Die zehnte Muse (Die Gartenlaube 1879/41)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Wilhelm Anthony
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die zehnte Muse
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 684–686
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[684]
Die zehnte Muse.
Ein Wort über die „fahrenden Leute“ des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Anthony.


In einem Zeitalter, welches an Entdeckungen und Erfindungen, an Umgestaltungen und Neuerungen so reich ist, wie das unserige, darf es kaum überraschen, wenn auch im Reiche der Musen Erscheinungen auftreten, welche in den älteren Mythologien völlig unbekannt waren. Bis auf die Neuzeit glaubte man an neun Musen vollauf genug zu haben, und selbst das „Volk der Dichter und der Denker“ begnügte sich mit dieser Zahl, bis es plötzlich mitten im Kreis der freundlichen Schwestern einen Eindringling gewahrte, der zu uns gekommen war wie das „Mädchen aus der Fremde“ und ohne Nachweis seiner legitimen Zugehörigkeit zu dem Reiche der Helikoniden sich mit dreister Ungenirtheit die Gerechtsame der einen oder andern darunter aneignete. Diese „zehnte Muse“, deren cynisches Lachen mit greller Dissonanz in die liebliche Harmonie des schwesterlichen Chores einbricht und deren frivole Haltung zu der holden Keuschheit der anderen „erfindenden Göttinnen“ gar übel contrastirt, diese zehnte Muse könnte man nach jener Atmosphäre von Tabaksduft, welche von ihr unzertrennlich ist, schlechtweg: Nicotina nennen.

Schon in dem Anfang dieses Jahrzehnts begann der mit seuchenartiger Geschwindigkeit sich ausbreitete Cultus der zehnten Muse, deren Tempel der Volkswitz mit dem seltsamen Namen „Tingeltangel“ taufte, ein Cultus, dessen Muster ohne Frage in den „cafés-concerts“ der Franzosen zu suchen ist. Die Ueppigkeit des „Fünf-Milliardenjahres“ förderte in unheilvoller Weise die Einführung jener neuen „Musentempel“ in Deutschland. Heute sind sie – schlimm genug! – für manches – nicht blos großstädtische – Publicum fast zum Bedürfniß und der auf sittlicher Basis stehenden Bühne zur bedrohlichsten Concurrenz geworden, letzteres, indem sie an Stelle der lauteren Heiterkeit und ernsten Anregung, wie das Theater sie bietet, jenen Sinnenkitzel setzt, dem der große Haufe leider nur allzu zugänglich ist. Die Vertreter der Bühne haben die drohende Gefahr längst erkannt und Maßregeln zu deren Abwehr bereits getroffen. Aber diese Angelegenheit ist keine bloße Theaterfrage, und mit jenen Gegenmaßregeln der Bühnenvorstände ist’s nicht abgethan. Alle Schichten der Bevölkerung haben ein Interesse daran, haben die sittliche und nationale Pflicht, dazu mitzuwirken, daß die Pseudomuse Nicotina in Zucht genommen, daß sie wenigstens der Möglichkeit beraubt wird, durch Eingreifen in die Rechte der legitimen Künste im Dienst der Frivolität und Liederlichkeit sich ihr Publicum zu sammeln und das Blut unseres Volkes zu vergiften.

Um dies näher zu begründen, wird es nöthig sein, die Künste des Tingeltangel nach den einzelnen Ressorts aufzuzählen. Beginnen wir mit den durch weibliches Personal vertretenen, so präsentirt sich uns zunächst das Fach der „Schleppsängerinnen“, welche auch meisthin den vocalen Theil des Programms eröffnen und die undankbare Aufgabe haben, das überaus ungenirte Publicum durch den Vortrag irgend einer allbekannten Spree-Arie in delicatester Weise darauf aufmerksam zu machen, daß man in diesem großen und luxuriös ausgestatteten Saale nicht ausschließlich des Bieres wegen versammelt sei. Der curiose Name „Schleppsängerin“ ist von der Kleidung dieser Damen, der Schlepprobe, entnommen; sie erscheinen stets in dem traditionellen Concertcostüm und versuchen die meist schon herbstliche Reife ihrer Schönheit in diesem auch in den besten Kreisen sanctionirten Costüm bestmöglichst zur Schau zu stellen. Nicht selten finden wir unter ihnen Sängerinnen von der Bühne, welche wegen zu kurzen Athems oder Gedächtnisses der Theatercarrière Valet sagen mußten. Ihre Vorträge beleidigen nie das Sittlichkeitsgefühl, oft freilich das musikalisch gebildete Ohr ihrer Hörer. Aehnlich bewegt sich in den Grenzen eines anständigen, wenn auch nicht gerade genußreichen Concerts die „Salonjodlerin“, die echte oder „imitirte“ Tiroler Sängerin, die im Costüme ihrer Heimath erscheint und deren neue Lieder mit dem bekannten Jodlerrefrain zum Besten giebt. Die Dritte im Bunde ist die „Soubrette“. Sie singt nicht nur Possencouplets vom ältesten Datum, sondern bisweilen auch allerlei „pikante Nouveautés“. Man bezeichnet dieses Fach auch mit dem Namen der „deutschen Chansonette“, und hiermit eröffnet sich dann die lange Reihe der kurzröckigen, oft im zwanglosesten Debardeurcostüm erscheinenden Liedersängerinnen aus allen Nationalitäten, welche dermalen die deutschen Tingeltangel mit ihrem meisthin geradezu abscheulichen Gequieke (die Engländerinnen sind darin die ärgsten) erfüllen. Der Text ihrer Couplets ist oft recht schlimm – ein Glück, daß die Mehrzahl ihn nicht versteht! Was aber Alle in dem tabaksqualmigen Salon verstehen, sind die unzweideutigen Gesten und die frivole Mimik dieser Hauptpriesterinnen der zehnten Muse, welche in Schamlosigkeit des Costüms wie des Gesanges oft Alles überbieten, was jede ernste Kritik der Schule Offenbach’s zum gerechten Vorwurf gemacht hat. Ueber den philologischen Nonsens der Fachbezeichnung „Chansonette“ (d. h. Lied und nicht Liedersängerin) mögen sich die Herren Etymologen nebenher noch die Haare ausraufen.

Unter dem männlichen Personal des Tingeltangel sei zuerst der Liedersänger erwähnt, meist ein haarbuschiger Geselle mit mächtiger Brüllstimme, der zu arrogant war, um das ehrliche Brod eines Choristen zu essen, und auch zu faul, um der weit anstrengenderen Berufspflicht im Theater gerecht zu werden. Außerdem bezieht er ja im Tingeltangel dreimal so viel „Gage“. Dasselbe Lockmittel hat auch manchen seiner Collegen aus dem Fach der „Komiker“ der Bühne untreu gemacht, allein die Coulissenwelt wird sich über diesen Abfall wahrlich gern und leicht trösten. Wer Unterschlupf im Tingeltangel sucht, gehörte selten zu den respektableren Elementen der Bühne, sondern lief aus Faulheit der zehnten Muse in die allzeit offenen Arme. Ganz wie die Chansonette in ihren Extravaganzen entsittlichend wirkt, so auch meisthin der burleske Komiker, dessen Couplets oft die Grenzen des Erlaubten ebenso überschreiten, wie seine Pantomimen.

Im Fache der Komiker giebt es übrigens der Unterabtheilungen gar viele. Da ist zunächst die niedrigste Gattung: der „Kellerkomiker“, eine Sorte von Acteurs, die in den kleinsten unterirdischen Tingeltangellocalen ihr Dasein fristet und sich selten zu den größeren Etablissements „über der Erde“ versteigt. Weit nobler ist der „Tanzkomiker“, der manchen ausrangirten Ballettänzer in seinem Corps aufweisen dürfte; sodann der „Negerkomiker“ (meisthin Engländer oder Amerikaner), welcher uns oft in recht charakteristischer, wenn auch etwas parodistisch-übertreibender Weise kleine komische Genrebilder aus dem südstaatlichen Negerleben vorführt. Das Genre ist überaus zahlreich und hat etliche Vertreter, die in ihrer drastischen Komik geradezu Vortreffliches leisten, ohne irgendwie zu verletzen. Auch der „musikalische Clown“, der oft eine ganz respectable Virtuosität auf den verschiedenartigsten Instrumenten, Kamm und Stiefelknecht mit eingerechnet, an den Tag legt, nimmt einen anständigen Platz ein. Das Gleiche gilt von dem „Salonkomiker“, der uns bisweilen Levassoriaden[1] in [685] prächtiger Maske vorträgt und in seinem ganzen Benehmen den Schliff des ehemaligen Bühnenkünstlers besserer Kategorie zur Schau zu tragen pflegt – oft ein Lieblingssohn des Unglücks, der wider Willen in diesem trüben Fahrwasser einen zeitweiligen Hafen suchen mußte.

Das Alles ist nebst eingestreuten Orchesterpiècen (nur in kleineren Localen werden die Vorträge durch ein Piano begleitet) von dem überfüllten Hause mit jubelndem Beifall aufgenommen worden; fünf-, sechsmaliger Hervorruf hat die Vorträge der Komiker und insbesondere der Chansonette belohnt und man ist allgemach auf der „Höhe der Situation“ angelangt. Ein Extragericht muß nun das pikante Mal würzen. Ein Ballet! Terpsichore mag sehen, wie sie mit der neuen Schwester im Musenreiche fertig wird.

Eine Pause tritt alsdann ein. Man zündet eine neue Cigarette an oder studirt die Speisekarte. In den Logen nehmen die Damen die Besuche ihrer Freunde entgegen, und der zwanglose Verkehr erleichtert die Anknüpfung von Bekanntschaften, welche so manchem Jüngling den schönen Jugendtraum schrecklich genug zerstört haben. Das ist die dunkelste Schattenseite des Gemäldes. …

Das Concert beginnt auf’s Neue. Die Feierstunde in den Comptoirs ist angebrochen; man merkt es an dem zahlreichen Nachschub der neu angekommenen Besucher, unter denen oft so ein bartlos-rosiges Gesicht mit staunenden Kinderaugen auftaucht, das dem Liede der verführerischen „Loreley“ zu lauschen kam, die seines Lebens kaum ausgelaufenen Kahn – wer weiß wie bald! – untergehen lassen wird in dem Strudel des Sinnenrausches. Hörst du nicht in deinem Herzen wie ein leises Echo aus früheren Tagen die warnende Stimme des Vaters; siehst du nicht in deinem Auge das bekümmerte bleiche Gesicht der längst geschiedenen Mutter?! Ach, diese guten Genien halten hier nicht Stand! Mit Sang und Klang und berückender Lust steigt vor dir eine neue Welt des Genusses auf und lächelnde Dämonen treiben den guten Genius deines Lebens höhnend von deiner Seite. …

Den zweiten Theil des Concertprogramms eröffnet eine sogenannte „Speciatität“, ein künstlerisches Unicum. Die stumpfe Schaulust, welche bunte Eindrücke gedankenlos empfangen will, findet hier vollauf ihre Rechnung, und gar Erstaunliches wird von der zehnten Muse oft in diesem Genre geboten.

Nicht blos die altbekannten Gaukeleien der Taschenspieler und Equilibristen, die uralten Vorführungen optischer Nebelbilder und dummer Pantomimen mit gliederverrenkenden Harlequins, sondern auch allerlei wirklich interessante Sehenswürdigkeiten werden hier producirt.

Und hier kommen wir auf ein Capitel von culturhistorischem Interesse. All die fragwürdigen Gestalten und dunklen Existenzen, die aus der brodelnden Tiefe jedes socialen Großstadtlebens als Blasen an die Oberfläche treiben, mögen dem psychologischen Roman jeweilig recht interessante Modelle liefern, im Uebrigen aber sind die Leistungen dieser leichtfertigen Geschöpfe, welche ihre Menschenwürde der zehnten Muse opferten, sehr überflüssiger Art. Anders verhält es sich dagegen mit jener Classe von „fahrenden Leuten“, die sich zumal in der „Gymnastik“ und in den damit verwandten Künsten produciren. Hier haben wir es mit sogenannten Künstlerfamilien, mit geschlossenen Sippen zu thun, die gar oft einen großen und regelrechten Stammbaum aufweisen können und ihre Kunstfertigkeit von Vater auf Sohn, von Sohn auf Enkel vererben. Interessant ist dabei die Thatsache, daß alle diese Ressorts der rein körperlichen Production, welche Kraft und Gewandtheit erfordern, fast ausschließlich ihre besten Vertreter aus dem englischen und amerikanischen und endlich aus dem deutschen Volke beziehen. Die verweichlichten romanischen Rassen fehlen hier; nur selten sehen wir einen Franzosen die waghalsigen Luftsprünge an dem hoch in der Luft fliegenden Trapez vollführen, selten einen Italiener oder Spanier die prächtigen Turnübungen produciren, welche man in der Kunstsprache des Tingeltangel „die Parterre-Arbeit“ nennt.

Vor drei bis vier Jahrzehnten – in unserer Jugend – sahen wir all diese Leute gar bescheiden und oft recht ärmlich auf freier Wiese oder offenem Marktplatze die Messen und Kirchweihfeste illustriren – „public arbeiten“ heißt dafür der Fachausdruck – und man nannte ihre Productionen „brodlose Künste“; heutzutage präsentiren sie sich in den elegantesten Etablissements, welche die zehnte Muse in unseren Hauptstädten besitzt, und beziehen ebenso große Gagen wie Heldentenor und Primadonna unserer ersten Hofbühnen. In diese Kunstgattung hat sich gleichsam der letzte Rest der gymnastischen Festspiele des Alterthums geflüchtet, welche in das Mittelalter hinübergerettet wurden und bei allen Hoflagern und großen Festlichkeiten des Thrones wie des Altars einen wesentlichen Theil der „Schau-Lustbarkeiten“ bildete. Auch der moderne Circus hat diesen Productionen längst seine Thore geöffnet, und wir gestehen offen unser Behagen an dieser Art Kunstleistungen, soweit sie nicht mit überwiegender Lebensgefährlichkeit verknüpft sind. Es ist ein schönes Schauspiel und wahrlich kein unsittliches, wenn diese herrlich gebauten Athletengestalten mit selbstbewußter Riesenkraft und bewundernswerther Beherrschung jeder Muskel ihre kühnen Productionen ausführen. Es ist die edle Turnkunst in ihrem Zenith, und deren Schaustellung kann, auf die Jugend zumal, nur guten Einfluß üben.

Das Privatleben der meisten dieser Künstler ist ein sehr erfreuliches. Sie halten sich nüchtern, reinlich und anständig, sind sparsam und führen fast alle ein wackeres und glückliches Familienleben. Was man von der „barbarischen Dressur der Kinder“ in diesen Kreisen erzählt, beruht meisthin auf Unkenntniß der wirklichen Verhältnisse. Die Kleinen werden freilich nicht verhätschelt, aber liebende Elternsorge überwacht ihre Uebungen, und das zärtlichste Verhältniß herrscht fast durchgehends in diesen Familienkreisen. Ganz besonders solid, sparsam und wacker in jeder Hinsicht hält sich der amerikanische Künstler und kehrt, wenn das Unglück ihn nicht vor der Zeit dem „Circustod“ weiht, meistens als „rangirter Mann“ in seine Heimath zurück, um dort ein bürgerliches Gewerbe in Ruhe zu treiben.

Die größeren dieser Künstlertruppen (sie beziehen oft zwei- bis dreitausend Mark monatlichen Gehaltes) bilden nicht blos die eigenen Kinder, sondern auch „Lehrlinge“ aus, die anfangs nur freie Kost, später aber, je nach ihren Leistungen, Antheil an der Gage erhalten. Der Häuptling der Truppe hat die vollste Autorität des Familienvaters. Fast täglich wird mehrere Stunden hindurch „geübt“, wobei stets die Aelteren den Jüngeren Unterricht ertheilen, sodaß förmliche Classen in diesen Exercitien entstehen. Die Gymnastik theilt sich in vier Ressorts; zwei davon, und zwar die vornehmsten dem Range nach, haben wir bereits erwähnt: die „Luft-“ und die „Parterre-Arbeit“; das dritte Ressort ist das der „Jongleure“ und das vierte das der „Equilibristen“.

In diesen beiden letztern haben die Japanesen fast unbestritten die erste Stellung. Der „Jongleur“ diente im Mittelalter dem Troubadour zur Begleitung, dessen Orchester er bildete. Im Laufe der Zeiten hat der Jongleur völlig „umgesattelt“; er spielt nicht mehr die Flöte, sondern – Fangball. Seine Objecte sind Messingkugeln, Flaschen, Eier, Teller, und wenn er es bis zur höchsten Stufe bringen will, haarscharfe Messer und glühende Feuerbrände, die er mit erstaunlicher Geschicklichkeit von einer Hand in die andere wirft, indeß sein Körper alle erdenklichen Stellungen annimmt, um die Schwierigkeit zu erhöhen.

Der „Equilibrist“ ist der Künstler des „Gleichgewichts“ und producirt die Balancirkünste entweder an leblosen Sachen oder an sich selbst, indem er auf rollender Kugel, die er mit seinen Füßen dirigirt, allerlei Kunststücke vollführt. Auch das „Drahtseil“, welches für die körperliche Balance das schwierigste Terrain bilden soll, wird dem „Equilibristen“ oftmals zum besonderen Schauplatz seiner Thätigkeit. Die beiden letztgenannten Kategorien setzen jahrelange, mühselige Studien voraus, und es ist für den Anthropologen sicher interessant, daß die Orientalen sowohl durch ihre größere innere Ruhe, wie zugleich durch ihre überlegene äußere Geschmeidigkeit in diesen Künsten die occidentalischen Collegen weitaus übertreffen. Dieser Vorrang wird von den Letzteren sogar dadurch anerkannt, daß die europäischen Jongleure, die sich halbwegs etwas fühlen, diese Kunststücke fast immer in japanesischem Costüm und in japanesischer Gesichtsmaske produciren. In Japan bilden diese Künstler eine eigene Kaste, der man die volle bürgerliche Ehre zuerkennt.

Erst der moderne Tingeltangel hat den Gymnastikern „feste Engagements“ verschafft. Das armselige und unstäte Zigeunerleben, welches diese Leute ehedem führten, hat bei den tüchtigeren Gesellschaften daher fast völlig aufgehört. Eine gute Truppe wird von den Unternehmern immer auf mindestens vier Wochen fest engagirt, oft auf die doppelte Zeit. Dadurch war es für die solideren Elemente dieser Kaste möglich, auch im socialen Leben festere Wurzel zu schlagen, zumal ihre geordneteren Geldverhältnisse [686] das früher nur allzu begründete Mißtrauen gegen die „Gaukler und Feuerfresser“ allgemach beseitigten. Noch günstiger sind meistens die Engagements im Circus, der oft Jahre lang ein und dieselbe Künstlertruppe mit sich führt.

Damit wäre ungefähr das Repertoire des Tingeltangel erschöpft. Das Ergebniß unserer Zusammenstellung ist, daß neben einer Anzahl anständiger, in ihrer Thätigkeit berechtigter Elemente als Priester und Priesterinnen der zehnten Muse andere auftreten, welche die Aeußerungsmittel wahrer Kunst im Dienste des gemeinsten Sinnenkitzels mißbrauchen. So wenig man ein Recht hat, die Leistungen der ersten Kategorie zu unterdrücken und sie dem Publicum, welches danach verlangt, vorzuenthalten, so zweifellos hat die öffentliche Sittlichkeit, die polizeiliche mit Hülfe der Gesetzgebung, wie die durch das Publicum repräsentirte, die Pflicht, dem Skandal, der sich mit diesen anständigen Leistungen verbündet, ein Ende zu machen.

Das Bündniß ist übrigens so wenig neu, wie es die verschiedenen Elemente des Tingeltangel sind. Die „fahrenden Leute“ des Mittelalters, welche so lange unehrlich waren, vereinigten eben diese Elemente. Das „fahrende Fräulein“ war in jener Zeit nicht mehr werth, als die weibliche Halbwelt des Tingeltangel. Nur daß dieser die allmählich durch Jahrhunderte in Auflösung gerathenen Elemente wieder wie in einem Brennpunkte sammelt und zugleich zum ersten Male den kecken Versuch darstellt, sie sozusagen gesellschaftsfähig zu machen.

Die Bezeichnung „Tingeltangel“ ist eine gar curiose. In Frankreich heißen diese Etablissements „cafés-concerts“, in England „music hall“; von dorther kann also der Name nicht importirt sein. Wir halten das Wort „Tingeltangel“ für ein onomatopoietisches, das heißt für ein klangnachahmendes, das den in ihm enthaltenen Begriff lautlich darzustellen sucht und höchst wahrscheinlich dem Refrain eines älteren dänischen Liedes entnommen ist, welches man in den Hafenstädten Scandinaviens und Norddeutschlands schon vor zwei Jahrzehnten sang. Dort, in jenen üppigen Häfen der Nordmarken, dürften übrigens die ersten Anfänge des deutschen Tingeltangel zu suchen sein, speciell auf dem berühmten „Hamburger Berg“, wo ich schon in dem Anfang der fünfziger Jahre den ersten flüchtigen Einblick in diese „Concerts“ gewann. Den feineren Schliff und die höhere Ausbildung gaben ihnen dann zweifelsohne später die französischen Vorbilder, deren Namen sogar jetzt fast in allen größeren Städten der alten wie der neuen Welt für derlei Etablissements ausgeborgt zu sein scheinen. Die „Alcazars“ finden wir auf russischen wie auf amerikanischen Tingeltangel-Anzeigen. Allerhand Kurzweil wurde durch Sang und Klang wie durch Tanz in den größeren Schänken Londons, Stockholms, Kopenhagens und Antwerpens von altersher dem müßigen Schiffsvolk geboten, und schon die fahrenden Leute des vorigen Jahrhunderts fanden in diesen Etablissements für ihr Handwerk einen goldenen Boden. Daß es dabei nicht immer ganz ehrbar zugegangen, wird von verschiedenen Chronisten berichtet und durch manchen Polizei-Erlaß aus jener Zeit bestätigt. Die gymnastischen Künstler producirten sich übrigens in den Trinkstuben nicht.

Die größten und elegantesten Tempel der Muse Nicotina in Deutschland finden sich in Berlin, Wien und Hamburg, doch haben jetzt leider auch die Mittelstädte schon solche Etablissements, und diese werden dort dem Theater natürlich um so gefährlicher, sodaß manche Bühne niedrigeren Ranges den „Specialitäten“ des Tingeltangel ihre Thore öffnen mußte. Leider greift dieses Unwesen auch auf den Bühnen der Residenzstädte in letzter Zeit um sich, sicherlich eine der traurigsten Folgen der verderblichen Concessionsfreiheit dieser Institute. Eine nicht minder traurige ist, daß die Tingeltangel dem Theater durch ihre höheren Gagen-Angebote manche gute Kraft entziehen, zumal Soubretten und Komiker. Einige Tingeltangel geben sogar ganze Komödien und haben dafür ein completes ständiges Schauspiel-Personal. Sie bilden im Programm nur das Füllsel, und das Publicum wird durch diese Herabwürdigung unwillkürlich gegen die Leistungen der Schauspielkunst gleichgültiger. Die unheilvollsten Nachwirkungen in der Geschmacksverirrung sind unausbleibliche Folgen der unglückseligen Vereinigung so total widerstrebender Kunstleistungen in ein und demselben Rahmen.

Wenn der Spesen-Etat eines Etablissements einen Gradmesser für dessen Rentabilität abgeben darf, so können wir von ihm bei den meisten größeren Concertlocalen der zehnten Muse auf einen großen Gewinnüberschuß schließen. Der Gagen-Etat soll für das Künstlerpersonal allein in einzelnen dieser Locale in Wien und Berlin über zehntausend Mark pro Monat auswerfen, und die großen Räumlichkeiten gestatten selbst bei anscheinend billigem Entrée vollauf die Deckung dieser Unkosten. Der geschäftliche Verkehr wird durch eigene Agenturen vermittelt, die selbst außerhalb Europas ihre Verbindungen haben und nicht selten direct aus Amerika, Japan oder China eine neue „Specialité“ einführen. Selbst für die geringeren Fächer sind die Gagen ungleich höher als bei dem Theater; eine Soubrette, die wegen absoluten Talentmangels auch bei kleineren Bühnen kaum ein Engagement erhalten könnte, bezieht als „Chansonette“ eine Monatsgage von dreihundert Mark und darüber, wenn sie nur über die „äußeren Requisiten“ verfügt, deren das pikante Debardeurcostüm nicht entrathen kann. Die sonstige Gegenleistung für jenen Gehalt besteht in dem Vortrag von zwei kleinen Liedern pro Abend, und das Repertoire einer solchen „Sängerin“ heißt bereits ein großes, wenn es deren zehn oder zwölf umfaßt.

Es liegt nahe, daß unter solchen Umständen der Andrang zu diesem Fach – zumal in den größeren Städten – ein sehr bedeuteter ist. Zwei Monate Gesangsunterricht, zwei hübsche Costüme und – die Chansonette ist fertig. Je kürzer das Röckchen, je größer die Gage! Die ehrwürdige Harfenistin von ehedem, die in unserer Jugend auf allen Messen und Märkten ein „obligatorisches“ Uebel jedes öffentlichen Locals war und hinter dem hohen Instrument so gravitätisch in der verschossenen Seidenrobe thronte, würde sich neben der Chansonette etwa wie Urväterhausrath neben einem amerikanischen Schaukelstuhl moderner Construction ausnehmen. In der That haben die alten Sängergesellschaften auch fast überall dem Tingeltangel Platz gemacht; ob auf dem „Hamburger Berg“ noch heute die einst weit und breit berühmten (!) Harfenisten-Familien seßhaft sind, vermögen wir nicht zu verkündigen.

Caeterum censeo, Carthaginem esse delendam“ – „im Uebrigen meine ich, daß Carthago zerstört werden müsse,“ so schloß einst der hartnäckige alte Römer jede Senatssitzung. Und ebenso hartnäckig sollte die öffentliche Meinung Tag für Tag wiederholen: „Fort mit den Auswüchsen des Tingeltangelwesens – in die rechten Schranken mit dieser Aftermuse, ehe sie noch mehr Unheil anrichtet!“ Und daß dieser Wunsch in Erfüllung geht, dazu helfe Vater Apollo mit allen Musen, die ihren legitimen Ursprung nachweisen können ohne gefälschtes Taufzeugniß!

  1. Levassor war ein berühmter französischer Komiker (geb. 1808), der besonders in den Pariser Variété-Theatern spielte, sich aber auch auf Kunstreisen im Auslande, namentlich in Deutschland, bekannt gemacht hat. Die drastischste Komik entwickelte er in seinen Bauern, Soldaten und Engländern.
    D. Red.