Die weißeste Stadt der Erde
[67] Die weißeste Stadt der Erde ist nach dem Zeugnis des bekannten Reisenden Ernst von Hesse-Wartegg die südspanische Hafenstadt Cadiz. „Etwas Weißeres,“ sagt er in seiner Schrift „Andalusien, eine Winterreise durch Südspanien“ (Leipzig, Reißner), „kann es einfach nicht geben, es müßte denn eine Stadt aus Schneeballen gebaut werden. Wir kamen nach Cadiz auf einem der kleinen, zwischen den spanischen und marokkanischen Häfen verkehrenden Lokaldampfer. Sechs Stunden mochten wir auf den blauen Meereswogen getanzt haben, als plötzlich gegen Osten, anscheinend gerade wie wir auf den Wogen schwimmend, eine weiße Masse sichtbar wurde. ‚Ein Eisberg, ein Eisberg!‘ so riefen meine amerikanischen Reisegefährten, denen der Anblick dieser Sendboten aus den Polarmeeren an den atlantischen Westküsten nichts Neues ist. Dort auf dem tiefblauen Meere, mit dem ebenso blauen leuchtenden Himmel als Hintergrund, erschien ein Eisberg in blendendster Weiße mit senkrecht aus den Fluten aufsteigenden Eismauern, die sich auf der Wasserfläche wiederspiegelten. Die Sonne hatte die Oberfläche teilweise abgeschmolzen, so daß Türme, Dome und Zacken aus ihr hervorstanden; aber nur im ersten Augenblick wurden wir so getäuscht, denn die weiße Masse im blauen Wasser war Cadiz, diese Lieblingstochter der Sonne. Niemals zuvor hatte ich irgendwo ein ähnliches Bild gesehen, höchstens als Fata Morgana in den Prairien oder den Llanos, wenn die heiße Luft über den weiten Ebenen zitterte und am Horizont entzückende Trugbilder von Seen und Städten hervorzauberte. Cadiz erschien wie eines dieser Trugbilder, so unmöglich weiß waren die Mauern, Türme, Dome, die direkt aus den Meeresfluten emporzusteigen schienen. Wir konnten kein Auge abwenden von diesem phantastischen Bilde. Keine andere Stadt, auch Venedig nicht, präsentiert sich vom Meere aus in so magischem Kleide, keine ist so übernatürlich, so seltsam wie dieser Haupthafenort des herrlichen Andalusien.“ †