Ein Asyl für die verwahrloste Jugend
Ein Asyl für die verwahrloste Jugend.
Wenn man von Leipzig’s schattigster Promenade, dem Rosenthal aus, sich rechts der Brücke zuwendet, die über die Elster nach dem Exercierplatze führt, so gewahrt man ein kleines freundliches Gebäude, das erst im Laufe dieses Sommers entstanden ist. Das vom Ufer der Elster weg einige Fuß aufsteigende Terrain; der lange, sich hinter dem Hause wegziehende Garten, die grünenden Felder und jungen Bäume in ihm; der lebendige Haag ringsherum; unten der Fluß und der rauschende Wald: das Alles zusammen macht einen so angenehmen Eindruck, daß der Vorübergehende wohl gern einige Minuten im Beschauen des reizenden Bildes verweilt. Das auf dem Giebel des Gebäudes hervorspringende niedliche Glockenthürmchen erregt dabei gewiß nicht wenig seine Aufmerksamkeit. Ohne das Thürmchen, in welchem man die Glocke schweben sieht, könnte das Haus recht gut für einen der ländlichen Ruhesitze gehalten werden, deren es um Leipzig her so viele giebt: so aber scheint es doch eine andere Bestimmung zu haben. Die Neugier läßt ihn dann vielleicht näher treten, er fragt, und vernimmt, daß er vor dem neuen Rettungshause für verwahrloste Kinder steht.
Welche Kette von Gedanken reiht sich an dieses Wort! Der Eine faltet vielleicht düster die Stirn, der Andere freudig die Hände; und Beide meinen es wohl gleich ehrlich, sind von gleichem Eifer beseelt, wo es eine so schöne Aufgabe gilt, wie die verwahrloste Jugend zu retten. Es findet sich diese Einrichtung fast in Allem: die Mehrzahl der Menschen ist weit häufiger über den Zweck einverstanden als über die Mittel.
Die neuern Rettungshäuser sind eine Schöpfung der über das protestantische Deutschland verbreiteten innern Mission, welche vornehmlich den Zweck hat: [326] Unter den ärmern Klassen der Bevölkerung durch Werkthätigkeit den religiösen Sinn zu fördern. Die Verbreitung der sogenannten Tractätlein, das Abhalten von Missionsfesten, Betstunden und allerlei andern kirchlich-religiösen Uebungen spielt keine geringe Rolle neben dieser Werkthätigkeit, für welche letztere übrigens die Rettungshäuser einen wesentlichen Gegenstand bilden.
Das „rauhe Haus“ in Hamburg, das vor ungefähr zwanzig Jahren von dem bekannten Dr. Wichern gegründet wurde und, seitdem zu einem umfangreichen Etablissement angewachsen, von diesem jetzt noch geleitet wird, ist, wie überhaupt die Pflanzschule der innern Mission, so auch das Muster für die vielen nach und nach entstandenen Rettungshäuser. Das Rettungshaus ist bestimmt, solche jugendliche Gemüther, welche bereits auf verkehrte und böse Abwege gerathen sind, auf den Pfad des Guten zurückzuführen und zu gebesserten und nützlichen Menschen zu machen. Im rauhen Hause nun werden zu diesem Zwecke die Kinder den sogenannten „Brüdern“ zur Beaufsichtigung und Besserung zugetheilt. Diese Brüder sind junge Männer, welche sich in dem, ebenfalls zum rauhen Hause gehörigen Seminar für innere Mission, zu Rettungslehrern, Gefängnißwärtern, Bibel- und Tractätlein-Colporteuren und dergleichen ausbilden. Ein solcher Bruder bildet mit zwölf, bisweilen auch mehr Knaben eine „Familie“ und hat hauptsächlich die religiösen Uebungen, auf welche das Wirken dieser Anstalt vorzugsweise hinausläuft, zu leiten. Das Uebermaß der religiösen Uebungen ist es, was selbst unter sonst eifrigen Anhängern der Rettungshäuser vieles Bedenken erregt hat. Zu den an fünf verschiedenen Tageszeiten stattfindenden Gebeten, kommt noch Bibel- und Katechismuslesen; Bibelgespräche und Andachten aller Art kreuzen sich die ganze Woche hindurch, und nehmen besonders zur Zeit der christlichen Feste kein Ende. Der eigentliche Unterricht ist nicht viel mehr als eine Fortsetzung dieser geistlichen Uebungen, da er sich in der Hauptsache auf alt- und neutestamentliche Geschichte, auf Lesen und Erklären der Bibel und des Katechismus beschränkt. Die vom rauhen Hause selbst gemachten Erfahrungen haben bewiesen, daß man auf diese Weise wohl ein „bibelfestes“ Geschlecht erzog, nicht aber ein frisches, freudiges, Gott wirklich vertrauendes.
Das ausgedehnte Bibelleben, das im rauhen Hause herrscht, läßt zur anderweitigen Ausbildung der Kinder nur verhältnißmäßig wenig Zeit übrig. Doch werden die Knaben im Schneidern, Schustern und einigen andern Handwerken, die Mädchen im Kochen, Waschen, Nähen und dergleichen unterwiesen. Auch in Feld und Garten wird gearbeitet. Es wird dergestalt sowohl der eigene Bedarf der Anstalt hergestellt, als auch die Kinder zu etwaigen Erwerbsberuf vorgebildet, und hierfür könnte man nur Lobsprüche haben, wenn nicht eben das rauhe Haus durch seinen Bibelfanatismus zum großen Theil nur Menschen heranzöge, die entweder Heuchler sind, oder deren geknickter Muth die Quelle alles echten Lebensglücks trübt.
So viel von dem rauhen Hause, das den be- und entstehenden Rettungshäusern für verwahrloste Kinder insgemein zum Muster dient. Die Idee der Rettungshäuser selbst ist übrigens älter als alle innere Mission, und hat den wackern Johann Heinrich Pestalozzi (der Leser entblöße sein Haupt!), geb. 1746 zu Zürich, zum Vater. Pestalozzi hatte bei einem, schon in seinen jüngern Jahren vielgestaltigen Leben das sittliche Elend des Volks aus eigener Anschauung kennen lernen, und begann 1775 seine pädagogische Wirksamkeit mit der Aufnahme verlassener Bettelkinder. Sein Princip war das der reinsten Menschenliebe ohne allen frömmelnden Beigeschmack; er wollte die ärmern Volksklassen durch naturgemäße Erziehung und Unterricht wirklich heben, und ließ dabei die Beschäftigung der Jugend in Gottes schöner freier Natur als wesentliches Bildungsmittel wirken. Für diesen Gedanken arbeitete er durch Schrift und That. Das erste Rettungshaus im größern Maßstabe legte Pestalozzi mit Unterstützung des damaligen schweizerischen Direktoriums 1798 in Stanz an, wo er nahe an 80 Kinder um sich vereinigte. Aehnliche Anstalten gründete er in Burgdorf, München-Buchsee und Yverdun, nicht ohne mancherlei Anfechtungen von Seiten der schweizerischen Aristokratie, der er als Liberaler eine mißliebige Persönlichkeit war. Unsere Zeit hat ihm Denkmäler errichtet und Vereine gestiftet, die seinen Namen tragen.
Das neue Rettungshaus unweit des Rosenthales verdankt seine Entstehung dem Leipziger Pestalozzi-Verein. Die Anstalt, welche nur den Grundstein zu einem größern Institute bilden soll, ist vorerst zur Aufnahme von 30 Kindern (Knaben) eingerichtet, wobei jedoch zunächst nur mit der Hälfte dieser Zahl der Anfang gemacht werden wird. Die innere Einrichtung des Hauses entspricht in allen Theilen den Zwecken desselben; Alles ist luftig, sonnig und geräumig. Zum Schlafen sind die in verschiedene Abtheilungen getrennten Dachräume bestimmt, eine davon für den stets und überall gegenwärtigen Aufseher. Die übrigen Stockwerke enthalten die Wohnung des Lehrers, Schul- und Betsaal, anderweitige Zimmer zum Aufenthalte für die Kinder u. s. w., desgleichen einige Räume zu Schuhmacher-, Schneider- und Schlosserwerkstätten, in welchen Professionen die Knaben so weit unterwiesen werden sollen, daß sie ihren eigenen Bedürfnissen zu genügen wissen. Eine vorzügliche Stelle in ihrer Beschäftigung wird die Arbeit in Feld und Garten einnehmen, an welche sich zur Vervollständigung der Oekonomie ein kleiner Viehstand reiht. Gerade von diesem ländlichen Beschäftigungsleben kann man aber den wohlthätigsten Einfluß auf die jungen Gemüther der Knaben, die hier zur Besserung, nicht zur Strafe, ein Unterkommen finden, erwarten. Das Turnen, als Mittel zur Ausbildung des Körpers, ist nicht vergessen worden.
Obschon auch hier das rauhe Haus in Hamburg zum Muster gedient hat, so werden doch in dem Erziehungsplane selbst voraussichtlich einige andere Normen eintreten. Dafür spricht schon die äußere Anlage der Anstalt; dafür spricht weiter der offen ausgesprochene Grundsatz, daß die Knaben ganz besonders für ländliche Beschäftigungen erzogen werden sollen; dafür bürgen endlich auch die Namen der Männer (Dr. Vogel, Director der I. Bürgerschule, Conditor Felsche, Kaufmann [327] Limburger u. A.; von Seiten des Raths Dr. med. Lippert-Dähne), welche fördernd an der Spitze des Unternehmens stehen. Das religiöse Element soll allerdings die ihm gebührende Stelle einnehmen, nur soll nicht das des Unterrichts und der Beschäftigung allzu sehr in ihm untergehen.
Das noch im Bau begriffene Rettungshaus wird im Herbst d. J. eingeweiht werden, und für seine gedeihliche Zukunft ist ihm nur wiederholt zu wünschen, daß in den freundlichen Räumen stets der Geist eines Pestalozzi, nie der eines Dr. Wichern walten möge!