Ein Findelkind

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Titel: Ein Findelkind
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 716
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[705]

Hinaus gestoßen und – geborgen.
Originalzeichnung von J. Munsch in München.

[716] Ein Findelkind. (Mit Abbildung Seite 705). Ein vornehmes Kind, in kostbares Spitzengewand gehüllt, an der Pforte des Klosters ausgesetzt und von den frommen Schwestern in zärtliche Hut genommen – wer fühlte nicht durch dieses von unserm Künstler so eindrucksvoll dargestellte Motiv sein Interesse in Anspruch genommen? Wer sind die Eltern, und was ist der Grund der Aussetzung? Ob der Brief in der Hand der Nonne, der dem Kinde beilag, das Rätsel löst oder ob er den Gram und den Kampf, den das Mutterherz durchgelitten, ehe es das Liebste dahingegeben, verhüllt und nur für das Kind bittet: „O, habt Erbarmen!“ – niemand sagt es, niemand ergründet es. Und warum ist es gerade das Kloster, an dessen Pforte die Mutterliebe anklopft? Giebt es im Umkreise keine andere Stätte der Barmherzigkeit und Liebe, giebt es kein – Findelhaus?

Wir berühren mit dieser Frage ein Thema, dessen Für und Wider in Wort und Schrift schon seit Jahrhunderten mannigfach beleuchtet worden. Die Nächstenliebe vertheidigt ein Institut, welches so manche unaufgeblühete Menschenknospe vor dem sicheren Tode rettet, aber die Sittencensur verurtheilt in ihm eine Einrichtung, die angeblich der Unsittlichkeit Thür und Thor öffnet – und beide Anschauungen dürften, jede von ihrem Standpunkte aus, im Rechte sein. Es fragt sich nur: was hat den Ausschlag zu geben – die schützende Rücksicht auf die Tausende von sonst verlorenen jungen Menschenleben oder eine vielleicht übertriebene Aengstlichkeit vor drohenden Gefahren für die Volkssittlichkeit?

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, auf diese Streitfrage hier einzugehen. Praktisch ist sie jedenfalls längst zu Gunsten der Findelhäuser entschieden. Sie haben bei allen europäischen Völkern eine Geschichte aufzuweisen, welche wenigstens darthut, daß sie, wenn nicht ein segensreiches Institut, so doch sicher ein unentbehrliches Correctiv in der menschlichen Gesellschaft sind. Die christliche Kirche nahm sich schon im frühen Mittelalter der Findelkinder an; denn bereits im sechsten Jahrhundert soll zu Trier an der Kathedralkirche sich eine Marmorschale zur Aufnahme ausgesetzter Kinder befunden haben. Das erste Findelhaus im heutigen Sinne wurde 787 in Mailand gegründet. Seitdem haben sich ähnliche Institute in allen civilisirten Ländern Europas mehr und mehr verbreitet und in ihrer inneren Organisation befestigt und vervollkommnet. Namentlich in den romanischen Ländern sind sie heute sehr zahlreich. Es wurden z. B. 1810 in Frankreich 55,700 Kinder, 1833 aber deren 133,000 ausgesetzt. In Spanien – um dies noch zu erwähnen – weisen die Findelhäuser sehr originelle, ja humoristische Eigenthümlichkeiten auf; alle Findlinge werden dort gesetzlich als adelig betrachtet, damit nicht etwa einer unter ihnen, der wirklich vom Adel ist, dieses kostbaren gesellschaftlichen Vorrechts verlustig gehe. In Rußland gibt es ganze Findlingscolonien.

Aber wir wollten unser Bild interpretiren und verlieren uns in Daten zur Entwicklungsgeschichte der Findelhäuser. Sei es drum! Vielleicht geben diese Notizen, zusammen mit dem Bilde, das sich, im Grunde betrachtet, selbst erklärt, an geeigneter Stelle einige Anregung zur intimeren Beschäftigung mit dem jedenfalls interessanten Gegenstande des Findelhauswesens und seiner Entwickelung und Bedeutung für unsere Tage.