Ein Belvedere im Alpenlande

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Textdaten
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Autor: Friedrich Spielhagen
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Titel: Ein Belvedere im Alpenlande
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 458–462
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Hommage an Interlaken
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Ein Belvedere im Alpenlande.
Von Friedrich Spielhagen.

Die halbe gebildete Menschheit kennt Interlaken, das unvergleichliche Sommerparadies am Fuße der Berner Hochalpen, die andere Hälfte möchte es gern kennen lernen. Ob es unter Denen, die es kennen, solche giebt, die es nicht lieben, weiß ich nicht, bezweifle es aber; ja, ich möchte behaupten, daß diese Lieblosen es nur zu kennen glauben, weil sie auf ihrer Fahrt von Thun nach Brienz auch durch das „Bödeli“ gekommen sind, oder gar in einem der Hotels auf dem weltberühmten Höhweg zu Mittag gespeist haben. Mit Interlaken ist es aber, wie mit einer schönen und liebenswürdigen Frau. Auch die schönste und liebenswürdigste hat nicht immer ihren beau jour, und wer Interlaken vielleicht an einem trüben, regnerischen Tage gesehen hat, der sage nur ganz ruhig: er habe es nicht gesehen.

Und selbst der Sonnenschein thut es noch nicht allein. Interlaken ist zu vielseitig, zu reich, ja, wenn dies Wort in Beziehung auf die Natur nicht eine Art von Blasphemie wäre, möchte ich sagen: zu kokett – man kommt nun ein für alle Mal nicht so schnell dahinter, wie voll von zauberischen Reizen dieses in seiner Art gewiß einzige Stück Erde ist.

Aber Interlaken ist nicht blos Natur: nicht himmelhohe, schneebedeckte Alpenriesen, die still und hehr in den dunkelblauen Himmel wachsen, oder wald- und mattenbekleidete Vorberge mit Sennen und Heerden, oder blaue Seen, die in ihren krystallklaren Wassern den Himmel und die Berge spiegeln; es ist das Alles zusammen, doch es ist noch mehr. In diese einzig schöne, paradiesische Natur hat sich die Kunst, die Cultur eingenistet, so weit es ihr nur immer gelingen wollte; in diesem Tempe, das so schön ist wie ein Dichtertraum, stehen mächtige Hotels mit ihren Dépendancen wie ebenso viel prosaische Facta; in diesem Thal, das würdig scheint die Wiege der ersten Menschen gewesen zu sein, rauscht es von seidenen Kleidern, schimmert es von elegantesten Toiletten; durch dieses Eden rasselt und schnattert die wilde Jagd, die große unendliche Touristen-Karawane: Pferde, Kameele, Menschen, Affen und was sonst dazu gehört.

Das ist es eben, was Interlaken die eigenthümliche und vielleicht ganz einzige Physiognomie giebt. Vielleicht nirgendwo sonst auf der Erde gehen Natur und Kunst so seltsam Hand in Hand, vermengen sich und vermischen sich auf eine so wundersame [459] Weise; nirgendwo sonst berühren sich so nah das Ewige und das Vergängliche, die Schöpfung von Millionen Jahren und die Mode von gestern; Sonnenschein und Schminke, Wiesenduft und Eau de mille fleurs, die Schönheit und die Fratze, das Erhabene und das Lächerliche.

Ich sagte oben, daß der Sonnenschein für Interlaken so nothwendig sei, wie gute Laune für eine schöne geistvolle Frau. Allein wie sehr ich auch den Sonnenschein liebe und besonders in Interlaken liebe – es giebt auch hier eine Grenze, wo sich der Mensch von den Fliegen und Schmetterlingen scheidet und spricht: Ein jegliches nach seiner Art, mir wird’s zu viel! Ich hab’s erfahren im Julimonat des vorigen Jahres, in dem schönen Interlaken.

O dieser Sonnenschein! Wie er des Morgens in aller Frühe seinen Weg durch die Ritzen der grünen Jalousien suchte und sagte: ich bin da und jetzt gehört die Welt mir bis zum Abend! wie er ein paar Stunden später überall war! wie in seinem Glanz die Schneefelder der Jungfrau, des Silberhorns und des Breithorns leuchteten und schimmerten und flimmerten, daß kein Menschenauge es ertragen konnte und blaue Brillen im Preise stiegen! wie die kahlen starren Felsmassen des Vordergrundes in den allmächtigen Strahlen wie in weichen Nebeln verzitterten! wie die Bäume die Gluth tranken und kein Blättchen regten, als fürchteten sie, es möchten Flammen aus den Aesten schlagen! wie still die Vögel in dem dichtesten Laub versteckt sich hielten, der Abendkühle harrend! und wie der mitleidige Kellner in unserm Hotel über die Meisenfamilie, die sich in einer Ampel der Veranda angesiedelt halte, schützende Blätter befestigte, damit die kleinen nackten Thierchen nicht versengt würden! Armer guter Mensch, Du wußtest wohl, warum Du Mitleid hattest! Eines Mittags servirte er nicht, wie sonst. Ich fragte die schöne Wirthstochter, wo der Jacques heute sei. Sie deutete mit dem Finger nach der Stirn und flüsterte, indem sie mir das Eis über die linke Schulter reichte: „Die große Hitze, wir haben ihn heute Morgen in das Spital schaffen müssen.“

Die große Hitze! sie bildete den Unterhaltungsstoff beim Frühstück; man seufzte darüber am Mittagstisch, und am Abend wurde bei Thee und Erdbeeren dasselbe Thema noch immer ventilirt. Es litt eben ein Jeder darunter, ich nicht zum mindesten. Ich war nicht zum ersten Male in Interlaken; ich wußte aus Erfahrung, wie mild hier sonst die Lüfte wehen, selbst an heißen Sommertagen; wie traumgleich hier im Schutz und Schirm der ewigen Berge, durchhaucht vom linden Athem der nachbarlichen Seen, zwischen den grünen Matten unter breitästigen Bäumen die Tage dahinfließen, daß man sich schier in das Land der seligen Lotophagen versetzt glauben könnte, von dem Tennyson singt:

Hier grünen Moose kühl,
Hier rankt der Epheu durch den üpp’gen Pfühl,
Und in dem Strom die Lotosblumen trauern,
Und schläfrig hängt der Mohn von zack’gen Felsenmauern.

Wie hatte ich mich aus dem Staub und der Hitze Berlins gesehnt in mein liebes Lotosland! Hier sollten sich der müde Kopf und die müde Brust nach schwerer Arbeit erquicken, während ich das eben vollendete Werk in aller Muße durchlas und dabei das letzte Pünktchen auf’s letzte i setzte. Die rastlose, unbändige, überwältigende Hitze machte mir selbst die leichte Arbeit schwer und ließ mich sehnsüchtig die fünfte Nachmittagsstunde herbeiwünschen, wo ich nach überstandener Table d’Hôte in das schattige Revier des Kleinen Rugen flüchtete.

Wenn Du Interlaken kennst, lieber Leser, so kennst Du auch den Kleinen Rugen, den letzten Ausläufer der Hochalpen, den zierlichen Fuß gleichsam, den die Jungfrau in das Bödeli setzt. Ein Bergkegel von 600’ Höhe ungefähr, vom Fuß bis zum Gipfel auf seiner ganzen Oberfläche mit den verschiedenartigsten Laub- und Nadelhölzern bestanden – Dank der Forstverwaltung des Cantons, welche vor etwa 40 Jahren diesen Berg zu einer Pflanzschule für sämmtliche in der Schweiz vorkommenden Baumgattungen bestimmte. Von der Hotelstraße des Höhweges gelangt man über die Matte zwischen Interlaken und dem Dorfe Matten und durch einen Theil dieses Dörfchens an den Fuß des Rugen, und wenn man den erreicht hat, ist man geborgen, selbst in der größten Sommerhitze.

Es ist bezaubernd schön auf dem Rugen zu jeder Tageszeit, besonders aber in den Stunden zwischen fünf Uhr und Sonnenuntergang, wo ich ihn tagtäglich besuchte. Der Reichthum der Scenerie, welcher sich nach allen Seiten hin den entzückten Blicken entfaltet, ist unbeschreiblich, und die mit jedem Augenblick wechselnde Beleuchtung läßt jedes dieser herrlichen landschaftlichen Bilder in dem ihm am meisten zusagenden Colorit erscheinen. Es ist ein wonnesames Schwelgen in Formen und Farben, oft von einer Intensität, die dem übertrieben erscheinen mag, welchen die Natur nicht mit malerischen Augen begabt hat.

Da ist der Blick nach Osten über den Brienzer See, den man zwischen fünf und sechs Uhr genießen muß, wenn der liebliche Thalgrund zu unsern Füßen mit seinen Häusern und Häuschen, seinen Bäumen und Mattlis im warmen Nachmittagssonnenschein prangt, wie ein Paradies; wenn die Contouren der Bergzüge, die zur Linken, gegen Nordost, den See einschließen, im tiefsten Ultramarin verschwimmen, während die rechts, die noch direct von den schrägen Strahlen der Sonne getroffen werden, in allen Tönen des Goldes prangen, zwischen beiden sich das gänzlich blaue Wasser des See’s so friedlich und so lockend ausbreitet, lockend hinüber nach den Gießbach-Fällen, nach Brienz, dessen Häuser am fernen Rande des See’s sich noch eben aus dem Duft erheben, nach dem Haslithal und weiter in’s schöne Land Italia.

Und hat man nun, in Entzücken versunken, eine Farbe in die andere übergehen und mählich bleicher und bleicher werden sehen, ist man nach manchen Gesprächen und manchem Ausruhen durch den dämmerigen Wald allmählich steigend auf die entgegengesetzte Seite des Berges gekommen, so schwebt ein anderes Bild vor Deinen Augen, so ähnlich dem ersten und doch wieder so ganz verschieden in Stimmung, Formen und Farben.

Die Sonne ist bereits unter den scharfen Grat der Stockhornkette getaucht. Der westliche Himmel prangt in dunklerem und hellerem Safrangelb, von dem sich die prachtvolle Pyramide des Niesen, vom Gipfel bis zur Sohle in herrlichstes Violet gehüllt, mit wunderbarer Schärfe abhebt. Ueber dem Safran des Horizontes färbt sich der Himmel lichtgrün und dunkelgrün bis hinauf zum Stahlblau des Zeniths, und all’ diese Farbenpracht wird von der weiten Fläche des Thuner See’s zurückgeworfen, wie von einem krystallnen Spiegel, während die dunklen bewaldeten Hänge der Berge des Vordergrundes das einzige Bild einrahmen.

Aber noch sollen wir Größeres schauen. Uns links wendend, treten wir nach kurzer Wanderung durch den Wald hinaus auf die Matte, die vom Rugen auf dem Rücken des Hügels in wenigen Minuten nach der Ruine des Schlosses Unspunnen hinüberführt. Vielleicht gehen wir bis zu der Ruine; vielleicht lagern wir uns gleich hier in das schwellende Gras. Schöner, großartiger kann der Blick auf die Jungfrau doch nirgends sein. Aus den Tiefen des Lauterbrunnenthales steigt die Nacht schon herauf, aber mächtig, als könnte das Erdendunkel ihrem Glanz nichts anhaben, leuchten noch immer die Schneefelder und Gletschermassen der Jungfrau hoch herab aus dem südlichen Himmel, dessen herrlich blaue Tiefen das Auge nicht ergründen kann. In den schweren Schatten, die ringsumher die finstern Berge werfen, erscheint die ungeheuere Eiswand in fast greifbarer Nähe, und doch ist sie so fern, daß von der furchtbaren Lawine, die so eben an ihren Hängen vielleicht mehrere tausend Fuß herunterdonnert und deren einzelne Aufstürze und allmähliches Wachsen das Auge genau verfolgen kann, das gespannt horchende Ohr in der tiefen Stille ringsum auch nicht den leisesten Ton vernimmt.

Doch siegt die Erdennacht. Bleicher und bleicher, zuletzt in gespenstischer Blässe schaut die Jungfrau herab. Von den näherliegenden Bergen, vom Abendberg, von der Suleck sind kaum die Umrisse noch zu erkennen; hoch oben von den Hängen der Schienigen-Platte leuchtet das Feuer einer Sennhütte wie ein mächtiger Stern aus dem Dunkel. Tiefe Nacht liegt in dem Thale von Interlaken; tiefe Nacht und tiefe Stille, unterbrochen nur von einem gelegentlichen Lachen oder Singen, das aus einer der ringsum zerstreuten Hütten ertönt, oder dem Klingeln eines Einspänners, der eine verspätete Gesellschaft von einem Ausfluge nach Lauterbrunnen und der Wengernalp zurückbringt.

So oft ich damals von dem Thal den Rugen hinan oder vom Rugen hinab in’s Thal stieg, kam ich an einem mächtigen Bau vorbei, der das ganze Plateau eines waldigen Ausläufers bedeckte, welchen der Rugen seinerseits in das Thal hineinschiebt; und so oft ich diesen Bau, an dem so rüstig geschafft wurde, sah, hatte ich stets denselben Wunsch, nämlich: daß derselbe bereits [460] fertig und ich der glückliche Inhaber eines der vielen Zimmer wäre, die er enthalten würde, und daß die Fenster dieses Zimmers nach der Jungfrau blickten. Dieser letztere Umstand war, wenn man erst einmal das Zimmer hatte, sehr wahrscheinlich, denn die eine ganze Seite des Gebäudes schaut direct nach der Jungfrau hinauf, und deshalb heißt der Ort, wo das Gebäude eben errichtet wurde, der Jungfraublick, und das Gebäude selbst sollte, wenn es fertig war, das Hotel und Curhaus zum Jungfraublick genannt werden. Es giebt gewisse Projecte, mit denen es ist, wie mit dem Ei des Columbus. Man braucht sie nur auszusprechen, so sagt ein Jeder: aber das versteht sich ja von selbst! Nichtsdestoweniger Ehre dem Manne, in dessen klugem Kopfe zuerst der Gedanke entstand, hier an diesem Punkte, der, wenn einer, dazu auserwählt ist, ein großartiges Etablissement zu errichten zu Nutz und Frommen so vieler Tausende erholungs- und heilsbedürftiger Menschen.

Herr von Rappard, dem diese Ehre zukommt,[1] hatte die Freundlichkeit, mich mit den Einzelnheiten des Projectes bekannt zu machen.

Hotel und Curhaus zum Jungfraublick in Interlaken.
Nach der Natur gezeichnet F. Lips in Bern.

Zuerst, was ich selbst davon in der Ausführung oder bereits ausgeführt sah.

Das waren die 8–10’ breiten bequemen Wege, die von der Sohle des Thals zum Curhaus hinauf, vom Curhaus weiter so kunst- und sinnreich um den ganzen Rugen geführt sind, daß man die Höhe des 600’ hohen Berges erreicht, ohne kaum jemals das Steigen wahrzunehmen, ohne unter den breitkronigen Bäumen von einem Sonnenstrahl getroffen zu werden. Und nun rechts und links, ehe man es sich versieht, die prachtvollsten Blicke auf den Brienzer See, den Thuner See, die Jungfrau, und wie sie alle heißen die prächtigen Bilder, von denen ich oben eine Schilderung zu geben versucht habe; Bilder, die man dadurch gewann, daß man einfach ein paar Bäume wegnahm; Bilder, die man in seligster Ruhe genießen kann, denn an allen diesen Punkten und noch unzähligen anderen laden den Promenirenden bequeme Bänke, anmuthige Pavillons, wahrhaft idyllische Ruheplätze zum Schauen und Träumen ein. Welch’ ein Park! Kein König und kein Kaiser der Erde kann sich eines gleichen rühmen! – Es war nicht, um nur ein raffinirtes Schwelgen in landschaftlichen Reizen möglich zu machen, weshalb man auf diese colossalen Parkanlagen so viel Geduld, Zeit und Geld verwandte. Die Annehmlichkeit und das Gelingen einer jeden Brunnen- und Molkencur – und besonders auf diese letztere ist es bei der ganzen Anlage in erster Linie abgesehen – beruhen wesentlich darauf, daß der Curgast während des Trinkens und nach demselben sich in behaglicher Ruhe in schattigen und dabei sonnedurchwärmten Waldungen ergehen kann. Schon das gänzliche Wegfallen dieses wichtigen Momentes verurtheilte die Molkencuranstalt, welche man bekanntlich vor einigen Jahren neben dem Höhweg in der baum- und schattenlosen Ebene anlegte, zu ewiger Bedeutungslosigkeit. Was [461] aber sogar das milde Interlaken in einem heißen Julimonat ohne Schatten ist – das hatte ich gerade damals an mir selbst zu erfahren die reichlichste Gelegenheit.

Von dem Hauptgebäude selbst, dessen Situation der Leser aus unserem Bilde hinreichend deutlich ersieht, waren damals die Räume für die Keller, Küchen und Zubehör, die sämmtlich in den lebendigen Fels gesprengt waren, im Rohbau fertig, ebenso wie das unterste Stockwerk und ein Theil des zweiten Stockwerkes. Das Haus, wie es noch im vergangenen Sommer unter Dach gebracht war und jetzt fertig steht, bietet in vier Etagen Raum für 150 Gastbetten. Die bei weitem größere Anzahl der Zimmer wird mit Alcoven oder besonderen Schlafcabinets versehen, um den längere Zeit verweilenden Curgästen ein getrenntes Wohn- und Schlafzimmer zu gewähren. Daß die innere Einrichtung überall die eines Hotels ersten Ranges werden sollte und gewiß geworden ist, versteht sich bei einem so großartigen Etablissement von selbst.

Vor der unserm Bilde entgegengesetzten, der Jungfrau zugewandten Hauptfronte des Hotels breitet sich eine gewaltige Terrasse aus. Von dieser führen wenige Stufen zu der auf 16 steinernen Säulen ruhenden, 200’ langen und 15’ breiten Trinkhalle, in deren Rückwand geräumige, gewölbte Nischen zu Ruheplätzen und an deren beiden Enden Glassalons angebracht sind. „Und nun lassen Sie wirklich einmal schlechtes Wetter eintreten,“ sagte Herr von Rappard, während wir den für die Trinkhalle bestimmten Raum auf- und niedergingen, „das ist freilich zum Verzweifeln für Euch da unten; aber für uns hier ist die Aussicht selbst bei bedecktem Himmel reich und lohnend, besonders bei Unwetter, wenn die Wolken an den Bergen sich senken und heben, sich ballen und zertheilen, hier eine Bergspitze und dort eine Felsenmasse hervorschaut, und wenn nur auf einen Moment die Dünste sich zertheilen und die weiße Jungfrau aus ihrem Nebelschleier auf uns niederblickt.“

Wenn Herr von Rappard so die Vorzüge des Etablissements schilderte, konnte ich nur immer wieder bedauern, daß der größere Theil desselben (zum wenigsten des Hauses) damals noch auf dem Papiere stand.

Jetzt ist es vollendet und seit dem 30. des vorigen Monats eröffnet.

Die Vorzüge Interlakens als Aufenthaltsort für Krankheiten vielerlei Art sind den Aerzten längst bekannt: reine, kräftigende Gebirgsluft vereinigt mit einem milden, fast südlichen Klima. Ist es doch nach Norden zu durch eine Gebirgswand von 6–7000’ Höhe gegen alle rauhen Winde geschützt; müssen doch die heißen Winde des Südens erst die meilenweiten Schnee- und Gletscherfelder des Berner Oberlandes passiren, so daß durch das Bödeli eigentlich nur Ost- und Westwinde streichen, denen die breiten Wasserbecken jene milde und weiche Beschaffenheit verleihen, die für kranke Lungen so unbeschreiblich wohlthätig ist. Dazu kommen kräuterreiche Alpen zu Kuh-und Ziegenmolken, zu Kräuter-Tränken und -Bädern. Bisher aber waren das alles disjecta membra, da es an einer von einem tüchtigen Arzt [462] geleiteten Anstalt fehlte, welche so unschätzbare Momente in rationeller Weise auszubeuten verstand. Das ist nun anders geworden, wie ich höre zum nicht geringen Kummer Etlicher, welche durch die Existenz des Hotels und Curortes zum Jungfraublick die Existenz ihrer Hotels in Frage gestellt sehen. Aber was ist da zu thun? Das Bessere ist des Guten Feind, und dann, lieben Leute, tröstet Euch! Einhundert und fünfzig Gastbetten können allerdings im Laufe von zwei, drei Monaten viele Menschen wiegen, aber durch Interlaken passiren jährlich 40–50.000 Menschen, davon werden ja wohl noch Einige auf Euch kommen.

Leb’ wohl, lieber Leser! Ich freue mich, daß es mir vergönnt war, Dir die erste authentische Kunde von dem Curort Jungfraublick in Interlaken zu geben, der, wenn nicht Alles trügt, schon nach wenigen Jahren so berühmt sein wird, wie keiner in Europa; und wenn Du im Stande bist, wo möglich noch in diesem Jahr, an Ort und Stelle zu prüfen, ob ich Alles der Wahrheit gemäß berichtet habe, so soll es mir Deiner selbst willen lieb sein.

  1. Herr von R. ist auch der Entdecker des Gießbachs, wenigstens in seiner jetzigen Gestalt.