Dreizehn Jahrhunderte französischer Musik
Die Bibliothèque Nationale zeigt gegenwärtig eine Ausstellung besonderer Sehenswürdigkeiten: französische Musik vom frühen Mittelalter bis zur Revolution, vom 6. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Es ist eine Sammlung, wie man sie in dieser gedrängten Fülle kaum wieder beisammen sieht. In dem einzigen Hauptraum der Galerie Mazarine sind 13 Jahrhunderte musikalischer Geschichte vereint, von dem berühmten Psalter von St. Germain des 6. Jahrhunderts bis zu den pariser Erinnerungsstücken des jungen Mozart. Der musikalische Laie oder der Nichthistoriker habe keine Sorge, in ein wissenschaftliches Seminar geführt oder mit Material überlastet zu werden. Es ist das Erfreuende an dieser Ausstellung, dass sie jede Weitschweifigkeit vermeidet. Sie ist ebenso reich wie knapp, gibt keine verwirrende Ausführlichkeit. Nur die ganz grossen wesentlichen Dinge werden gezeigt, diese aber in Prachtstücken, die über den jeweiligen musikalischen Denkmalswert hinaus stets in die allgemeine Geistesgeschichte hinüberdeuten. Also eine Ausstellung gerade für den Laien. Jeder sollte sie sehen, der für Musik Interesse hat.
Aber kann man Musik ausstellen? Ihr klingendes Wesen gewiss nicht. So wird dem Besucher wiederum klar die Vergänglichkeit dieser Kunst, die Unmöglichkeit sie zu fixieren, sei es durch Schrift, durch Druck, durch Bild. Erst die Schallplatte hat hierin eine Aenderung bewirkt. Eine künftige Ausstellung heutiger Musik mag daher wohl Anschaulichkeit anderer Art vermitteln, als diese Reliquiensammlung. Umso reizvoller ist es zu beobachten, wie in allmählicher Steigerung eine unfassbar ferne Welt des Klanges, anfangs nur in bunten Zeichnungen und rätselvollen Notierungen festgehalten, uns näherrückt, in Dokumenten, Porträts, Manuskripten, Druckschriften, Szenenbildern, Gegenständlichkeit gewinnt – bis zu jenem rein menschlich ergreifenden Brief des jungen Mozart, in dem er einem salzburger Freunde aus Paris den Tod der Mutter meldet und um schonende Weitergabe der Nachricht an Vater und Schwester bittet.
Es soll hier nicht der Katalog dieser Ausstellung abgeschrieben, es soll Lust gemacht werden, sie zu besuchen. Jeder wird auf seine Rechnung kommen. Der Theaterfreund sieht die kostbaren Gobelins der Sammlung Rothschild mit Armida-Szenen, Kostümentwürfe mit genauen Schnitt- und Stoffangaben des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Liebhaber von Autographen findet Originalhandschriften nicht nur musikalischer Art, wie von Glucks berühmter Alcesten-Arie, „Divinités du Styxe“. Er kann sich auch an Lullys oder Rameaus Heiratsverträgen erfreuen, oder an keineswegs prüden Liebesliedern vergangener Jahrhunderte die Unveränderlichkeit des Menschengeschlechtes feststellen. Und wer wird, auch wenn er „garnichts davon versteht“, an den mit unbegreiflicher Zartheit entworfenen Miniaturen der Evangelien- und Liederbücher des 9., 10., 11. Jahrhunderts vorübergehen, ohne sich immer wieder betroffen zu fragen, wie eigentlich jene Legende vom „dunklen“ Mittelalter jemals hat entstehen können. Menschen, die solches schufen, müssen wohl weit entfernt gewesen sein von dem, was eine ihre eigene Beschränktheit verkennende Nachkommenschaft dunkel nennt. Wie mag die Musik eigentlich geklungen haben, die in diese Zeichen eingeschlossen ist? Was die Historiker darüber behaupten, ist mehr als zweifelhaft. Sicher haben alle Zeiten, in denen Gesang und Saiteninstrumente dominierten, eine feinere und natürlichere Musik gehabt, als sie unser mechanisiertes Orchester ermöglicht.
Indessen handelt es sich nicht um eine allgemeine, sondern um eine französische Musikausstellung, die überhaupt erste dieser Art. Hierin liegt über dem Reiz der Einzelprojekte hinaus ihr besonderer Wert. Indem sie die entscheidenden Geschichtspunkte und Persönlichkeiten hervorhebt, zieht sie die Kurve der rein französischen Musik. Was zeigt sie? Bis hinauf zur Renaissance jenes Nebeneinander von sakraler und profaner Musik, das bedingt wird durch den Gegensatz zwischen geistiger Universalherrschaft der Kirche und nationaler Sprachkultur, wie sie im französischen Chanson von den Zeiten der Troubadours her musikalisch durchbricht. Diese französische Musik hat stets die heitere Weltlichkeit bevorzugt, auch wo sie in den grossen frühmittelalterlichen Schulen von Metz, Paris, Cambrat die spekulative Gelehrsamkeit pflegte. Aber erst die Spätrenaissance bringt mit dem Vordringen der Oper den Aufschwung zur Kunst grossen Stiles. Diese Zusammenfassung geschieht durch einen Ausländer: der Italiener Lully repräsentiert die Zeit Louis’ XIV. Die musikalische Praxis unserer Zeit weiss nichts mehr von diesem ersten europäischen Theaterdespoten. Aber selbst beim Durchwandern dieser Ausstellung spürt man, wie die bis dahin stille und zarte Physiognomie der französischen Musik die starken, gebieterischen Züge der Lully-Maske annimmt, wie sie Weltformat gewinnt.
Zweite Etappe: über das französische Genie Rameau, den Voltaire der Musik und theoretischen Begründer der modernen Harmonielehre hinaus erfolgt das Eindringen der italienischen Buffa. Ihr Erfolg bestärkt die Auflehnung gegen das überhöhte Pathos der Opéra und die Lebensfremdheit des höfischen Ballettes: die Naturlehre Rousseaus, der als Nachahmer der Italiener die Grundform des Vaudeville, damit der Opéra comique schafft. (Ihre späteren Vertreter, Grétry, Isouard, Philidor, Monsigny sind in der Ausstellung am dürftigsten behandelt.)
Dritte Etappe: es erscheint der italienisierte Deutsche Gluck, viel umkämpft als Günstling der Marie Antoinette (auch ihre kunstvoll gebaute Harfe ist zu sehen). Wieder ein Fremder. Wo lebt die eigentlich französische Musik? Im Chanson, im Tanz, im Instrumentalspiel, wie es der grosse Couperin, später die Meister der Violine und Flöte vertreten. Stets zeigt sich eine feine und sensible Kultur, vorherrschende Bedeutung aber gewinnt sie immer nur da, wo die Kräfte des Auslandes zu ihr stossen – Italiener und Deutsche. Ist es in Deutschland anders? Die deutschen Musiker des 17. und 18. Jahrhunderts ziehen nach Italien und das musikgesegnete Italien hat solchen Zustrom der fremden Talente ebenso nötig, wie diese die italienische Singkultur. Der italienisierte Deutsche Händel geht nach England. Und wie gestaltet sich das Bild im 19. Jahrhundert? Ist Wagner denkbar ohne die pariser Opéra Spontinis und Meyerbeers?
Wo ist je Musik von universeller Geltung geschaffen worden?
Nur da, wo die nationalen Kräfte durch Mischung mit fremdländischen Elementen zu höchster Lebensintensität gesteigert wurden. Niemals also in der Autarkie, immer nur im Austausch. Man könnte die gleiche Ausstellung in jedem Musiklande machen, sie würde im Prinzipiellen überall das Gleiche lehren. So zeigt sie die eigentümliche Schönheit, zeigt gleichzeitig die Begrenztheit des Nationalen im Geschichtsbild der Musik. Und wenn sie mit Mozart ausklingt, so bricht sie zwar scheinbar im wichtigsten Augenblick unvollendet ab. Damit aber bezeichnet sie zugleich den für unsere Erkenntnis letzten Moment des Zusammenflusses aller Kräfte: die Erfüllung des Renaissanceideales. Zu Beethoven fehlen die unmittelbaren persönlichen Beziehungen, sonst müsste sinngemäss er den Abschluss bilden als vollendeter Repräsentant der französischen Revolutionsidee in der Musik.
Von hier aus beginnt auch in der Musik das Auseinanderfallen, und wieder marschieren die Musiker zurück in ihre nationalen Bezirke.