Ein Objektiver spricht

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Textdaten
Autor: Maria Lazar
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Titel: Wiener Weltbühne
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Erscheinungsdatum: 16.02.1933
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Erscheinungsort: Wien
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Quelle: Wiener Weltbühne, 16.02.1933, S. 199-202
Kurzbeschreibung:
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Die Objektiven haben jetzt schwere Zeiten. Aber es macht ihnen nichts, sie sind nach wie vor ehrlich bemüht, ihrem Lebensprinzip „Alles verstehen und alles verzeihen“ treu zu bleiben. Sie denken nicht daran, auszusterben.
Gestern traf ich Einen von ihnen. Er las eben die Zeitung mit der Miene eines Schwerarbeiters. Man sah ihm an, wie er sich anstrengte, um sich der Vorurteile zu erwehren, die in ihm aufstiegen, ob er nun wollte oder nicht; und als er bei der Statistik des deutschen Bürgerkriegs anlangte ― 21 Todesopfer in 14 Tagen ― warf er mir einen vorwurfsvollen Blick zu: „Sehen Sie, die Kommunisten schießen eben auch!“
„Sie brauchen gar kein so ironisches Gesicht zu machen“, fuhr er fort. „Sie denken nur an das Elend der Massen. Gewiß, wer will es leugnen. Ich bin der Letzte, der daran vorübergeht. Mir ist es nur zu verständlich, daß unter den heutigen Lebensbedingungen immer mehr Leute ihr Herz an das Programm des Sozialismus hängen. Aber ebenso begreiflich, jawohl, ebenso begreiflich ist mir der Zulauf zum Hakenkreuz. Jawohl, zum Hakenkreuz!
„Eine so ungeheure Volksbewegung hat doch manches für sich. Man darf sie natürlich nicht nur mit dem Verstand erfassen wollen. Womit denn sonst? Ach bitte, lassen Sie doch diese zynische Frage. Sie wissen es so gut wie ich: Mit dem Herzen!
„Ich versichere Ihnen, es ist gar nicht zu verachten, daß an Stelle der reinen Verstandeskultur nun auch einmal eine Gefühlskultur treten will. Da lächeln Sie. Jetzt sagen Sie mir bitte warum lächeln Sie? Mit Materialisten kann man eben nicht sprechen. Das Wort Gefühl läßt sie schon lächeln. Oder worüber lächeln Sie sonst?
„Sie meinen, es hätte noch niemals eine reine Verstandeskultur gegeben. Das behauptet doch auch kein Mensch. Aber angefordert wurde sie, wir waren auf dem besten Weg dazu. Natürlich hätte solch eine Kultur auch vieles für sich gehabt, das ist klar. Nur muß man wieder begreifen, daß die Menschen doch auch noch andre. Götter haben wollen als die alleinseligmachende Vernunft.
„Vor allem brauchen sie den großen Führer. Und ich muß sagen, ohne besondere Sympathien für seine Ideen zu empfinden, ― was Hitler betrifft ― der Mann hat Format. Nicht ohne Grund kann man Millionen ― bedenken Sie, Millionen! ― in Begeisterung versetzen. Und schon gar nicht allein mit Phrasen.
„Sein Buch? Nein, ich habe „Mein Kampf“ noch nicht gelesen. Aber er soll ja ein großartiger Redner sein.
„Und wenn Hindenburg jetzt mit aller Gewalt ein starkes und einiges Deutschland wieder herstellen will, so darf man nicht gleich von Verrat und Verfassungsbruch sprechen. Es geschieht dem alten Mann wirklich Unrecht, es ist durchaus einseitig, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Er tut sein bestes. Er wäre viel lieber schon längst in Pension. Er opfert sich auf für sein Volk. „Natürlich bin ich nicht für die Militärdiktatur. Natürlich bin ich nicht für den Fascismus. Welch eine Frage! Aber den Standpunkt der Offiziere, den Standpunkt der Junker, ja, ich schäme mich nicht, den Standpunkt der Schwerindustrie ― ich kann auch ihn verstehen. Die Leute sind eben Patrioten. Denken Sie an den Frieden von Versailles, an die Lasten, die Deutschland aufgebürdet wurden. Ja, ja, Sie brauchen mich nicht anzuschreien, auch ich habe den Weltkrieg noch nicht vergessen, auch ich erinnere mich an den 4. August, auch ich weiß, daß Deutschland den Krieg ver- loren hat und daß die Legende vom Dolchstoß eben eine Legende ist.
„Ich verteidige diese Legende ja gar nicht. Trotzdem erscheint es mir nicht unerklärlich, daß sie entstehen konnte. Ich werde doch nicht so ungerecht sein ― „Weshalb unterbrechen Sie mich? Meine Gerechtigkeit geht Ihnen auf die Nerven? Ja, um Gotteswillen, wo kommen wir denn hin, wenn die Gerechtigkeit uns nichts mehr gelten darf! Wer soll denn für die Gerechtigkeit eintreten, wenn nicht wir, die wir alles übersehen, alle Zusammenhänge überblicken und daher alles verstehen und deshalb alles verzeihen.>br> „Es ist ungerecht, alles zu verzeihen? Was soll das heißen?
„Es ist dumm, alles zu verstehen? Mir scheint, Sie wollen mich beleidigen.
„Es ist unmenschlich, auch jetzt noch menschlich zu bleiben? Entschuldigen Sie, da komme ich nicht mit.
„Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß die Gerechtigkeit nur eine ästhetische Privatangelegenheit ist, die sich in einem Chaos der Ungerechtigkeit von selbst aufhebt! Damit erschüttern Sie ja jede persönliche Moral. Natürlich ist es schwer, gerecht zu bleiben, wenn man zusehen muß, wie der Eine dem Andern die Gurgel zudrückt. Ich gebe das gerne zu. Trotzdem muß man sich auch in den Andern versetzen können. In den Mörder? Jawohl, in den Mörder. Auch ihm gegenüber dürfen wir, die wir richten und urteilen wollen, nicht gehässig werden.
„Sie sind es schon. Sehen Sie, Sie werden gleich gehässig. Wenigstens mir gegenüber. Sie nennen meine Gerechtigkeit Schwäche. Sie nennen sie sogar Schwachsinn. Nun, ich will versuchen, nicht heftig zu werden. Nicht gleich in Ihren Fehler zu verfallen. Ich verstehe ja auch Ihre Weltanschauung.
„Unterbrechen Sie mich nicht. Sie werden doch gestatten, daß ich sie verstehe. Sie wünschen nicht, daß ich sie Ihnen auch verzeihe? Du lieber Himmel, Sie sind aber tüchtig verrannt. Beruhigen Sie sich. Nehmen Sie eine Zigarette. Sie müssen versuchen, alles viel ruhiger zu sehen.
„Das wollen Sie auch nicht? Sie wollen gar nicht ruhig bleiben, wenn alles drunter und drüber geht? Sie wollen nicht ruhig bleiben vor aufgepflanzten Bajonetten? Sie wollen sich also auch mitreißen lassen vom allgemeinen Kampf und untertauchen in der Parteien Haß. Merken Sie denn nicht, wie gefährlich dieser Haß werden kann?
„Ja, wenn Sie dafür sind, daß der Haß gefährlich wird, dann werden wir uns wohl kaum mehr verständigen können. Wenn Sie es für die größte Stärke der geeinigten Reaktion halten, daß sie kurz entschlossen in hungernde Massen hinein schießen läßt, ohne erst über die objektive Gerechtigkeit nachzudenken, dann begeben Sie sich ja auf dieselbe Plattform wie diese Reaktion. Und das wollen Sie? Weil man einem Raubtier nicht gut zureden kann? Weil man auf einem Schiff in Seenot nicht Kegelscheiben kann? Und weil man sich in einem Meer von Blut und Dreck nicht rein erhalten kann? „Ich glaube, wir machen Schluß mit unserer Auseinandersetzung. Ich gab mir ehrlich Mühe, Sie zu verstehen. Aber Sie, Sie wollen mich ja gar nicht verstehen. Deshalb können Sie mir mein bißchen Objektivität auch nicht verzeihen. Obwohl Objektivität doch immer nur eine Tugend ist.
„Sie halten auch diese Behauptung für eine Anmaßung? Ja, dann warte ich nur, daß Sie mir meine Objektivität auch noch zum Vorwurf machen. Das fehlte noch. Dann gibt es also Ihrer Meinung nach überhaupt keine Gerechtigkeit.
„Heute nicht? Ich will versuchen, so weit objektiv zu bleiben, daß ich über diese Ihre Antwort nachdenken kann. Vielleicht werde ich sie dann auch verstehen. Und Sie wissen ja, alles verstehen, heißt ―
„Wohin laufen Sie denn? So bleiben Sie doch. Nein, ich lasse Sie jetzt nicht fort. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, daß Sie mir böse sind. Sie wissen doch, wie ehrlich ich Ihre Meinungen teile, wie überzeugt ich bin, daß auch Sie recht haben. Dieses ,auch‘ ärgert Sie, dieses ,auch‘ bringt Sie zur Raserei? Müssen denn alle Andern gleich unrecht haben oder gar, wie Sie zu behaupten scheinen, Verbrecher sein, Irrsinnige und Idioten? Merken Sie denn nicht, daß Millionen auf Ihrer Seite stehen, bedenken Sie doch, Millionen! Ob mich das allein schon bewegt, auch auf dieser Seite zu stehen? Wie sprechen Sie denn mit mir? Ich stehe gar nicht auf dieser Seite.
„Ich bemühe mich nur, den Leuten gerecht zu werden, auch ihre Argumente anzuhören. Und wenn sie nur ein einziges Argument hätten und dieses Argument wäre die Macht? Nun ja, dann würde ich auf dieses eine Argument eben auch hören.
„So und deshalb gehöre ich jetzt gleich zu den Millionen der Mitläufer. Und wer auf das Argument der Macht hört, der gehorcht ihr auch und dient ihr auch? Sind Sie nicht etwa voreilig in Ihren Schlüssen? Sie irren. Sie wollen nicht sehen, daß ich nur um Eines bemüht bin: mir meine geistige Freiheit zu bewahren. Lachen Sie doch nicht! Sie verhöhnen mich ja. Ich ertrage das nicht. Meine geistige Freiheit soll nur dazu gut sein, um sich selbst das eigene Todesurteil zu besiegeln? Lachen Sie nicht! Erklären Sie mir das. Sie wollen mir gar nichts mehr erklären? Sie haben genug von mir? So schließen Sie also eine Auseinandersetzung. Traurig. Da sehen Sie doch selbst, wie wenig objektiv Sie sind.“