ihr weilen, er sollte sie stark und kräftig finden. Sie erlag nicht den Anstrengungen, die es sie kostete.

So fanden Elvire und Rohden sie. Elvire hatte das Unglück ihrer Schwester gekannt, aber nicht seine Veranlassung. Sie war zu jener Zeit ein Kind gewesen, der man die Schande ihres Vaters hatte vorenthalten können. Man hatte sie später sorgsam davor gehütet, sie zu erfahren. Sie erfuhr durch flüchtige Worte die Wiederkehr und die nochmalige Befreiung des Geliebten ihrer Schwester. Die Angst des jungen Mädchens um den Vater vermehrte sich.

„Wo ist der Vater?“ rief sie.

„Was ist mit meinem Vater geschehen?“ waren ihre letzten Worte gewesen, als sie den Ball verließ. Er war auch im Hause nicht.

„Er verließ mich,“ sagte die ältere Schwester, „nachdem er mir Adalberts Ankunft angekündigt und mich hierher geführt hatte. Ich glaubte, er würde zu Dir zurückkehren.“

„Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Es ist ihm ein Unglück begegnet. Du selbst, Melanie, hattest es verkündet –“

Da – war es die Aufregung der Schwester, war es etwas Anderes – auf einmal flog wieder die wilde Fiebergluth durch das Gesicht der ältern Schwester. Sie riß sich aus den Armen des Geliebten. Ihre Augen starrten in den dunkeln Winkel. Dann sprang sie auf. Ein fürchterlicher Schrei entriß sich ihrer Brust.

„Er ist todt!“ schrie sie auf. „O, sie tödten ihn, ich sehe es, ich sehe es! Vorbei – vorbei, eine Leiche!“

Sie fiel, selbst einer Leiche ähnlich, in die Arme des Geliebten.

„Die Unglückliche!“ sagten die Anderen. Aber sie standen doch erstarrt um sie her.

Und wenige Augenblicke später trat, gebeugten Hauptes, das durchfurchte Gesicht voll Thränen, ein alter Mann in das Zimmer.

„Herr,“ sagte der alte Gefangenwärter zu dem jungen Officier, „mans sucht Sie. Kommen Sie mit mir. Ich führe Sie sicher über die Grenze.“

„Und mein Vater?“ rief die jüngere Schwester ihm zu.

Der alte Mann beugte das Haupt tiefer.

„Er gab sich selbst als den Befreier des Herrn an. Sie verurteilten ihn zum Tode, und –“

„Und haben ihn erschossen?“

„Ich hörte die Schüsse, als ich die Stadt verließ.“

Elvire war in Ohnmacht gefallen.

„Ewiger, gerechter Gott!“ rief entsetzt der junge Officier.

„Und ich habe ihn in den Tod gejagt! Für mich mußte er sterben!“

Melanie’s Geist war wieder klar erwacht. Jener Anfall war der letzte ihres Lebens gewesen. Sie hatte die Worte des Gefangenwärters gehört.

„Nicht für Dich, Adalbert,“ sprach sie klar und ruhig. „Für seine Ehre ist er gestorben. Für seine Ehre mußte er sterben, jetzt, gerade jetzt. Der Feind wird aus dem Lande vertrieben, überall wird Deutschland wieder frei. Wohin sollte er dann? Hier hatte er in der tiefsten Verborgenheit ein Asyl gefunden. Morgen, übermorgen oder später, wenn siegreich unsere Truppen hier einrücken, war es für ihn verloren. Sollte, konnte er ein neues aussuchen? War nicht Alles, jeder Sieg unserer Waffen, Deutschlands Freiheit und Deutschlands Ruhm, für ihn – laßt mich das Wort aussprechen – das arme Kind dort in seiner glücklichen Ohnmacht hört es ja nicht – war nicht Alles seine Schmach, seine Vernichtung? Er ist für seine Ehre gestorben. Wohl dem Unglücklichen! – Geh Du jetzt, Adalbert. Wir sehen uns wieder, wenn auch nur bei ihm. Denn Dir wird ein langes Leben voll Ruhm blühen, und ich – Aber geh, geh!“

Sie reichte ihm die Hand. Er preßte einen heißen Kuß auf ihre bleichen Lippen. Dann ging er, und seine Thränen fielen vor ihm nieder. Der alte Gefangenwärter folgte ihm. Als er fort war, gab die Kranke dem Advocaten die Hand.

„Rohden,“ sagte sie, „das Unglück dieses Hauses ist kein Geheimniß mehr für Sie. Es hat sich erfüllt. Es ist gnädig an diesem armen Kinde vorüber gegangen. Machen Sie sie ganz und immer glücklich. Lassen Sie sie nie erfahren, was Sie heute hier vernommen haben. Sie erwacht, trösten wir sie!“

Waren auch jene Worte der Unglücklichen nicht die Worte einer Seherin, sie gingen in Erfüllung. Schon am folgenden Tage ging die Nachricht von dem vollständigen Siege der Verbündeten über Napoleons Heerschaaren bei Leipzig ein. Die mit einer Hast sonder Gleichen fliehenden Trümmer der großen französischen Armee zogen auch das Regiment des Städtchens in ihre wilde Flucht [821] hinein. Unmittelbar nachher waren schon die überall umher schwärmenden Kosaken da. An ihre Privathändel hatten die französischen Officiere nicht mehr denken können.

Wenige Wochen später langten preußische Truppen auf ihrem Zuge nach Frankreich an. Unter ihnen war der Officier, den sein Onkel mit seinem eigenen Leben befreit hatte. Er war Führer eines Bataillon’s der tapfern preußischen Landwehr. Er konnte nur einen Tag in dem Städtchen sich aufhalten, und nur um eine schwere Pflicht zu erfüllen. Er geleitete die sterblichen Reste Melanies zum Grabe. –

Der Advocat Rohden hat Elvire glücklich gemacht. Ihr Vetter – er hat eine lange Bahn der Ehre und des Ruhmes durchschritten, wie die Geliebte es ihm verkündet hatte. Er ist vor wenigen Jahren gestorben, nachdem er unvermählt geblieben war und den Namen, den der Oheim mit Schmach bedeckt, wieder hoch zu Ehren gebracht hatte. Auch wir wollen heute diesen Namen nicht nennen.

Wie dem deutschen Vaterlande von Westen her wieder neue Erniedrigung drohen darf – der tapfere Degen hat es nicht mehr erlebt. Wohl ihm! Möge das deutsche Volk dafür einstehen, daß wir diese Erniedrigung nicht erleben.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: schmachvolle