Drei Verbannte
Während der großen europäischen Reactionsperiode von 1816 bis 1830 konnte man in der schweizerischen Stadt St. Gallen an jedem sonnigen Tage einen silberhaarigen Greis, der von Jahr zu Jahr zusehends schwächer und hinfälliger wurde, am zitternden [766] Stabe nach einem der Spaziergänge des „Klosterhofs“ oder des „Brühls“ den müden Körper schleppen und hier erschöpft auf eine Bank sinken sehen, wo er dann sinnend und träumend ruhte, so lange die freundliche Sonne seine erstarrten Glieder wärmte. Wer war der Greis und wovon träumte er? Ach, er träumte von einem mildern Lande, wo Feigen, Oliven und Orangen blühen, wo der Nachtigall Schlag durch die Haine tönt, wo des Troubadours Lieder einst von Minne sangen und die Klänge dieser Lieder noch im Volke leben, einem Volke mit feurigen, schwarzen Augen und brennendem Muthe im Herzen. Noch mehr, er träumte auch von einer Erhebung des Volkes für seine Freiheit und von dem blutigen Mehlthau, der sich auf diese schöne Bewegung legte und sie erstickte.
Lange kannte Niemand den Mann, und doch hatte er einst über einen König zu Gerichte gesessen und büßte nun seine Kühnheit, indem er das Brod der Verbannung essen mußte. Jean Baptiste Meyer, so hieß er, gebürtig aus dem Departement des Tarn in Südfrankreich, dem Vaterlande der Albigenser (wie mochte der deutsche Name dorthin kommen?), seines Berufes ein Arzt, war er Mitglied des Convents und stimmte für den Tod Ludwig’s XVI. Wer hätte es anders gewagt? Mußten ja selbst die dafür Stimmenden ihr Haupt unter das Richtbeil legen, zu dessen blutiger Praxis die Bourbonen ihr Volk durch viele Jahrhunderte hin erzogen hatten! Ludwig starb, Marie Antoinette folgte, Marat, die Girondisten, Orleans, Danton und Desmoulins, Robespierre und tausend Andere folgten. Meyer entging allen diesen Schrecken. Dem ersten Consul aber wollte er nicht dienen und widmete sich wieder seinem Berufe im herrlichen Süden. Die Restauration, die in jenen Gegenden die Guillotine zu überbieten suchte, vertrieb auch ihn aus dem Vaterlande. Vergebens verwendete sich St. Gallens Regierung für ihn bei dem Achselträger Talleyrand; es folgten nichtssagende Antworten. Endlich ging die Julisonne auf, und die Schüsse der Barrikaden fanden ihr Echo im Lande der Alpen. Da blitzte es auf in den fast erloschenen Augen des Greises; die Marseillaise schien in seinen alten Ohren zu wiederhallen. Mühsam raffte er sich auf, eilte nach dem geliebten Vaterlande, erreichte es glücklich und – starb nach wenigen Tagen im Anblicke seiner geliebten Pyrenäen, ohne die Escamotirung der Freiheit durch den „Bürgerkönig“ zu erleben. Das war das Ende eines verbannten Republikaners! –
Am 7. Februar 1837 wurden die Bewohner des Gasthofes zum weißen Rößlein in St. Gallen durch ein aus einem Gastzimmer kommendes ungewohntes Klingeln erschreckt. Man eilte, dem wohlbekannten, schon seit drei Jahren im Hause lebenden und beliebten Gaste beizuspringen. Als man aber in das Zimmer trat, fand man einen – Sterbenden. Der Schlag hatte ihn gerührt, und bald war er eine Leiche.
Da lag er nun, wie eine vom Sturme geknickte Eiche, der, wenn auch alte, doch noch vor Kurzem rüstige und stattliche Mann mit dem feurigen und zugleich schwärmerischen Auge, mit dem imponirenden Blicke, der Adlernase, dem in schönstem Ebenmaße gebauten Körper. Er stammte aus einem edeln Geschlechte, dessen Glieder auf mehreren Thronen Europa’s saßen; mit ihm war dieses Geschlecht von einem dieser Throne nicht herabgestiegen, sondern mit brutaler Gewalt herabgeworfen worden, ohne daß sich unter Millionen Unterthanen eine Hand für ihn regte. Dieser Mann, mit eiserner Stirne und festem Willen begabt und mit unerhörter Beharrlichkeit unerreichbaren Idealen nachjagend, hatte es während vieler Jahre – allein unter allen festländischen Monarchen Europa’s – gewagt, dem Götzen des Jahrhunderts Trotz zu bieten, ein Trotz, der ihm eine der schönsten Provinzen seines Reiches kostete. Der raubgierige Nachbar im Osten hatte diesen Fang durch die heuchlerische Freundschaft erschlichen, die er jenem Götzen auf einem schwimmenden Pavillon im Memelflusse gezeigt, wo sie die Karte Europa’s miteinander theilten.
Doch genug des Räthselns! Der Verstorbene nannte sich im Exil Oberst Gustavson. Sein wahrer Name aber war Gustav IV., Adolf, König von Schweden. Schon als vierzehnjähriger Knabe nach einem mit Königsblut befleckten Maskenballe, dem kleinen östlichen Wiederspiele der gleichzeitigen großen Revolution im Westen, auf den Thron gelangt, ward er von seinem Eigensinn, mit dem er sonderbare Ideen in’s Werk setzen wollte, in’s Verderben gestürzt. Er wurde das Opfer seines glühenden Hasses gegen Napoleon, und dieser Haß kostete ihm Finnland und seinen Thron, von dem ihn die Verschworenen (1809) nach russischem Muster herabrissen. Seine Geschichte ist übrigens bekannt genug. Verbannt aus seinem Vaterlande seit der Abdankung von Gripsholm, später geschieden von seiner Gattin, sogar feindselig gegen seinen Sohn gesinnt, irrte er in Deutschland und der Schweiz herum, bis er in St. Gallen seinen letzten Aufenthalt nahm. Hier lebte er das anspruchslose Leben eines Privatmannes, verkehrte selbst in leutseligster Weise mit Menschen der niedrigsten Stellung im gesellschaftlichen Leben, kümmerte sich nicht um seine Familie, seine beiden Töchter ausgenommen, die Großherzoginnen von Baden und von Oldenburg, an welchen er mit inniger Liebe hing, während er seinen Sohn, den Prinzen Wasa, öffentlich desavouirte. Mit Schmerzen dachte er seines Vaterlandes, welches jetzt ein schlauer Emporkömmling aus der Gascogne regierte, der diesen Thron durch den schmählichsten Verrath an seinem Kaiser erkauft hatte.
Viel beschäftigte er sich mit Journalistik, indem er eine Menge Zeitungsartikel, meist in die Gazette de France und in die Augsburger „Allgemeine Zeitung“, schrieb, die man dann, um bei den Regierungen und unter dem durch die Censur damals noch bevormundeten Volke kein Aergerniß zu erregen und doch die Eitelkeit des königlichen Journalisten nicht zu verletzen, blos in einem Exemplare abzog, welches man an den „Obersten Gustavson“ in St. Gallen adressirte. War er dann vom Arbeiten ermüdet, so machte es ihm die größte Freude, wenn ihm der jüngere Sohn seines Wirthes, damals ein Knabe, Seifenblasen steigen ließ, an deren Zerplatzen er die wehmüthigsten Betrachtungen über die Eitelkeit aller menschlichen Größe knüpfte. Da Gustav eigensinnig jede Unterstützung von seiner Familie zurückwies, bestritt diese heimlich einen Theil der Kosten seines Unterhaltes, und der Wirth mußte ihm nur für die Hälfte Rechnung stellen, weshalb sich der König sehr über die Billigkeit des Lebens in St. Gallen wunderte. Oft machte es ihm Spaß, die ihm bekannten Fehler von Menschen zu züchtigen, die er bisweilen sah. So erfuhr er von einem jungen Menschen, daß derselbe seine Mutter übel behandle. Der erzürnte Ex-König ließ den Schuldigen zu sich kommen, der äußerst geschmeichelt im schönsten Anzuge erschien, und überreichte ihm lächelnd ein zierlich eingewickeltes Paket mit den Worten: dies sei eine Anerkennung für sein pflichttreues Verhalten gegen seine Mutter. Gerührt dankte der Verblendete, empfahl sich unter Bücklingen, öffnete das Ding und fand – einen alten Pantoffel.
Indessen nahmen die Kräfte des verbannten Fürsten ab; immer kleiner wurden seine regelmäßigen Spaziergänge, bis es eines Morgens, an dem schon erwähnten Tage, in der ganzen Stadt hieß (ich erinnere mich noch gut, als es in der Schule meine Cameraden sich zuflüsterten): der König von Schweden sei gestorben. Der Todesfall wurde sogleich der Familie Wasa gemeldet. Der entseelte Körper ward einbalsamirt und in der von dem Irländer Magnus vor 1200 Jahren gestifteten Kirche einstweilen im wohlverschlossenen Sarge aufgestellt. Durch ein sonderbares Zusammentreffen erhellte in der nächsten Nacht ein prachtvolles Nordlicht die Umgebung St. Gallens, als wäre es ein Gruß aus dem kalten Vaterlande an seinen verbannten, nun in Walhalla eingezogenen König, den Nachfolger eines Ragner Lodbrok, Birger und Gustav Wasa. Bald langte der Bevollmächtigte des Prinzen Wasa in St. Gallen an und holte den Sarg ab, der dann in des Letzteren Schloß Eichhorn bei Brünn in Mähren am 5. März feierlich beigesetzt wurde, in demselben Schlosse, welches sein Vorfahr Gustav Adolf im dreißigjährigen Kriege zweimal eingenommen haben soll. Reiche Geschenke der drei Kinder des Heimgegangenen lohnten alle Personen, die sich um denselben verdient gemacht hatten. – Das war das Ende eines verbannten legitimen Königs. – Kurze Zeit hernach wurde der Neffe des St. Gallen’schen Banquiers, welcher Gustav’s Geschäfte besorgt hatte, auf einer Reise in Stockholm von dem dort residirenden Gascogner aus dem schwedischen Reiche verwiesen!
Es war in der ersten Woche des herrlichen Juli 1838, als das schweizerische Schützenfest in St. Gallen gefeiert wurde. Heiter lächelte der Himmel zu der schönen Feier; groß und jubelnd war die Begeisterung des Volkes. Täglich langten neue Schützengesellschaften aus verschiedenen Kantonen, Städten und Landschaften an und wurden freudig empfangen und begrüßt. Wohl keine derselben aber machte damals so viel Aufsehen, als diejenige aus dem Thurgau, und zwar nicht ihrer selbst, sondern ihres Führers und Sprechers wegen. Ich stand eben, wie beinahe täglich, als zehnjähriger Knabe, neben meinem Vater, der zu den Festrednern gehörte, auf den Stufen des reichgeschmückten und von bunten [767] Fahnen umflatterten Gabentempels, als rauschende Musik die Ankunft der Thurgauer verkündete. An ihrer Spitze marschirte ein junger Mann von dreißig Jahren, mit schwarzem Schnurr- und Knebelbart und überhaupt unternehmendem Aussehen, den Stutzen, wie die Uebrigen, um die Schulter gehängt. Die Musik schwieg, der Zug hielt. Der junge Mann trat vor, stellte den Stutzen neben sich auf den Boden (ich meine ihn noch vor mir zu sehen) und begann in fließendem Deutsch, doch mit etwas romanischem Accent, zu sprechen. Seine Rede klang feurig und patriotisch. Er drückte seinen Stolz aus, ein Schweizer zu sein, und die Hoffnung, die Schweiz werde ihre Unabhängigkeit vertheidigen und ungerechte Zumuthungen zurückweisen, kommen solche woher sie wollen. Die Masse der gutmüthigen Schweizer war entzückt über diese Worte; die erfahrneren Staatsmänner jedoch nahmen sie kühler auf. Einer der Letztern, selbst aus dem Thurgau stammend, antwortete dem Redner: der Thurgauische Schützenführer habe durch die Annahme des schweizerischen Bürgerrechts den Beweis geleistet, daß er die Ehre, Republikaner und Schweizer zu sein, allen „Kronprätensionen“ vorziehe, und er zweifle nicht, daß derselbe im Falle eines fremden Angriffes als schweizerischer Artilleriehauptmann die schweizerischen Kanonen gegen die Feinde aufpflanzen werde. Die Antwort machte Sensation, am meisten aber bei dem jungen Neu-Thurgauer, der seine Unzufriedenheit darüber nicht verbergen konnte. – Wer war der Mann, daß von seinen Kronprätensionen gesprochen werden konnte? Allerdings konnte davon gesprochen werden. Trachtete dieser Mann ja, seit einem Todesfalle, der vor sechs Jahren zu Schönbrunn bei Wien ein junges Leben geraubt hatte, nach nichts Geringerem als einem Kaiserthrone! Hatte er ja erst vor zwei Jahren auf dem ehemals deutschen Vorposten Straßburg diesem Streben, wenn auch mit kläglichem Resultat, Nachdruck zu geben versucht! Flüsterte sich ja auf dem Schützenplatze zu St. Gallen Alles zu: Wo ist der Prinz? Habt ihr den Prinzen gesehen? Wird er wohl einst Kaiser werden?
Sonderbares Schicksal! In demselben Jahre hatte die Schweiz Gelegenheit, die Worte ihres Neubürgers zu erproben, und zwar um seinetwillen. Der Bourgeois mit Regenschirm und Galoschen („sein Haupt glich einer Birne“), der da saß, wohin der junge Prätendent gerne selbst gesessen wäre, verlangte dessen Auslieferung; die Schweiz aber pflanzte ihre Kanonen auf und rief: Quod non! Wir liefern keinen Bürger unseres Landes aus! Der junge Artilleriehauptmann richtete keine dieser Kanonen: er verließ das Land, um dem Streite ein Ende zu machen. Die guten Schweizer bewunderten seinen Edelmuth. Er aber vergaß die Eidgenossen und ihren Edelmuth und dachte nur noch an die Kronprätensionen. Theatralisch ließ er zu Boulogne einen jungen Adler fliegen und wanderte dafür prosaisch gleich einem Landstreicher in’s Gefängniß. Es ist bekannt genug, wie er in Ham aus- und in Paris einzog, wie er die Abstimmung einer Nation – dirigirte, den heiligsten Rechten des Volkes mit eiserner Strenge entgegentrat, diejenigen, die seinen Schwur halten wollten und ihn an seinen Eid mahnten, mit Kartätschen zusammenschmetterte, und endlich seinem einstigen zeitweiligen Vaterlande, dessen Bürgerrecht er mit Füßen getreten, die schützende Grenze im Südwesten durch die höhnische Annexion Savoyens, gegen dessen ausdrücklichen Volkswillen, lachend niederriß. Wie wird er enden, der einst verbannte, jetzt Europa commandirende kaiserliche Herrscher?
Welche Mannigfaltigkeit in diesen drei Verbannten! Welche Verschiedenheit in ihrem Geschicke! Erst der Republikaner, der im Vollgefühle des Wiedersehens seines neu befreiten Vaterlandes ruhig und glücklich endet, dann der legitime König, der lieber im Exil verborgen stirbt, als ein Jota von seinem göttlichen Rechte opfert, und endlich der vor Ehrgeiz brennende Kronprätendent, der gar kein Vaterland kennt, sondern nur einen Thron sucht und kein Mittel scheut, diesen zu erkämpfen oder zu – ercongressen! Welcher Stoff zum Nachdenken über die Launen des Schicksals – oder vielleicht nicht besser über das Gottesgericht der Weltgeschichte?