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Ein Besuch in der Sylter Vogelkoje

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Textdaten
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Autor: E. W.
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Titel: Ein Besuch in der Sylter Vogelkoje
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 591–592
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[591] Ein Besuch in der Sylter Vogelkoje. Es ist nicht leicht, sich eine klare Vorstellung von der Einrichtung jener eigenthümlichen Vogelheerde zu machen, die man Vogelkojen nennt. Gewöhnlich lassen sich Reisende, denen es an hinreichender Zeit gebricht, mit einer oberflächlichen Beschreibung dieser Fanganstalten genügen und gehen in der Meinung von dannen, es sei kaum der Mühe werth, einer so unwichtigen Vorrichtung wegen sich einer nutzlosen Strapatze auszusetzen. Häufig schon hatte ich ähnliche Aeußerungen vernommen und war deshalb gar nicht gewillt, eine solche Vorrichtung in Augenschein zu nehmen, als sich mir vor einiger Zeit während eines längeren Aufenthaltes in Nordfriesland wieder Gelegenheit dazu darbot. Erst nachdem ein mir wohlwollender Mann mit der Bemerkung mir entgegentrat, die Besichtigung einer Vogelkoje gewähre vielfaches Interesse und werde mich gewiß befriedigen, entschloß ich mich, dem Rathe desselben zu folgen.

So viel ich weiß, gibt es nur auf den nordfriesischen Inseln Föhr und Sylt Vogelkojen. Bekanntlich dienen sie zum Fang wilder Enten, die Anfang August in großen Schwärmen über diese Inseln ziehen. Die größte aller Vogelkojen befindet sich auf Sylt und zwar im Norden der Insel, fern von jeder menschlichen Wohnung, von hohen, seltsam geformten Dünenkegeln im Westen begrenzt, während auf der Ostseite die Brandung der See an die sie umhegenden Deiche schlägt. Schon diese wilde Umgebung, in der man außer dem Meeresrauschen und dem oft entsetzlichen Geschrei zahlloser Mövenschwärme nichts vernimmt, als das Säuseln, Pfeifen und Stöhnen des Windes, verleiht der Vogelkoje auf Sylt einen höchst seltsamen Charakter. Es sind mancherlei Formalitäten zu erfüllen, ehe man die Erlaubniß zum Eintritt in das Gehege erhält. Erst die Einlösung eines schriftlichen Scheines, den man von einem der Mitbesitzer der Koje erhält, erschließt uns dasselbe. Daß möglichst schweigsames Verhalten sowohl in unmittelbarer Nähe der Koje, wie im Innern derselben streng vorgeschrieben ist, als beträte man einen geweihten Ort, erhöht noch die Erwartung und versetzt uns, wenn nicht in eine feierliche, so doch in eine ernste Stimmung, die ganz zu dem Charakter der wüsten, aber unbeschreiblich malerischen Dünenlandschaft paßt.

Ein breternes Thor führt durch die Umwallung, über welche verwitterte, vom Nordweststurm gespaltene Weiden, Erlen und Lärchenbaume, von silbergrauem Moos bis in die dünnsten Aestchen hinauf übersponnen, herübersehen. Ein Hund schlug an, der Kiebitz rief, Möven kreischten und eine Schaar langbeiniger Wassertreter ließ ununterbrochen ihre langgezogenen Klagetöne erschallen. Sonst war es so still, daß man seinen elgenen Tritt hörte. Kein Wärter oder Aufseher ließ sich blicken.

„Wissen Sie,“ flüsterte mir einer meiner Begleiter, Capitain D., leise zu, „von unsern Landsleuten behaupten Viele, es sei hier nicht geheuer. Ich selber habe einen Wächter gekannt, der es nur wenige Nächte in der Vogelkoje aushielt, und dann so bestimmt um seine Entlassung bat, daß man sie ihm geben mußte. Er ward tiefsinnig seitdem oder doch menschenscheu, und einige Jahre später fand man ihn eines Tages todt in den Lister Dünen. Er mochte in der traurigen Einöde jener Sandthäler in die Irre gerathen und verhungert sein. Wie er eigentlich zu Tode gekommen ist, hat Niemand erfahren.“

An der Fortsetzung unserer Unterhaltung verhinderte uns der jetzt sichtbar werdende Wächter. Es war eine gedrungene Gestalt, deren Gesichtszüge Gleichgültigkeit ausdrückten. Unsern Gruß erwiderte er ziemlich mürrisch, ließ sich den Schein zeigen und zählte nach, ob auch die auf demselben verzeichnete Personenzahl richtig sei. Als er sich davon überzeugt hatte, bedeutete er uns, daß wir uns nach Belieben umsehen dürften.

Der Leser denke sich in der Mitte eines dichten, nur von sehr schmalen [592] Gängen durchschnittenen Gebüsches, in dessen Gezweig wahrscheinlich kein Vogel nistet, einen viereckigen, bedeutend großen und tiefen Teich. Von den vier Ecken dieses Teiches laufen nach allen vier Himmelsgegenden vier Canäle, die sich leicht krümmen und langsam verengern, bis sie in einer ganz schmalen Rinne endigen. Zur rechten Seite jedes dieser Canäle befinden sich fächerartig ausgestellte Wände aus Stroh oder Schilfgeflecht, von denen jede einzelne Wand die andere deckt. Die linke Seite des Canals umgibt ein Erdwall von ungefähr gleicher Höhe wie die schräg gestellten Schilfwände. Ueber beide spannt sich nach der ganzen Länge des Canals das Fangnetz, welches, je enger der Canal wird, desto niedriger zieht, bis es die zum bloßen schmalen Graben einschrumpfende Wasserrinne berührt. Hier bildet das Netz einen Sack aus Maschen, der in der Erde befestigt ist.

Auf dem rings von dichtem Gebüsch umgebenen Teiche werden eine nur geringe Anzahl gezähmter Kriekenten gehalten. Tritt nun die Zeit ein, wo die wilden Enten ihre Züge beginnen, so dienen die ruhig auf dem stillen Gewässer schwimmenden zahmen Thiere als Lockvögel, kaum nämlich gewahrt der heranrauschende Schwarm den Weiher mit den darauf befindlichen Enten, so fällt er darauf nieder. Sein Instinct hat ihn nicht irre geleitet, denn nahe den Eingängen in die Canäle schwimmen Gerstenkörner, die sich im Canale selbst in größerer Menge vorfinden. Der Reiz des Futters aber und selbst der Hunger würde die scheuen, mißtrauischen, vor jedem ungewohnten Laut aufflatternden Thiere doch nicht verleiten, das offene, breite Wasser des Teiches, auf dem nur wenige Gerstenkörner treiben, zu verlassen, wenn nicht die Dreistigkeit der gezähmten Enten sie das Wagniß unternehmen lehrte. Vertraut mit der Einrichtung der Canäle und zum Verführen abgerichtet, schwimmen die zahmen Enten ihren wilden Schwestern voran, gierig nach den schimmernden Körnern schnappend. Bald folgen die Verlockten in Menge, der Gefahr vergessend. Der Trieb, Nahrung zu suchen, macht sie ungestüm und unvorsichtig und läßt sie die Grenze überschreiten, welche die Lockvögel stets einhalten. Die gezähmten Enten gehen nämlich nur bis an die erste schräg stehende Schilfwand, wo das Netz beginnt. Hier kehren sie regelmäßig um. Die wilden Enten dagegen gerathen in ihrem Ungestüm über diese Wand hinaus und erblicken, sowie sie Kehrt machen, die regungslose Gestalt des hier lauernden Wächters. Aus Furcht vor diesem zieht die in den Canal eingedrungene Menge weiter vorwärts, um den unheimlichen Blicken des Lauernden nicht wieder zu begegnen. Allein der Wächter schlüpft ebenso schnell von Wand zu Wand, sodaß er immer dicht hinter dem Zuge bleibt. So stürzen sich die Bethörten ahnungslos in’s Verderben. Der Canal wird enger und immer enger, und die bannenden Blicke des Wächters begegnen immer auf’s Neue den geängstigten Thieren, die nun auch wohl das verhängnißvolle Netz über sich gewahren. Endlich erreichen sie das Ende der gekrümmten Wasserrinne, das Netz fällt, und die erbarmungslose Hand des Wächters erwürgt die in den Maschen zappelnden Zugvögel.

Das ist der sich stets in derselben Weise wiederholende Vorgang beim Fange der Kriekenten. Die Zahl der auf einmal in jedem der vier Canäle gefangenen Vögel beträgt durchschnittlich dreißig Stück; die jedesmalige Beute eines Jahres, wobei zu beherzigen ist, daß die Fangzeit schwerlich über sieben Wochen lang dauert, läßt sich in der Sylter Vogelkoje auf 22 bis 24.000 veranschlagen. Während der Fangzeit ist jedes lärmende Geräusch in der Umgegend der Vogelkoje streng und bei beträchtlicher Strafe untersagt. Es mag dies wohl nöthig sein, da die Nähe der Dünen, die sich gerade auf diesem Punkt der Insel höchst malerisch gestalten und in ein zerrissenes Dünengebirge mit zahllosen trichterförmigen Vertiefungen, Quer- und Längenthälern übergehen, der vielen Sandhasen wegen eine große Anziehungskraft für Liebhaber der Jagd haben, die hier, wenn nicht frei ist, doch geduldet wird. Die immerwährende Ruhe in der Vogelkoje und rund umher in der unwirthbaren Dünen-Einöde macht für Menschen von regem Gefühl einen längeren Aufenthalt in derselben gewiß nicht zum Genuß. Schon der Anblick dieser verkrüppelten Bäume, die, von der Gewalt der Stürme niedergedrückt, mehr in die Breite als in die Höhe wachsen, erzeugt unheimliche Gedanken und muß namentlich des Nachts diese leblose Welt mit phantastischen Gebilden bevölkern. Selbst am hellen Tage, bei Sonnenschein zeigte sich das mit bartartigem grauen Moos überwucherte Gebüsch in so schauerlicher Beleuchtung, daß mir das ganze Gehege wie ein gespenstischer oder verzauberter Wald vorkam, und ich wußte mir die Worte des Capitains, der mir später noch eine Menge beglaubigter Vorgänge erzählte, wohl zu erklären. Das Wächteramt in dieser Vogelkoje verlangt, soll der Mann seine Pflicht thun, einen Menschen, der sich von Nichts aufregen läßt. Mich dünkt, nur entweder gänzliche Gefühlsstumpfheit oder ein unter allerhand schweren Gefahren und Schrecknissen aller Art zugebrachtes, für alle Eindrücke von außen unempfängliches Leben kann diesem Posten dauernd vorstehen.

Unter den vielen Punkten, welche die Insel Sylt in Bezug auf charakteristische landschaftliche Scenerien darbietet, nimmt die Umgebung der Vogelkoje einen hervorragenden Rang ein. Erklimmt man den Seedeich im Osten der Koje, so hat man ein Landschaftsbild vor sich, wie man es so leicht nicht wieder findet. Ost- und nordwärts überblickt man die blau-grüne Binnensee mit den weißen Segeln der Küstenfahrer und Wattenschiffer. Weiter südlich steigt schroff aus dem Meere der hohe Rücken der Insel, welcher die größeren Ortschaften Keitum, Morsum, Archsum etc. trägt. Ueber diesen in weiter Ferne schimmert die silberne Mauer der Dünen von Hörnum. Den westlichen Horizont begrenzt die zu kühnen Gipfeln sich aufthürmende Dünenwelt des Listlandes, über welcher ganze Wolken schwärmender Möven auf- und niederschweben. Unter uns, dicht vor unsern Füßen, liegt der stille Teich, die mit Netzen überzogenen curvenartig gekrümmten Canäle und das graue Gebüsch mit dem gespenstischen Moosbehänge, den vielen blätterlosen, phantastisch gekrümmten und durcheinander geschlungenen Aesten, um die wie ein Todtengewand dieselbe Moosbekleidung flattert. Bläuliche Rauchwolken, aus der Hütte der Wächter aufsteigend, ziehen, in dünne Streifen sich auflösend, gegen den Wall der Dünen, hinter denen die Brandung der Nordsee braust. Hat erst die Landschaftsmalerei das ferne Sylt entdeckt, dann werden wir hoffentlich auf unsern Kunstausstellungen nicht mehr lange gelungene Bilder aus jenem ultima Thule vermissen, wo es noch mancherlei Schätze zu heben gibt.
E. W.