Dreimal denselben Weg

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Autor: unbekannt
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Titel: Dreimal denselben Weg
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aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 13–15
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[13]

Dreimal denselben Weg.

Ein frischer sonniger Julimorgen glänzt über den grünen baum- und buschreichen Gärten, welche die Stadt im weiten Umkreise auf Berghöhen und in Thalmulden umgeben. Auf einem Hügel, sanft ansteigend, liegt da auch der Garten mit der „Saat gesäet von Gott, am Tage der Ernte zu reifen.“ Ein junger Mann schreitet die Straße daher, welche von dem waldgekrönten Berge zur Stadt im Thale hinabführt. Er geht jenen träumerischen in sich selbst versunknen Schritt, eigenthümlich den Leuten, die sich nicht viel um die Außenwelt kümmern, höchstens ihre Schönheit auf sich einwirken lassen, von ihren häßlichen Erscheinungen aber kaum berührt werden. Man könnte ihn den Dichterschritt nennen. Die Erscheinung des jungen Fußgängers entspricht diesem Schritt vollkommen. Eine hohe schlanke Gestalt mit den edelsten Formen, der Antinouskopf von lichtbraunen Locken umflattert, ein träumerisches süßlächelndes Auge, das Antlitz ein Spiegel der reinsten Seelengüte, der schönsten Gefühle, der hochherzigsten Gesinnung. Die Rosen der Jugend blühen auf seinen Wangen; er kann kaum zwanzig Jahre alt sein, und doch hat sich schon so viel Ernst in diese Züge eingenistet. Er ist einfach, aber modern und sehr fein und propre gekleidet. Sein großes, braunes, tiefinniges und schwärmerisches Auge strahlt von der Fülle jungen Glücks; man sieht es ihm an, daß er sich in der ersten Frühe des köstlichen Tages eine ganze Tracht seliger Gefühle im reichen Bergwald geholt hat. So geht er heimwärts, still selig vor sich hinlächelnd, unverkennbar ein Dichter, ein glücklicher Dichter. Da begegnet ihm ein armseliger Leichenzug. Auf dem Armen-Leichenwagen der rohe Sarg, dürftig zugedeckt von einem dürftigen Leichentuche. Der Führer der trägen Pferde vorn, die Leichenfrau und ein junges Mädchen hinten, das war der ganze Conduct. Das Kind fiel dem jungen Poeten auf. Es konnte höchstens dreizehn Jahre alt sein, aber in seiner Gestalt lagen alle Keime einer ungewöhnlichen Schönheit; ein prächtiges, großes lebendiges Auge sprach blitzend von Ahnungen, die sich empor drängten, um zu Verständnissen zu werden; aus diesen zur Ausrundung sich emporringenden Formen verkündete sich ein starker und kühner Geist. Das Kind hatte ein verwaschnes Kattunkleidchen an, aber es schritt daher wie eine Fürstentochter. Das war etwas ganz Besonderes und Ursprüngliches. – Ueberrascht trat der junge Mann zu der Leichenfrau und fragte: wer hier begraben werde?

„Eine Schauspielerin,“ war die Antwort, „Madame Rosenthal. Sie ist vor vier Monaten hierher gekommen und hat ein Engagement gesucht, aber nicht gefunden, weil sie schon krank war. Sie ist an der Lungenschwindsucht gestorben, eine sehr hübsche und leidliche Frau, und hat nichts weiter hinterlassen, als ihr Töchterchen da, die Kleine.“

„Lebt der Vater des Kindes nicht mehr?“

„Wer kann’s wissen? Wie’s eben bei den Theaterleuten zugeht. Das arme liebe Geschöpf hat keinen Verwandten und Bekannten auf Gottes weiter Welt. Da steht sie wie sie ist, arm und verlassen und so hübsch und so gescheidt! Sie können’s kaum glauben, bester Herr! Daß sich Gott ihrer erbarme! Da könnten Sie sich einen Gotteslohn verdienen, wenn Sie Ihren Herrn Vater vermöchten, etwas für die arme Waise zu thun. Ich kenne Sie; Sie sind der junge Herr Bleimüller.“

Der junge Mann sah das Kind wieder an, dessen Antlitz von der Purpurröthe der Scham übergossen war und das Auge verlegen zu Boden schlug. Eine Fülle des schönsten dunkeln Haars wand sich in Geflechten um den edel geformten Kopf und fiel als Lockenschmuck in den Nacken. Das war eine Amorine, wie sie die üppigste Phantasie sich nicht reizender schaffen konnte. Er nahm ihre Hand und sagte leise: „Laßt uns gehen!“ Und so geleitete er die Leiche der armen Künstlerin schweigend und tief ergriffen zu Grabe.

Als der Sarg versenkt und mit Erde überschüttet wurde, weinte das Kind heftig und auch die Thränen des jungen Mannes flossen reichlich. Dann beteten sie still über dem geschlossnen Grabe.

„Willst Du mit mir gehen?“ fragte er das im Schmerz doppelt schöne Mädchen. „Ich will Dich in mein Vaterhaus führen und für Dich sorgen.“

Das Mädchen sah die Leichenfrau fragend an und diese trat mit ihr bei Seite und flüsterte: „An Dir hat Gott ein Wunder gethan, daß er uns den jungen Herrn entgegengeschickt hat. Er ist der einzige Sohn des steinreichen Banquiers Bleimüller am Altmarkt und ist auf der Universität. Geh, mein Kind, mit ihm. Nun ist Dein Glück gemacht. Ich gratulire Dir.“ Und sie nahm das Mädchen bei der Hand und führte es dem jungen Herrn Bleimüller zu. Mit einen Blicke seligster Empfindung nahm er sie in Empfang und wandelte mit ihr im freundlichen Gespräch nach der Stadt hinab.




„Wie ich es mir gedacht und Dir vorhergesagt habe, mein lieber Eduard,“ sagte eine vornehme Dame in feinster Morgentoilette, aus deren blassen, von Körper- und Seelenleiden zeugenden Zügen nicht nur die nächste Verwandtschaft des Bluts, sondern auch des Geistes und der Seele mit dem jungen Bleimüller sich kund that, zu diesem, der eben in den reich dekorirten Speisesalon [14] hereingetreten war, wo die servirte Tafel der Gäste harrte, „Dein Vater will durchaus das fremde Mädchen nicht im Hause dulden. Er ist sehr erbittert über Deine Großmuth, die er Leichtsinn nennt. Du kennst ihn ja und weißt wie unzufrieden er immer mit Dir und Deinen Handlungen ist. Du weißt auch, daß er den Groll nicht überwinden kann, daß Du gegen das Banquiergeschäft Widerwillen hast und poetische Studien treibst, mit welchen sich kein Geld gewinnen läßt. Du weißt das Alles, warum reizest Du seinen Zorn immer wieder von Neuem?“

Eduard sah so seelenvoll lächelnd zu der Dame empor und entgegnete: „Ich weiß es, liebe Mutter, aber ich denke nie zur rechten Zeit daran. Im entscheidenden Moment handle ich immer, wie’s mir das Herz eingiebt, und das ist gewiß jedesmal mit des Vaters Willen im Widerspruch!“

„Ach, ich kenne Dich ja!“ hauchte die Mutter ihm mit einem zärtlichen Kuß auf die hohe gedankenreiche Stirn. „Du müßtest nicht mein Kind und mir in allen Dingen so ähnlich sein, wenn Du anders thätest. Ich kenne das; denn es ergeht mir gerade so, und deshalb ist nie ein herzliches Einverständniß zwischen mir und Deinem Vater gewesen. Doch hat er wenigstens die Tugend, mir endlich nachzugeben, wenn ich beharrlich bin. Laß also den Sturm über Dich ergehen und gieb ihm gute Worte. Dann werden wir ja sehen, was für Deinen hübschen Schützling zu thun ist. Das verwaiste arme Kind macht übrigens keinen erhebenden, vielmehr einen beängstigenden Eindruck auf mich. Seine Schönheit kommt mir dämonisch vor; mir ist als drohe Dir oder mir Unglück von ihm.“

„Seltsam!“ sagte der Sohn. „Ich habe ein ähnliches dunkles Gefühl in Helenen’s Nähe, aber das darf mich nicht abhalten, ihr Wohlthäter zu werden. Sie hat auf Erden keinen Freund weiter als mich.“

„Mein edler Eduard.“

Ein sehr gewählt gekleideter Herr trat hastig herein und erwiederte die Grüße der beiden Anwesenden kurz und mürrisch; eine strenge, bornirte Physiognomie; ein Auge ohne Tiefe, eine Stirn ohne Schwung.

„Was sind das wieder für Streiche!“ redete er den jungen Mann zornig an. „Ein liederliches verlaufenes Komödiantenkind, eine junge Landstreicherin in mein Haus zu bringen! Wirst Du nie zu Verstand kommen? Ich fürchte, Du studirst Dich immer dümmer. Fort mit dem Pankert! Ich dulde das Mädchen nicht.“

„Mein Vater,“ sagte Eduard bittend, „ich fand das Kind arm und verlassen hinter der Leiche seiner Mutter. Es hat keinen Menschen auf der Welt. Was würden Sie gethan haben?“

„Dummheit! Wenn wir alle armen Verlassnen in unser Haus aufnehmen wollten, wir würden bald selbst keinen Platz darin haben. Wozu hat der Staat Armenhäuser? Ich zahle eine sehr hohe Armensteuer.“

„Sie haben Recht; aber ich bitte Sie um die einzige Vergünstigung, meinen kleinen Schützling nur einmal zu sehen. Mögen Sie dann selbst ihr Schicksal bestimmen.“

„Ich bitte Dich ebenfalls, lieber Bleimüller,“ nahm die Frau das Wort, „es könnte ja nichts Lächerlicheres geben, als glauben zu wollen, es käme Dir auf die wenigen Thaler an, welche das Mädchen kosten würde. Und überdies will sich ja Eduard die Gunst von Dir erbitten, ihre Erziehung aus seinen eignen Mitteln zu bestreiten. Es handelt sich also bei Dir nur um ihren Aufenthalt im Hause. So sieh sie Dir doch an. Du hast Dir ja stets eine Tochter gewünscht. Ich denke, die Kleine ist nicht unwürdig, die Stelle einer Tochter unsres Hauses einzunehmen.“

Der Hausherr brummte einige unverständliche Worte; die Mutter nickte dem Sohne lächelnd zu, der sich schnell entfernte. Einige Minuten später führte er seinen schönen Schützling herein. Sie war neu und sorgfältig gekleidet; ihre Toilette sehr nett. Mit großem Anstand verneigte sie sich, schritt stolz und anmuthig auf den sie überrascht anblickenden Hausherrn los, senkte ein Knie vor ihm, und hob die Hände bittend zu ihm empor. Aber sie that das Alles wie auf der Bühne. Keine Thräne stieg ihr in’s Auge.

„Aufstehn!“ befahl der Banquier.

„Wie alt?“

„Dreizehn Jahre.“

„Wie heißen?“

„Helene von Löbenstein.“

„Wer war Vater?“

„Oestreichischer Offizier.“

„Mutter?“

„Sie sagte mir oft, daß ihre Eltern sehr vornehme Leute gewesen, aber nie hat sie mir nähere Angaben darüber gemacht.“

„Johann, noch ein Couvert!“ befahl der Hausherr dem aufwartenden Diener.

„Sie bleibt!“ flüsterte die Mutter dem Sohne freundlich lächelnd zu und Eduard drückte ihr dankbar und mit verklärten Zügen die Hand.


2.

Sechs Jahre später an einem trüben Herbsttage bewegte sich ein imposanter Leichenzug aus der Stadt dem hohen Friedhofe zu. Trauermarschälle begleiteten den kostbaren Leichenwagen, auf welchem ein massiver polirter und mit Beschlägen versehener Sarg stand. Die Frau Geheime Finanzräthin von Bleimüller wurde begraben. Wieder folgte Eduard Bleimüller mit Helenen von Löbenstein dem Sarge, aber diesmal machte er den Weg in einem eleganten Stadtwagen, in welchem sich auch sein Vater befand. Der Finanzrath saß gleichgültig neben Helenen im Fond, welche eben so wenig Zeichen der Trauer und des Schmerzes an den Tag legte. Eduard hatte gegenüber Platz und weinte still. Er bemerkte es nicht, wie die Augen seines Vaters dann und wann mit einem seltsamen Ausdruck auf Helenen’s reizender Gestalt weilten. Wie üppig hatte sich die Schönheit dieses Mädchens entfaltet! Sie galt bei weitem für die reizendste Dame des ganzen Landes und Niemand machte ihr diesen Rang streitig. Aber sie war eine von jenen Schönheiten, welche gleichsam vernichtend auf alle Männer wirken. Bezaubernd, majestätisch, stolz, sich aller ihrer Vortheile bewußt und sie mit Berechnung benutzend, hochgebildet in allen Dingen, welche die Gesellschaft in den Kreis ihrer Bildung gezogen hat, mit ihren Augen alle Männerherzen in ihrer Nähe entzündend, blieb sie selbst kalt, ruhig und streng. Hundert Männer aus den vornehmen Ständen umschwärmten sie, keiner hatte noch auch nur den kleinsten Vortheil über sie errungen; ihr Hof war von ungeheurer Ausdehnung; sie blieb die stets einsame Königin der Feste. Die besten Partien würden sich für sie gefunden haben, wenn man gewußt hätte, ob sie Miterbin des Finanzraths sein werde. Niemand wußte etwas Näheres über ihr eigentliches Verhältniß zu dem reichen Hause, in welchem sie aufgewachsen war. Viele hielten sie für die Verlobte des Sohnes, der still seinen weitumfassenden Studien lebte. Helene selbst war viel zu stolz und abstoßend, um eine Vertraute zu haben. Heute im reichen Trauergewande glich sie der Königin der Nacht; ihre dämonische Schönheit war überwältigend.

Eduard weinte allein am Grabe der geliebten Mutter; er hatte in ihr sein Alles, seine einzige Freundin verloren. Wer verstand nun noch den stillen Schwärmer? wer hauchte ihm nun noch einen erfrischenden Kuß auf die heiße Stirn, wenn er aus den Dichtergärten des Orients mit Blüthen beladen zu ihr trat?

Als er heim kam, fand er einen versiegelten Brief auf seinem Schreibtisch, in dessen Überschrift er mit schmerzlicher Ueberraschung die Hand der Verstorbenen erkannte. Er erbrach ihn hastig und las:

„Mein theurer Sohn!

Wenn Du diese Zeilen durchliesest, bist Du von meinem Begräbniß zurückgekehrt; so hab’ ich’s angeordnet. Die Worte der Sterbenden machen tiefern Eindruck, als die der Lebenden, Die meinigen sollen Dich warnen vor – Helenen, sollen Dich beschwören, das Mädchen aus dem Hause zu entfernen, es sei auf welche Weise es wolle. Ich sehe in die Zukunft; die Ahnung, daß dieses Mädchen das Unglück unseres Hauses ist, steht klar vor meiner Seele. Laß Dich nicht von ihrer Schönheit bethören, mein Sohn; Du würdest als ihr Gatte der unglücklichste Mensch sein. Helene hat kein Herz; sie kann nicht Seele gegen Seele tauschen; denn die ihre ist starr und kalt; sie kann nicht weinen, denn sie fühlt nichts für Andre. Der Stolz ist das Element ihres Wesens; sie ist eine entsetzliche Egoistin. Ich habe sie in der letzten Zeit vielfach beobachtet und geprüft und bin mit Widerstreben zu der ausgesprochnen Ueberzeugung gelangt, aber ich wollte Dir durch Eröffnung derselben nicht weh thun, denn ich weiß, Du bist von

[15] den schimmernden Eigenschaften ihres Geistes und Körpers eingenommen; ich fürchte, Du liebst sie. Entferne sie, mein Sohn! Entferne sie schnell, wo es noch Zeit ist. Höre auf die Warnungsstimme der Frau, die Dich über Alles liebte und die jetzt gleichsam aus dem Grabe zu Dir spricht. Zum letzten Male auf Erden
Deine Mutter.“ 

Eduard küßte die Schriftzüge und schloß den Brief ein. Er fühlte plötzlich klar, was bis jetzt noch nicht der Fall gewesen war, daß die Mutter in Bezug auf seine Neigung zu Helenen Recht gehabt, aber gerade deshalb war er aber auch sogleich entschlossen, ihrer Warnung Folge zu geben. Tagelang war er in stiller Trauer und in tiefem Sinnen, wie er es anfangen sollte, den letzten Willen der theuern Verstorbenen auszuführen. Er wußte es nicht und fand es nicht, und verließ wochenlang sein einsames Zimmer nicht. Endlich überwältigte ihn eine seltsame Angst, und er ging mit dem Briefe zu seinem Vater und trug ihm den Befehl der Mutter vor.

„Helene bleibt im Hause,“ versetzte der Finanzrath kalt und kehrte ihm den Rücken.

Eduard lebte in seiner Weise fort. Er studirte die arabischen und persischen Dichter, die Sanskritschriften und war für die Welt todt. Er sah und hörte in seinem stillen Paradiese nicht, was draußen vorging. Die heilige Wissenschaft hatte die Mauern desselben gefeit. Wie groß war also sein Erstaunen, als er nach einem Spaziergang im jungen Frühlingsgrün eine Karte und ein Billet seines Vaters auf seinem Tische fand, und auf der erstern las: „Geheimer Finanzrath von Bleimüller und Helene von Löbenstein. Verlobte,“ und im Letztern: „Du wirst mich verbinden, wenn Du das Gartenhaus beziehst. Ohnedies sind Gartenhaus und Garten Dein Eigenthum als mütterliches Erbe.“

Am andern Tage zog Eduard aus. Er wollte seinem Vater einen Abschiedsbesuch machen und – wurde abgewiesen. In der Fülle der Reize, welche der Frühling verschwenderisch über den Park ausgegossen hatte, der sein Eigenthum war, und in seinen Büchern, fand er reichlich Entschädigung für den Umgang mit Menschen, die nichts mit ihm gemein hatten. Es wehte ihm wie ein Eishauch von ihnen entgegen. Wohl wußte er jetzt, daß er Helenen geliebt, aber er fühlte auch, daß die verklärte Mutter ihn von dieser aufkeimenden Leidenschaft geheilt hatte. Aus redlichem wohlwollenden Herzen wünschte er dem Brautpaare Glück und ließ die Dinge gehen, die er nicht ändern konnte.




3.

Fünfzehn Jahre sind vergangen. An einem Frühlingsmorgen, wie vor einundzwanzig Jahren zieht der Armenleichenwagen eine Menschenhülle nach der Ruhestätte. Die Todtenfrau, Eduard Bleimüller und ein dreizehnjähriges Mädchen sind wieder die alleinigen Begleiter, ganz so wie damals. Die Frau ist dieselbe; Eduard ist ein ernster Mann, dessen Auge vom Glanze der ewigen Jugend strahlt, welche die Wissenschaft einem edlen Herzen verleiht. Das Mädchen aber ist die Tochter jenes Mädchens, welches einst hinter dem Sarge ihrer Mutter ging. Auch diese geht hinter dem Sarge ihrer Mutter. Die Leiche der Frau von Bleimüller auf dem Armenwagen!

Zehn Jahre hat sie als Gattin des Geheimen Finanzraths und Banquiers in fürstlicher Pracht und Herrlichkeit gelebt. Sie hat es recht darauf angelegt, Fürstinnen in Luxus auszustechen. Sie hat alljährlich in den vorzüglichsten Bädern, sie hat in Paris und London, in Wien und Berlin die vornehmste Welt um sich versammelt und Männer zu ihren Füßen gesehen, die zu befehlen gewohnt waren. Ihren auf sie stolzen und eitlen Gatten hat sie zu allen Thorheiten verleitet; sie hat ihn so vollständig beherrscht, daß er ihr gegenüber keinen eignen Willen mehr hatte. Und er war so schwach, ihr den durch sie herbeigeführten Ruin seines Vermögens nicht eher einzugestehen, bis er ein Bettler war. Nun überhäufte sie ihn mit den bittersten Vorwürfen und Schmähungen. Der alte Mann verschwand spurlos; Niemand erfuhr, wohin er gekommen war. Die reizende Frau versank in ein Leben voll vornehmer Schande. Nach fünf Jahren war sie bis zur tiefsten Gemeinheit herabgesunken und starb elend als Bettlerin. Eins hatte sie stets hartnäckig abgelehnt: Unterstützung von Eduard.

Die Unglückliche hinterließ eine Tochter, über deren Abkunft seltsame Gerüchte gingen. –

„O, mein Herr Bleimüller!“ sagte die Leichenfrau bitter lächelnd, als er, der die nöthigen Begräbnißkosten erlegt hatte, zu ihr trat, um der Verstorbenen das Geleite zu geben und die Hand des Kindes faßte, wie er einst die der Mutter gefaßt hatte, „wer hätte denken sollen, als wir diesen Weg zusammen zum ersten Male gingen, daß es so mit der da kommen würde!“ Und sie deutete mit einer wegwerfenden Bewegung auf den Sarg vor ihnen.

„Das sind die menschlichen Geschicke!“ versetzte der Gelehrte mit seinem ruhigen klaren Lächeln.

„Was soll denn nun aus der Kleinen da werden?“ fragte die Leichenfrau weiter. „Die ist ja eben solch’ ein Bettelkind, wie ihre Mutter war.“

„Sie geht wieder mit mir, wie ihre Mutter mit mir ging; ich erziehe sie, wie ich jene erzog. Ich werde mich nie verheirathen; sie soll meine Tochter und Erbin werden.“

„Sind Sie denn kein gebranntes Kind, Herr Bleimüller?“

„Böse Erfahrungen sollen uns nie abhalten, das Gute zu thun.“

„Und man sagt: das Mädchen sei gar nicht Ihre Schwester.“

„Mag sie’s sein, oder nicht. Sie hat keinen Menschen als mich. Ihre Mutter war mir einst theuer; jetzt soll’s die Tochter sein.“

„Gott segne Sie, edelster Mann!“

Er warf eine Hand voll Erde auf den eingesenkten Sarg, zerdrückte eine Thräne im Auge und ging still selig lächelnd, ein Bild der bescheidenen Tugend, das Mädchen an der Hand führend, in seinen einsamen Musentempel zurück.