Ein Meister der französischen Musik – Charles-Marie Widor nimmt Abschied
Charles-M. Widor hat im Februar dieses Jahres sein 90. Jahr vollendet. Zuerst kurze Zeit als Nachfolger von Saint-Saëns an der Orgel der Madeleine tätig, übernahm er 1870, als 26jähriger, damals schon durch seine Künstlerschaft auffallend, die Orgel von Saint-Sulpice, die er bis vor wenigen Jahren in voller Rüstigkeit betreute. Aber Widor ist nicht nur Organist schlechthin, er zählt zu den führenden Musikern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Orgel war sein Lieblingsinstrument, sie stand seiner Natur am nächsten, aber seine Tätigkeit umfasste alle Gebiete zunächst der Komposition, die er als schöpferischer Musiker wie als Pädagoge pflegte. Die Reihe seiner Schüler reicht bis zur jüngsten Generation: zu Milhaud und Honegger – ein beredtes Zeugnis für die Elastizität seines Geistes. Sie spricht ebenso aus der Vielseitigkeit seiner kompositorischen Betätigung. Ausser zahlreichen kirchlichen hat er auch eine Reihe weltlicher Werke geschaffen, darunter das noch gegenwärtig im Spielplan der Opéra befindliche Ballett „Korrigan“. Er gehört zu den glücklichen Naturen, denen Religiosität kein Gegensatz ist zu Weltlichkeit, und in deren Leben und Schaffen eines das andere verklärt. So ging auch sein Interessen- und Wirkungskreis weit über das Organistengebiet hinaus. Seiner Initiative ist die Einrichtung der Casa Velasquez zu danken, die den französischen Studierenden in Madrid ein ähnliches Heim bietet wie die Villa Medici in Rom. Auf ähnlicher Initiative beruhte sein jetziges bedeutsames Hervortreten in der Oeffentlichkeit: das Konzert, das zu Ehren des 90jährigen in St. Sulpice stattfand, in Gegenwart des Kardinal-Erzbischofs Verdier und eines Vertreters des Präsidenten der Republik. Das seltene Ereignis hatte viele Hörer angelockt, die weiten Hallen der Kirche waren dicht gefüllt. Widor selbst dirigierte seine 3. Sinfonie für Orchester und Orgel, sein Schüler und Nachfolger Marcel Dupré, Chor und Orchester spielten und sangen seine Kompositionen. Das alles aber galt eigentlich der Orgel von Saint-Louis-des-Invalides. Sie wiederherzustellen ist die Hauptsorge des alten Meisters. So setzt er seinen Namen, die Werbekraft seiner Persönlichkeit und schliesslich seine eigene, in dieser Frische beispiellose Aktionsfähigkeit ein – nicht um sich feiern zu lassen, sondern um das von ihm geliebte Orgelwerk wieder in würdigen Stand bringen zu lassen. Ein seltenes Fest, selten im Anlass, in der Erscheinung des Gefeierten und schliesslich auch in der schönen Bekundung allgemeiner Teilnahme – ein Zeichen, dass es auch heute noch ausserhalb des Alltags wirklich Dinge gibt, die man nur noch in alten Büchern zu finden glaubt.