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Edelweiß

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Edelweiß
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 333–342
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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[333]
98. Edelweiss

Ho Huans Vater war frühe gestorben. Er hatte ihn in zarter Jugend zurückgelassen. Der Knabe war überaus klug und begabt. Mit elf Jahren wurde er als Wunderkind in die Kreisschule aufgenommen. Seine Mutter liebte ihn über alle Maßen und ließ ihn nie zur Tür hinaus. Als er dreizehn Jahre alt war, kannte er noch nicht einmal seine verschiedenen Verwandten.

Im selben Dorfe lebte ein Friedensrichter namens Wu. Der beschäftigte sich mit geheimem Sinn, ging ins Gebirge und kam nicht wieder heim. Seine Tochter hieß Edelweiß. Sie war vierzehn Jahre alt und über alle Maßen schön. In ihrer Kindheit hatte sie heimlich ihres Vaters Bücher gelesen und sich das Leben der Ho Siän Gu zum Vorbild genommen. Als ihr Vater verschwunden war, entschloß sie sich, unverheiratet zu bleiben, und ihre Mutter konnte sie in diesem Entschlusse nicht irremachen.

Eines Tages war Ho Huan vor der Tür und erspähte sie. Der Knabe, unwissend, wie er war, fühlte nur in seinem Herzen eine starke, unerklärliche Zuneigung aufkeimen. Er erzählte es seiner Mutter gerade heraus und bat sie, das Mädchen holen zu lassen. Die Mutter wußte, daß das nicht ging; darum machte sie Schwierigkeiten. Da wurde der Knabe traurig und verlor sich selbst. Die Mutter gab in ihrer Sorge den Wünschen ihres Sohnes nach und schickte jemand zu der Familie, um wegen einer Heirat Verbindungen anzubahnen. Dort wies man alles ab. Der Knabe mußte nun bei allem, was er tat, an die Geliebte denken, und doch wußte er keinen Rat.

Da traf er eines Tages einen Taoisten unter der Tür. Der hatte eine kleine, fußlange Hacke bei sich. Der Knabe nahm sie in die Hand und sah sie an; dann fragte er, wozu sie diene.

[334] Der Taoist erwiderte lächelnd: „Das ist zum Kräuterhacken. Das Ding ist klein; aber man kann die härtesten Steine damit zerteilen.“

Der Knabe glaubte noch nicht recht daran; da schlug der Taoist damit nach einem Mauerstein, und richtig fiel er auf den ersten Streich herunter und zerbröckelte. Der Knabe war verwundert. Er hielt das Ding in der Hand und mochte es gar nicht wieder hergeben.

Lächelnd sprach der Taoist: „Wenn dus haben willst, so will ich dirs schenken!“

Hocherfreut bot der Knabe ihm Geld an. Jener aber nahm nichts von ihm. Der Knabe trug die Hacke mit sich ins Haus zurück. Er probierte sie an Ziegeln und Steinen; nichts widerstand ihrer Kraft. Da fiel ihm ein, er könne die Geliebte sehen, wenn er damit ein Loch durch ihre Mauern grübe. Das nahm er sich vor, ohne an etwas Böses dabei zu denken. Rasch stieg er über die eigene Hofmauer und lief weg, geradezu nach dem Hause der Geliebten. Zwei Mauern mußte er durchgraben, da stand er im innern Hof. In einem kleinen Zimmerchen brannte noch Licht. Er schlich sich herzu und spähte hinein, da stand Edelweiß im Nachtkleid. Bald darauf erlosch das Licht, und es war still und lautlos. Er machte ein Loch ins Fenster und stieg hinein. Das Mädchen schlief schon fest. Sachte zog er die Schuhe aus und schlich ganz leise ans Bett. Er fürchtete aber, das Fräulein könnte erwachen und ihn fortschicken; darum kroch er ganz vorsichtig an den inneren Rand des Bettes und legte sich dort neben die gestickten Decken. Ein leichter Duft drang zu ihm, und all seines Herzens Sehnen war gestillt. Da er aber die halbe Nacht gearbeitet hatte, war er recht müde geworden. Nach einer Weile schloß er die Augen und schlief unversehens ein. Das Mädchen wachte auf. Sie hörte seinen Atem gehen, sie öffnete die Augen und sah das Loch im Fenster, zu dem es hell hereinkam. Sie erschrak aufs äußerste. Schnell stand sie auf und rüttelte leise die Magd wach. Sie [335] öffneten den Riegel und schlichen hinaus. Dann klopften sie ans Fenster des Nebenzimmers, wo die andern Mägde schliefen, und riefen um Hilfe, und die ganze Schar kam herbei. Man machte Licht, bewaffnete sich mit Stöcken, um nachzusehen. Da erblickte man einen jungen Schüler, der süß auf der Decke des Bettes schlummerte. Man sah näher zu, da war’s der junge Ho Huan. Man mußte ihn rütteln, ehe er erwachte. Er richtete sich auf. Es flimmerte ihm vor den Augen wie Sternschnuppen, doch tat er nicht sehr zag. Alle deuteten auf ihn als einen Dieb und schrien in ihrer Angst ihn an.

Da fing er an zu weinen und sagte: „Ich bin kein Dieb. Ich habe nur das Fräulein so lieb und wollte einmal in ihrer Nähe sein.“

Nun sah man nach den Löchern in den Mauern und besprach sich darüber, daß ein Knabe so etwas nicht fertig bringen könne. Da zog er seine Hacke hervor und erzählte von ihrer Wunderkraft. Er ließ sie auch probieren. Man erschrak und wunderte sich über diese Göttergabe. Die Mägde wollten die Sache der Mutter erzählen. Das Mädchen stand mit gesenktem Kopf in tiefen Gedanken daneben und schien nicht damit einverstanden.

Da errieten sie ihre Gedanken und sagten: „Der Knabe stammt aus einer guten Familie und scheint nichts Böses gedacht zu haben. Wir wollen ihn laufen lassen. Der heiratet Euch sicher noch! Wie wärs, wenn wir Eurer Mutter morgen früh nur sagten, es sei ein Dieb dagewesen.“

Das Mädchen sagte nichts. Sie drängten den Knaben zu gehen; der wollte aber erst seine Hacke wiederhaben.

Lächelnd gab sie ihm eine Magd und sprach: „Der fixe Kerl! Sein schlimmes Werkzeug vergißt er nicht.“

Der Schüler entdeckte neben den Kissen einen Haarpfeil. Den barg er heimlich in seinem Ärmel. Eine Magd ertappte ihn dabei. Hastig entschuldigte er sich. Das Mädchen sprach kein Wort, war aber auch nicht böse.

Eine Alte klopfte ihm auf die Schulter und sprach: „Ihr [336] dürft ihn keinen fixen Kerl nennen! Er ist noch jung und unerzogen.“

Dann schleppten sie ihn hinaus. Er kroch wieder durch die Löcher und ging heim. Seiner Mutter wagte er die Geschichte nicht zu gestehen, sondern bat sie nur, nochmals eine Ehevermittlerin hinzuschicken. Sie brachte es nicht über sich, ihm geradezu es abzuschlagen; doch wollte sie sich für ihn nach einer andern Verbindung umsehen. Edelweiß erfuhr davon. Sie war bestürzt und schickte im geheimen eine Vertraute zur Mutter des Schülers, ihr eine Andeutung zu geben. Erfreut sandte diese nun eine Ehevermittlerin zu der Familie Wu.

Eine junge Magd aber hatte das nächtliche Erlebnis Frau Wu verraten. Die empfand es als Schmach und ward sehr aufgeregt. Als nun die Ehevermittlerin kam, vermehrte das noch ihren Groll. Sie war für nichts zu haben, sondern beschimpfte den Schüler und seine Mutter. Erschrocken schlich sich die Ehevermittlerin aus dem Hause und erzählte, was ihr begegnet sei.

Da wurde auch die Mutter Ho böse und sagte: „Ich hab kein Wörtchen davon erfahren, was der dumme Junge angestellt hat. Was ist das für eine Art, nachträglich zu schimpfen! Warum haben sie denn damals, als sie die beiden beisammen ertappten, sie nicht miteinander umgebracht?“

Von da an begann sie, allen ihren Verwandten und Bekannten die Sache zu erzählen. Das Mädchen hörte davon und wollte sterben vor Scham. Ihrer Mutter tat es nun auch leid; aber sie konnte es nicht mehr ungeschehen machen. Das Mädchen sandte im geheimen, der Mutter ihres Geliebten freundlich zureden zu lassen. Sie schwor, nie einen andern heiraten zu wollen, und ihre Worte waren so traurig, daß die Mutter davon gerührt wurde und nicht mehr über den Vorfall sprach. Von Heiratsplänen war aber auch nicht mehr die Rede.

Es kam ein neuer Beamter in die Gegend, der sah die Aufsätze des Jünglings und fand sie vorzüglich. Er berief [337] ihn in seine unmittelbare Nähe und begünstigte ihn auf allerlei Weise. Eines Tages fragte er ihn, ob er schon verheiratet sei.

Er verneinte, und als er Näheres wissen wollte, erwiderte der Jüngling: „Ich hatte wohl früher einmal ein Verlöbnis geschlossen mit der Tochter des verstorbenen Friedensrichters Wu. Doch gab es später Uneinigkeiten, und das Verlöbnis schlief wieder ein.“

„Und möchtest du sie denn immer noch haben?“ fragte der Beamte.

Errötend schwieg der Jüngling. Da lächelte jener: „Ich wills für dich besorgen.“

Er sandte einen Untergebenen mit einem Geldgeschenk in die Familie. Die Mutter war erfreut, die Hochzeit wurde festgesetzt, und nach einem Jahr führte der Jüngling die Braut in seiner Mutter Haus.

Die Braut nahm die kleine Hacke, warf sie zu Boden und sprach: „Dieses Diebsgerät wollen wir vernichten!“ Lächelnd erwiderte der Jüngling: „Es hat uns doch zusammengebracht; wir wollens nicht vergessen.“ Sorgfältig hob er die Hacke auf und trug sie immer bei sich.

Die junge Frau war stets freundlich, aber schweigsam. Täglich besuchte sie dreimal ihre Schwiegermutter. Im übrigen schloß sie die Tür zu und saß still da. Um die Haushaltung kümmerte sie sich nicht sonderlich; nur wenn die Schwiegermutter etwa zu Beileid- oder Glückwunschbesuchen auswärts war, sorgte sie dafür, daß alles in bester Ordnung blieb. Nach zwei Jahren gebar sie einen Sohn, doch überließ sie ihn der Amme, ohne viel nach ihm zu sehen.

Wieder vergingen vier, fünf Jahre, da sprach sie plötzlich zu ihrem Manne: „Wir genießen nun die Freuden der Liebe seit acht Jahren. Doch geht es nicht an, über dem Kleinen das Große zu vergessen.“

Erschrocken fragte er, wie sie das meine; doch sie war schon in tiefes Schweigen versunken. Sie tat Feierkleider [338] an und besuchte die Schwiegermutter. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Er ging hinein, nach ihr zu sehen. Da lag sie mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf ihrem Bett, und ihr Atem stand stille. Mutter und Sohn waren von herbem Schmerz ergriffen. Man besorgte einen Sarg und beerdigte sie.

Frau Ho war alt und hinfällig. Jedesmal, wenn sie das Enkelkind auf den Arm nahm, gedachte sie seiner Mutter, und es gab ihr einen Stich ins Herz. So wurde sie allmählich krank, daß sie nicht mehr aufstehen konnte und alle Nahrung verschmähte. Nur nach Fischen hatte sie Lust. Doch gab es keine Fische in der Nähe. Hundert Meilen weit erst konnte man sie kaufen. Die Diener, die man ausschickte, kamen alle unverrichteter Sache wieder zurück. Da der Jüngling seine Mutter von Herzen ehrte, konnte er es nicht länger mit ansehen, steckte Geld zu sich und machte sich einsam auf den Weg. Tag und Nacht gönnte er sich keine Ruhe. Schließlich kam er an ein Gebirge. Die Sonne war schon gesunken, hinkend schleppte er sich weiter, Schritt vor Schritt. Ein Greis holte ihn ein und fragte ihn: „Du hast dir wohl die Füße wund gelaufen?“ Er bejahte. Der Greis zog ihn am Straßenrand zum Sitzen nieder, schlug Feuer, tat ein Pulver in ein Papier und räucherte ihm die beiden Füße ein. Als er fertig war, hieß er ihn das Gehen versuchen. Der Schmerz hatte ganz aufgehört, und er fühlte sich neu gestärkt. Er bedankte sich von Herzen.

Der Greis fragte, warum er denn so eilig sei? Er erzählte ihm von der Krankheit seiner Mutter und kam schließlich auf seine ganze Geschichte zu sprechen.

„Warum heiratest du denn nicht wieder?“ fragte der Greis.

„Eine so gute Frau wie sie hab ich nimmer gesehen“, war die Antwort.

Der Greis deutete auf ein Bergdorf: „Da drin lebt eine Schönheit. Willst du mit mir gehen, so will ich ein gutes Wort für dich einlegen.“

[339] Der Jüngling lehnte ab; er müsse Fische holen für seine kranke Mutter und habe wirklich keine Zeit. Da reichte ihm der Greis die Hand und machte einen andern Tag mit ihm aus. Er solle nur in das Dorf gehen und nach dem alten Wang fragen. Dann verabschiedete er sich und ging.

Der Jüngling kehrte heim, bereitete die Fische und gab sie seiner Mutter zu essen. Die Krankheit wurde besser, und nach ein paar Tagen war sie wieder gesund. Da nahm er einen Knecht und Pferde mit sich und ging, den Greis zu suchen. Am alten Platze angekommen, fand er den Ort des Dorfes nicht wieder. Unter dem Suchen verstrich die Zeit. Die Abenddämmerung fiel allmählich nieder, die Gegend war zerklüftet, und ein freier Ausblick war nicht möglich. Da trennte er sich von seinem Knechte und stieg auf einen Berg, um Ausschau zu halten nach einer menschlichen Niederlassung. Aber der Bergpfad war steil und steinig, man konnte nicht mehr reiten; so kletterte er denn zu Fuß empor. Die Abendnebel stiegen, und wie er sich auch umblickte, es war kein Dorf zu sehen. Schon wollte er wieder den Berg hinab; aber er hatte den Weg verloren, und die Aufregung brannte ihm im Herzen wie Feuer. Mitten im hastigen Suchen fiel er im Dunkeln eine steile Felswand hinunter. Glücklicherweise war einige Fuß weiter unten ein kleiner ebener Grasfleck, auf den er beim Fallen zu liegen kam, nur eben so breit, daß er Platz darauf hatte. Er blickte nach unten, da sah er vor sich die schwarze, bodenlose Tiefe. In seiner Angst wagte er sich nicht zu rühren. Zum Glück wuchsen am Rande des Abgrundes kleine Bäume, die ihn wie ein Geländer umgaben. Nach einiger Zeit entdeckte er zu seinen Füßen die Öffnung einer kleinen Höhle. Die Freude leuchtete ihm im Herzen auf; er kroch auf allen vieren hinein. Er wollte ein wenig ruhen, in der Hoffnung, am andern Tage Hilfe herbeirufen zu können. Auf einmal erblickte er in der Tiefe einen Lichtschein wie ein Sternchen. Er ging darauf zu. Nach zwei, drei Meilen entdeckte er plötzlich Gebäude. [340] Keine Kerze war vorhanden, und doch war es hell wie am lichten Tag. Ein schönes Mädchen kam aus dem Hause hervor. Er sah sie an, da war es Edelweiß. Als sie ihn sah, sprach sie erschrocken: „Wie hast du denn den Weg hierher gefunden?“ Der Jüngling nahm sich keine Zeit zum Reden; er faßte sie bei der Hand und seufzte tief. Das Mädchen beschwichtigte ihn und fragte nach der Mutter und dem Kind. Da erzählte er ihr sein ganzes Leid, und Edelweiß ward auch betrübt.

Er sprach: „Du bist nun über ein Jahr tot. Bist du denn nicht in der Unterwelt?“

„Nein,“ sagte sie, „das ist ein Ort der Seligen. Ich bin damals nicht wirklich gestorben. Was ihr begraben habt, war nur ein Stück Holz. Nun bist du da und sollst auch teilhaben an der Seligkeit.“

Damit führte sie ihn zu ihrem Vater. Das war ein Mann in langem Bart. Der Jüngling nahte sich grüßend, und Edelweiß sagte: „Mein Mann ist gekommen.“

Der Alte erhob sich erschrocken, winkte mit der Hand und begrüßte ihn obenhin. Edelweiß sprach: „Es ist gut, daß er gekommen ist; wir müssen ihn hierbehalten.“ Doch sagte der Jüngling, seine Mutter sehne sich nach ihm, er könne nicht lange bleiben.

Der Alte sprach: „Ich weiß das wohl. Aber wenn du ein paar Tage später heimkommst, tut es auch nichts.“ Dann setzte er ihm Wein und Speisen vor und befahl der Magd, ein Bett im Nebenzimmer für ihn herzurichten. Als er sich zurückzog, wollte er seine Frau mit sich nehmen. Die wies ihn ab und sprach: „Hier ist nicht der Ort für solche Zärtlichkeiten.“ Doch er nahm sie am Arm und ließ sie nicht mehr los. Vor dem Fenster die Magd kicherte. Da schämte sich Edelweiß noch mehr. Während sie sich noch stritten, kam der Alte herein und fuhr ihn an: „Du Erdenwurm beschmutzest meine Wohnung, du mußt fort!“

Da schämte sich der Jüngling über alle Maßen; doch sprach er trotzig: „Die Liebe zwischen Mann und Frau [341] ist etwas, dem wir Menschen nicht entgehen. Was braucht Ihr Euch darum zu kümmern, Alter? Ich bin bereit zu gehen, aber meine Frau muß mit mir.“

Der Alte widersprach nicht. Er winkte seiner Tochter, ihm zu folgen. Dann führte er ihn zur Hintertür hinaus. Kaum war er vor der Tür, da schlugen Vater und Tochter sie zu und verschwanden. Er sah sich um. Da sah er eine steile Felswand vor sich ohne die kleinste Ritze noch Spalte. Einsam und verlassen stand er da und wußte nicht, wohin sich wenden. Er blickte zum Himmel auf. Der schräge Mond strahlte hoch droben. Die Sterne waren schon am Verblassen. Lange stand er erregt da. Er tat sich selber leid und machte sich doch auch Vorwürfe. Er kehrte sich der Wand zu und rief. Aber da war keine Antwort. Ergrimmt holte er seine kleine Hacke aus dem Gürtel und begann sich einen Weg hineinzugraben. Er grub und schalt. Im Augenblick war er drei, vier Fuß weit eingedrungen. Da horte er ganz drinnen eine Stimme sprechen: „Du ungeratenes Kind!“ Da grub er mit vermehrter Kraft. Im Grunde der Höhle öffnete sich eine Tür. Der Alte schob Edelweiß hinaus und sagte: „Geh! Geh!“ Dann schloß sich die Felswand wieder. Schmollend sagte sie zu ihm: „Wenn du mich als deine Frau liebhast, warum hast du meinen Vater so behandelt? Was für ein alter Taoist mag das gewesen sein, der dir dies üble Werkzeug gab, mit dem du die Leute zur Verzweiflung bringst!“

Als der Jüngling seine Frau wiederhatte, da war er froh und getrost und ließ sie reden. Nur das machte ihn besorgt, daß der Weg so steil und die Heimkehr so schwer sei. Edelweiß brach zwei Zweige ab; jedes setzte sich auf einen, da wurden Pferde daraus, und im Fluge ging’s davon. Im Augenblick waren sie zu Hause.

Sieben Tage hatte man den Jüngling schon vermißt. Als er sich von dem Knecht getrennt hatte, hatte der ihn vergebens gesucht. Dann war er heimgegangen und hatte es der Mutter gesagt. Die hatte Leute ausgesandt nach [342] allen Richtungen, Berg und Tal wurden durchstreift; aber keine Spur hatte sich gefunden. Sie war eben ganz fassungslos vor Aufregung, da hörte sie, ihr Sohn sei wieder da. Hocherfreut ging sie ihm entgegen. Wie sie aufblickte, sah sie die Frau. Vor Schreck wäre sie beinahe umgefallen. Ihr Sohn erzählte ihr seine Erlebnisse, und die Mutter war froh, sie wiederzuhaben.

Edelweiß aber fürchtete, ihre seltsamen Schicksale würden das Gerede der Leute erregen. So bat sie die Mutter, an einen andern Ort zu ziehen. Die wars zufrieden, und sie zogen um. Kein Mensch erfuhr von der Sache. Achtzehn Jahre wohnten sie friedlich beisammen, da starb die Mutter.

Edelweiß sprach zu ihrem Mann: „In meiner Heimat ist eine Wiese, da lebt ein Fasan, der acht Eier brütet. Dort wollen wir sie begraben. Unser Sohn ist nun schon erwachsen. Wir brauchen nicht wiederzukehren.“ Ihr Mann war einverstanden. Nach dem Begräbnis schickten sie den Sohn allein zurück. – Als er aber nach einem Monat wiederkam und nach seinen Eltern sah, da waren beide verschwunden.

Anmerkungen des Übersetzers

[404] 98. Edelweiß. Vgl. Liau Dschai.