Drei Kreuzträger des Eisenbahncapitals
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Kurz vor dem Beginn unseres Krieges gegen Frankreich gingen uns mehrere mit Thatsachen beschwerte Klagen von unteren Eisenbahnbediensteten zu. Ehe wir an die Prüfung und Veröffentlichung derselben gehen konnten, war der Sturm losgebrochen, der alle Interessen, welche nicht den großen Kampf angingen, aus dem Gesichtskreise des Augenblicks entfernte. Wir legten deshalb auch jene Klagen zurück, denn auch über sie würde der Sturm dahingebraust sein. Die wunderbare Wendung des deutschen Schicksals, die ununterbrochene Siegesreihe, welche gebot, die Stangen der Siegesfestfahnen permanent an den deutschen Häusern zu befestigen, erweckte in uns die Hoffnung, daß das unermeßliche Glück dieses Krieges für den heimischen Wohlstand, also vor Allem für die Leute der Dividenden und Staatspapiere, wohl von selbst zur Aufbesserung der drückenden Lage dieser Arbeitsopfer anregen werde. Wir haben uns leider getäuscht, die Klagen vor dem Kriege werden von Neuem laut, im Reichstage haben diese Kreuzträger noch keinen Fürsprecher gefunden, die Bitten derselben werden täglich dringender, – und so muß denn wieder einmal die „Gartenlaube“ es unternehmen, die Angelegenheit dem Urtheil ihrer Leser vorzulegen. Wir fußen dabei auf einem von Friedrich Juncke in Köln eingesandten Aufsatze „über Eisenbahn-Wachtdienst“, sowie auf mehreren anderen Zuschriften, deren Verfasser, mit einer einzigen Ausnahme, sich uns genannt haben und von denen wir einen Aufsatz von T… „Die Wärter der Eisenbahnen“ noch besonders hervorheben müssen.
„Ist das wirklich möglich?“ – So fragten wir bei der Mittheilung einer uns in den ersten Wintermonaten des vorigen Jahres zugegangenen Klage. Damals betraf’s einen Bahnwärter, welcher bei zehn Thaler Monatsgehalt nur für vier Wintermonate täglich einen Silbergroschen zu Holz und Kohlen erhielt und dem man es somit freistellte, mit diesem Aufwande für Heizungsmaterial in der grimmigen Kälte in seiner zugigen Bretterbude die Glieder zu erfrieren, oder von seiner kärglichen Einnahme seiner Familie noch einen Theil zu entziehen, um das Wärterhaus dieser Bahn zu heizen. Der Mann, der uns dies schrieb, fügte die Bemerkung bei: „Wenn man mit dem Vieh so verführe, so würde sich doch wenigstens der Thierschutzverein in’s Mittel legen.“ – Da uns über eine Besserung dieser Zustände seitdem Nichts mitgetheilt wurde, so müssen Diejenigen, welche Genaueres darüber zu erfahren wünschen, sich an das Directorium der Breslau-Schweidnitz-Freiburger Eisenbahn wenden, welche die glückliche Besitzerin dieses im Winter kaltgestellten Bahnwärterhäuschens ist.
Nicht beneidenswerther ist, nach dem uns Mitgetheilten, das Loos eines Packmeisters einer ebenfalls schlesischen Bahn. Der Mann dient bei derselben jetzt in’s achtzehnte Jahr, mußte eine Caution von hundertfünfzig Thalern hinterlegen und bezieht einen Monatsgehalt von sechszehn Thalern. Für diesen Sold muß er, mit Ausnahme von zwei Nächten und einem Tage, fortwährend im Dienst sein und alle Verantwortlichkeit tragen. Bei der theuren Wohnungsmiethe und den hohen Preisen der meisten Lebensbedürfnisse in einer größeren Stadt ist der Mann, selbst wenn er die Ansprüche auf Kleidung und Nahrung bis auf das bescheidenste Maß beschränkt, nicht im Stande, eine Familie von sechs Personen zu erhalten. Der Verfasser wirft einen neidischen Seitenblick sogar auf die Weichensteller, deren Vorgesetzter er sei, während er noch weniger Einnahme beziehe, als selbst diese. Wir erzählen auch hier vorläufig nur den Fall ohne Namensnennung. Besteht in der That ein so schreiendes Mißverhältniß zwischen Dienstanspruch und Lohngewährung, so werden sich sicherlich mehr Stimmen über diesen Gegenstand vernehmen lassen, denen dann nachdrücklicher Gehör zu verschaffen ist.
Bahnwärter und Weichensteller, die zu den vereideten Bahn-Polizei-Beamten gehören, werden nach Fr. Juncke in der Regel aus den bei dem Bau oder den Unterhaltungsarbeiten der Eisenbahnen beschäftigten und daher mit deren Einrichtungen doch einigermaßen vertrauten Arbeitern (sogenannten Rottenarbeitern) gewählt. Sie müssen unbescholtenen Rufs und großjährig sein. Die Aufgabe der Weichensteller ist durch ihre Bezeichnung genügend angegeben; die Aufgaben der Bahnwärter sind schon vielgestaltiger. Sie haben die ihnen zugetheilte Bahnstrecke zu überwachen, beim Herannahen der Züge die vorgeschriebenen Signale zu geben, etwa auf demselben Geleise sich begegnende Züge durch das Halte-Signal zu warnen, die Barrièren an Bahnübergängen zu schließen und zu öffnen, fremde Gegenstände, welche das Geleise versperren, und überhaupt Alles zu entfernen, was einen Unglücksfall herbeiführen könnte. Außerdem haben viele Bahnwärter auch an der Instandhaltung der Gräben und Böschungen der Bahn und an der Bahnplanung mit zu arbeiten. Die Gesammtthätigkeit der Wärter und Weichensteller hängt allerdings von der Frequenz ihrer Bahnstrecke ab; es ist natürlich ein Unterschied, ob vierzig oder zehn Züge des Tags passiren. Unter allen Umständen müssen aber beide vom ersten bis zum letzten Zuge auf ihrem Posten sein, die Bahnwärter sogar noch eine halbe Stunde vor dem ersten Zuge, weil sie für denselben erst ihre Bahnstrecke zu begehen haben.
Da aber auf den wenigsten Bahnen Norddeutschlands die Wärterhäuser bewohnbar oder gar zur Familienwohnung eingerichtet sind (man findet dies nur in Oesterreich, Sachsen und hier und da in Süddeutschland), sondern da die für sie erbauten hölzernen oder steinernen Buden in der Regel nur ein wenig verlängerten Schilderhäusern gleichen, so muß der Wärter, wie der Weichensteller, anderwärts und, wo es keine nähere Gelegenheit giebt, wohl auch eine Stunde und weiter entfernt wohnen. Bei alle Diesem ist der tägliche Her- und Hinweg noch von der kargen Zeit abzurechnen, welche diesen Leuten zum Ausruhen, zum Sammeln frischer Kräfte vergönnt ist. Mit dieser Wegzeit nimmt der Dienst die Mehrzahl dieser Bahnbeamten sechszehn bis achtzehn Stunden in Anspruch. Dabei haben sie nur je alle vierzehn Tage einen freien Tag, sind Jahr aus, Jahr ein den Unbilden jeden Wetters ausgesetzt und erleiden somit Angriffe auf die Gesundheit, die nur durch kräftige Nahrung unschädlich gemacht werden können.
Wie steht es nun aber mit der Möglichkeit dieser wünschenswerthen „kräftigen Nahrung“? – Bodenlos erbärmlich! Das Diensteinkommen dieser Männer beträgt im Durchschnitt hundertsechszig bis hundertsiebenzig Thaler jährlich, und dazu kommt noch ein Beitrag zur Wohnungsmiethe von zwölf ein Sechstel Thalern und in vier Wintermonaten täglich ein Groschen zur Heizung des Bahnwärterhäuschens. Von der Jahreseinnahme sind übrigens noch, bei definitiver Anstellung, die etwa ein Zwölftel derselben repräsentirenden Beiträge zur Pensionscasse zu entrichten. Die Armen haben für ihre eigene Armenanstalt zu sorgen!
Man sieht, diese Stellen im Dienste der Eisenbahnen sind nur für das Cölibat eingerichtet. Oder will Jemand ausrechnen, wie viel einem Familienvater, der Wohnung, Kleidung, Schule, im Winter Heizung und alle Zeit Speise und Trank für die Seinen zu beschaffen hat, von jener Einnahme für seine eigene „möglichst kräftige Nahrung“ übrig bleibt? Ihm bleibt Nichts übrig, als mit den Seinen gemeinsam zu kargen. Es ist eine wachsende Armuth, die an allen Bahnlinien entlang durch diese verheiratheten Bahnbediensteten in die Welt gesetzt wird. Jedes Kind vermehrt sie nur, und die Armuth ist so kinderreich! –
Und diesem Mißstande sollte wirklich nicht abzuhelfen sein? – „Nein!“ gellt das Zetergeschrei des Doppelchors aller Finanzbeflissenen der Privat- wie der Staatsbahnen. „Nein! Daran ist gar nicht zu denken! Man betrachte nur die Heerschaar dieser Leute! Wir haben Eisenbahnstrecken, wo die Meile uns zehn bis zwölf Bahnwärter und wenigstens vier bis sechs Weichensteller kostet, – was sind das bei dreißig, vierzig und fünfzig Meilen für ein Haufen Leute! Und ist’s denn nicht sonnenklar, daß wir durch eine bessere Bezahlung derselben nur unsere Einnahme verkürzen?“ –
Das ist außerordentlich klar. Aber ebenso klar ist es, daß Bahnwärter und Weichensteller, als Bahnpolizeibeamtete, zu den mittelbaren Staatsbeamten gehören. Dafür spricht ebenso die Norm ihres Diensteides als der Umstand, daß nicht die Gesellschaft, sondern der Staat die polizeiliche Gewalt ausübt, beziehungsweise durch diese Beamteten ausüben läßt.
Ebendeswegen ist’s aber auch Sache des Staats, zu verhüten, daß diese mittelbaren Ausüber seiner polizeilichen Gewalt nicht durch den Uebereifer der Finanzspeculation in einen körperlichen Zustand versetzt werden, der ihnen jene Pflichterfüllung zur Unmöglichkeit macht. Was ist’s aber Anderes, als dies, wenn [521] einem Manne zugemuthet wird, bei fünfzehn- bis achtzehnstündiger Beschäftigung in freier Luft, allen Witterungseinflüssen preisgegeben, und bei kärglicher Nahrung, den so außerordentlich ernsten, verantwortungsreichen Dienst von der ersten bis zur letzten Stunde mit gleicher Aufmerksamkeit zu verrichten? Ist das eine Anforderung, die mit den Gesetzen der Humanität nur im entferntesten Einklange steht? Nein! Es ist offenbare Menschenquälerei! und ist’s eine Anforderung, die der Sicherheit des öffentlichen Verkehrs dient. Wieder ein Nein! Es ist vom Geldsack gedeckte Gewissenlosigkeit!
Wenn dem von der Tageslast und der täglichen Entbehrung angegriffenen Manne der Schlaf der Ermüdung das Auge einmal zudrückt in dem unglücklichen Augenblicke, wo er durch seine Dienstverrichtung Leben und Gesundheit von Hunderten in der Hand hat, wo eine falsche oder unterlassene Weichenstellung, eine die Bahn sperrende Barrière einen ganzen Zug in’s Verderben stürzt und den Bahnkörper mit Leichen und Krüppeln unter Wagentrümmern übersäet, – ja, dann springt die Obrigkeit bei und nimmt Weichensteller oder Bahnwärter, als die gewöhnlich Schuldigen, beim Kopf, – und Jedermann findet das in der Ordnung, die armen Betroffenen selbst, denn sie wissen nun einmal nicht anders, als daß sie ihre Lebtage bei diesem Dienst mit dem einen Fuß am Rande des Grabes und mit dem andern auf der Schwelle des strafenden Gerichts stehen, – aber steckt denn, trotz alledem, die eigentliche Urheberschaft des Unglücks nicht ganz wo anders? –
Ist es nun einmal das Eigenthümliche an der Anstalt der Eisenbahnen, daß bei ihrem Betrieb von der Diensttüchtigkeit gerade der untergeordnetsten und größten Classe ihrer Arbeiter mit dem ungehinderten Gange des Ganzen zugleich das Leben so vieler Menschen abhängig ist, so ist es offenbar Pflicht und Recht des Staats, dafür zu sorgen, daß nicht die Eigensucht der Speculation der Diensttüchtigkeit dieser Leute durch ungenügenden, in keinem Verhältniß zu den Ansprüchen, wie zur Gefahr und Verantwortlichkeit ihrer Leistungen stehenden Lohn den größten Eintrag thue.
Der Krieg hat manches praktische Hülfsmittel für den öffentlichen Schutz gefunden, dem man auch im Frieden zweckentsprechende Anwendung wünschen möchte. In den Franctireursgegenden Frankreichs, wo die Bevölkerung durch Brückensprengungen, Schienenaufreißen, ja sogar durch Schießen nach den Waggons den militärischen Verkehr zu stören suchte, sorgte man bekanntlich für die Sicherheit der Züge vor all derlei Gefahr dadurch, daß man die Maires oder sonst hochansehnliche Männer der Stationsorte zwang, jeder Fahrt auf der Locomotive beizuwohnen. Von dem Augenblicke dieser Maßregeln an wurde die Unsicherheit der Bahnen bedeutend geringer. – Wenn bei uns stets ein Herr des Directoriums oder Verwaltungsraths oder ein hochansehnlicher Actionär jedem Zuge auf der Locomotive beiwohnen müßte, der an schlechtbezahlten Bahnwärtern und Weichenstellern vorbeifahren muß, – wer weiß, ob es nicht auch mit diesen bald besser würde!
Lassen wir zum Schlusse noch einen Sachverständigen, welcher dem Eisenbahnbetriebe nahe steht, seine Meinung über diesen Gegendstand aussprechen. „Wenn wir bedenken,“ sagt er unter Anderem, „zu welchem bedeutenden volkswirthschaftlichen Factor des sämmtlichen Verkehrs sich das Eisenbahnwesen entwickelt hat, welche enorme Summen und Renten damit verdient werden und welche große Verantwortlichkeit gerade der Bahnwärter auf sich genommen, – so ist es in der That schwer zu begreifen, wie man in Anbetracht der Wichtigkeit der Sache bisher bei den meisten Eisenbahnen so wenig Rücksicht auf die Lebensstellung dieser ganz unentbehrlichen Beamtenclasse genommen hat.
„Es ist grauenvoll, wie viel gut angelegte Existenzen durch diese Capitalthyrannei zu Grunde gerichtet werden! – Ich kenne zum Beispiel einen solchen Mann, welcher jeden Abend nach zehn Uhr, wo sein Dienst aufhört, erst eine Stunde weit zu laufen hat, um bei seiner Familie zu schlafen; früh vor fünf Uhr muß er wieder auf seinem isolirten Posten sein, er muß also schon vor vier Uhr seine Wohnung verlassen. Es bleiben ihm also, wenn er all seine freie Zeit zum Schlafen verwendet und nicht auch dem Bedürfniß, mit Weib und Kindern zu sprechen, nachgiebt, dazu fünf Stunden. Schläft er weniger, so leidet seine Gesundheit, und trennt er sich des Schlafes wegen ganz vom geistigen Zusammenhang mit Weib und Kindern, so leidet sein Charakter darunter. Eines muß unterliegen, – und in der Regel geht’s über Beides her. Unser geschlagener Mann steht bereits auf dem schwarzen Register des Bahnmeisters, denn man hat ihn einmal bei Tage – schlafend getroffen und dazu kam er noch in den entsetzlichen Verdacht, daß er Branntwein trinke, vielleicht um seine erstarrten Glieder in der hölzernen Luftbude zu erwärmen! – Dieser Mann war, ehe er seinen jetzigen Posten betrat, ein anerkannt braver und zuverlässiger Arbeiter; ihn hat factisch sein Amt demoralisirt, – und dies Alles um welchen Preis? Für zehn Thaler Monatsgehalt!“ –
Die neueste Zeit zeigt uns aber noch einen anderen Standpunkt, von welchem aus das Loos dieser Bahnbeamten zu betrachten ist. Gerade diese Stellen an den Bahnen sind es, zu welchen man gern und häufig gediente Soldaten nimmt. Unser großer Krieg gegen Frankreich hat viele Wehrmänner ihrer bisherigen Arbeit entrissen, viele werden andern Unterhalt suchen, viele in den Dienst der Eisenbahnen eintreten müssen. Soll es dann etwa der Dank des Capitals für die Thaten unserer tapferen Kriegsmänner sein, daß ihnen dasselbe Loos zu Theil wird, das jetzt so laute Klagen hervorruft? Sollen die Helden unserer Schlachtfelder, die auf einen dauernden Dank des Vaterlandes die gerechtesten Ansprüche haben, in einer solchen Stellung verkümmern? Gegen diese Möglichkeit muß jedes redliche Gefühl sich empören, ihr einen Riegel vorzuschieben, das muß die Sorge jeder Volksvertretung in den Landtagen wie im Reichstage sein. Alle sollten darauf dringen, daß es ausgesprochenes Gesetz werde: 1) Jeder Bahnwärter und Weichensteller erhält an seiner Berufsstation eine entsprechende Wohnung mit einem Gärtchen; – und 2) Ihr Gehalt muß Mann und Familie wirklich nähren, ohne ihnen Entbehrungen aufzuerlegen, wie dies jetzt noch der Fall ist. Auch diese Leute müssen ihr Amt mit Freude verrichten können und nicht mit Seufzen.
Es ist nichts damit gethan, wenn wir immer nur hoffen, daß mit der Ausbreitung einer erweiterten Intelligenz auch der humane Sinn bei der Classe der Gebildeten mehr und mehr Boden gewinne. Das wird gewiß einmal recht schön, aber es hilft für die Gegenwart zu nichts. Ehe daher die goldene Zeit anbricht, wo die möglichst richtige Würdigung des wahren Verdienstes und der Arbeit auch des geringsten unserer Mitmenschen zur Sitte wird, wird das Gesetz eintreten müssen, um den Arbeiter vor den Rücksichtslosigkeiten des Capitals zu schützen. Dies nach Möglichkeit zu veranlassen, ist der Zweck dieses Artikels.