Ein Sylvesterabend im Sanct Bernhardshospiz

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Textdaten
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Autor: H. v. K.
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Titel: Ein Sylvesterabend im Sanct Bernhardshospiz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 55–56
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[55] Ein Sylvesterabend im Sanct Bernhardshospiz. Im Hinblicke auf den erschütternden Unglücksfall, welchem in den letzten Tagen des Novembers vorigen Jahres eine Schaar von Reisenden, die den Paß des Großen Sanct Bernhard überschreiten wollte, zum Opfer fiel, darf ich wohl voraussetzen, daß die nachfolgende Schilderung des Sanct Bernhardshospizes bei den Lesern der Gartenlaube einiges Interesse erwecken werde.

Ich brachte den Winter eines der letzten Jahre in Vevey am Genfer See zu, wo ich in einer jener Pensionen wohnte, welche auch dem weniger Bemittelten einen längeren Aufenthalt in jener herrlichen Gegend als nicht so außerordentlich theuer erscheinen lassen, wie man wohl häufig annimmt. In den Unterhaltungen unserer Gesellschaft war natürlich häufig davon die Rede, wohin man beim Beginne der günstigeren Witterung Ausflüge machen solle, allein, da wir uns zu jener Zeit im December befanden, so schienen diese Ausflüge doch noch weit vor uns zu liegen.

Wiederholt dagegen hatte ich von geborenen Schweizern gehört, wie eigentlich von den Tausenden und aber Tausenden, welche alljährlich in den wenigen Sommermonaten die Schweiz durcheilen, keiner die ganze erhabene und majestätische Schönheit dieses Landes kennen lerne, denn dazu müsse man die Alpenwelt im Winter sehen. Da nun zu jener Zeit sich das Leben in unserer Pension etwas einförmig gestaltete, konnte ich dem Wunsche nicht widerstehen, auch im Winter einen Ausflug in die Hochalpen mitten hinein zu unternehmen, und bestimmte mir selbst den 31. December als den Tag, an welchem ich an die Pforten des Sanct Bernhardshospizes klopfen wollte. Ich wußte, daß nur der letzte Theil des Weges wirkliche Schwierigkeiten bieten konnte, und fuhr daher erst am 30. December früh sieben Uhr mit der Eisenbahn nach Martigny. Schon diese Fahrt durch das Rhonethal erwies sich als ungemein lohnend, denn ununterbrochen boten sich dem Auge die gewaltigsten und wechselndsten Gebirgsformationen in nächster Nähe dar.

Ueber Martigny und durch das Thal der Dranse gelangte ich nach dem vielgepriesenen Hospiz. Als es nach einer langen ermüdenden Wanderung durch das sogenannte Todtenthal mit meiner Fähigkeit zu steigen fast [56] vorbei war und jene Gleichgültigkeit bereits begann mich zu beherrschen, welche die größte Feindin des einsamen Wanderers in solchen Regionen ist, bogen mein Führer und ich um eine Felsecke, und in der beginnenden Abenddämmerung sahen wir das schmucklos einfache, aber geräumige und ungemein fest gebaute Hospiz vor uns liegen. Der Anblick verlieh neue Kräfte; noch eine gewaltige Anstrengung, und wir hatten die Höhe des Passes gewonnen. Laut erklang die Glocke, welche den Obdach suchenden Reisenden ankündigt. In der Pforte erschien die dunkle Gestalt eines der Mönche, welche das Kloster bewohnen und eine so segensreiche Thätigkeit in diesen verlassenen Regionen entfalten. Freundlich und herzlich hieß er mich willkommen, und während mein Führer vom Klostergesinde in die unteren Räume gebracht wurde, geleitete mich der „Bruder“ in ein geräumiges Zimmer im Hochparterre. Bald brannte ein lustiges Feuer in dem mächtigen Ofen, und vor mir dampfte eine brodelnde Theemaschine, deren Inhalt mein halberstarrtes Blut bald wieder in voller Lebendigkeit kreisen ließ. Nachdem ich mich ein wenig geruht und nothdürftige Toilette gemacht hatte, hörte ich wiederum das Läuten einer Glocke, und alsbald erschien jener Mönch, welcher mich bei meinem Eintreffen bewillkommt hatte, um mich zum Diner einzuladen, falls ich anders Lust hätte, dies mit sämmtlichen Brüdern gemeinsam im Refectorium einzunehmen.

Nichts konnte mir willkommener sein, und ich folgte dem Mönche dorthin. Ein eigenthümlicher Anblick erwartete mich. Als sich die Thür geöffnet hatte, trat ich in ein sehr geräumiges, durch mehrere Lampen gut erhelltes Gemach. Die Wände waren mit von der Zeit fast schwarz gewordener glänzender Eichentäfelung bekleidet; ein einziges, aber vorzügliches Gemälde, die heilige Jungfrau darstellend, schmückte dieselben. Auf der rechten Seite befand sich ein versenkbares Büffet, welches in die Küche herabgelassen, dort mit Speisen besetzt und dann wieder aufgewunden wurde. Die linke Seite der Wand nahm eine lange Tafel ein, und um dieselbe herum standen neunzehn Mönche des Klosters, oben, neben dem Ehrensitze, der Prior. Mit höflicher Verbeugung trat er mir entgegen und lud mich ein, an seiner Seite Platz zu nehmen; dann sprach er ein Tischgebet, in welches bei gewissen Worten Alle mit einstimmten, und dann setzte man sich. Ich gewann Muße, mich umzusehen und bemerkte zu meinem Erstaunen fast lauter junge Leute, etwa in der Mitte der zwanziger Jahre stehend. Ich werde später hierauf zurückkommen. Die Tracht Aller war die gleiche: ein langer schwarzer Rock mit Taille, schwarze Schnallenschuhe und eine barettartige Kopfbedeckung, welche im Sommer mit Hüten vertauscht wird. Sie trugen ferner schärpenartig ein schneeweißes Band, welches um den Hals geschlungen wird und bis zur Taille reicht.

Die Mahlzeit begann, und ich that ihr alle die Ehre an, welche man einer vortrefflichen Küche nach sechsstündigem Bergsteigen erweisen kann. Als Getränk war ein sehr guter Rothwein vorhanden, von dem jeder nach Belieben genoß. Wir führten ein höchst lebhaftes Gespräch, und ich fragte, ob man in irgend einer Weise den heutigen oder morgenden Tag, als Ende und Anfang eines Jahres, besonders feiere, erfuhr aber, daß dies nicht geschehe. Nachdem die jüngsten der Brüder nach Beendigung des Mahls die Tische geräumt hatten, wurde wiederum ein Dankgebet gesprochen, und dann begann die sogenannte Erholungsstunde, in welcher es gestattet ist, alle möglichen Spiele, außer Kartenspiel, vorzunehmen. Bald waren auch mehrere Partien Schach, Dame, Domino etc. in vollem Gange; ich spielte mit dem Prior und einem jüngeren Mönche eine Partie Domino. Allein die geistlichen Brüder waren Meister des Spiels und mir weit überlegen, so daß ich schmachvoll alle Partien verlor. Als es fast neun Uhr war, empfahl ich mich meinen gastfreien Wirthen und suchte meine Zelle auf. Eine behagliche Wärme strömte mir entgegen; der riesige Ofen meinte es gut.

Der gewaltigen Strapaze, welcher ich mich unterzogen hatte, war eine Uebermüdung gefolgt, und es widerstrebte mir, zu Bett zu gehen. Die vorsorglichen Mönche hatten mir eine Flasche Wein in mein Zimmer gestellt. So blieb ich denn beim fröhlich blinkenden Glase, wenn auch allein, nach guter deutscher Sitte wach, bis die Klosterglocke Mitternacht und den Beginn eines neuen Jahres verkündigte. Neujahr, mehr als achttausend Fuß über dem Meere trank ich dir mein „Willkommen!“ entgegen.

Mitternacht war vorüber, meine Flasche geleert. Ich eilte, mich zur Ruhe zu begeben. Mit Hülfe eines kunstgerechten Turnersprungs gelangte ich in das enorm große Bett, in welchem ich bald einem erquickenden Schlafe anheimfiel. Ich glaubte mich erst soeben eingeschlafen, als mich die lauten Töne einer Glocke weckten; gleich darauf vernahm ich Gesang und Orgelspiel. Ich machte Licht und sah, daß es eben fünf vorbei war; das Tagewerk der Brüder begann also ungemein früh. Um sieben Uhr stand ich auf, erhielt ein vortreffliches Frühstück und machte mich fertig, meinen Rückweg anzutreten. Ehe ich jedoch denselben begann, bat ich den Mönch, der mir bereits gestern zur Hand gegangen, mir sein Kloster zu zeigen. Gern kam er meinem Wunsche nach, und wir begaben uns zunächst in das Erdgeschoß. Ich betrachtete mir dort die Wohnungen der Klosterknechte, die vortreffliche Küche und mit besonderem Interesse die weltberühmten riesigen Hunde. Es waren ihrer etwa acht damals oben, sie lagen in allen möglichen bequemen Stellungen in der Gesindestube herum. Alle waren gelb und weiß gefleckt, dabei nicht eigentlich langhaarig. Der Mönch erzählte mir, daß die frühere Race, welche langhaarig war, ausgestorben sei, daß aber die jetzige im Schnee besser verwendbar sei, als die frühere. Dann begaben wir uns wieder nach oben. Ich drückte mein Erstaunen aus, lauter so junge Leute hier zu sehen, und erfuhr, daß nur drei der Brüder über dreißig Jahre alt seien, während keiner von ihnen bereits das vierzigste Jahr erreicht hatte. Mein Begleiter war am längsten von Allen oben, nämlich neun Jahre. Er erklärte mir, daß die Luft, verbunden mit der strengen Disciplin des Ordens, einen längeren Aufenthalt fast unmöglich mache. Von dieser strengen Disciplin kann man sich einen Begriff machen, wenn man hört, daß nur die Zellen der drei ältesten Mönche geheizt werden; die Capelle ist stets ungeheizt, und dabei ist eine Kälte von fünfundzwanzig Graden dort keine Seltenheit. Die jüngeren Mönche arbeiten gemeinschaftlich im Refectorium, und jedem ist sein besonderes Studium zugewiesen.

Wir nahmen nunmehr die Capelle in Augenschein; sie ist geräumig, nicht überladen und macht einen sehr wohlthuenden Eindruck. Es ist dort eine Büchse für Beiträge im Interesse des Klosters angebracht; gern spendete ich, was mir als Dank für die gastfreie Aufnahme gut erschien. Dann gingen wir in die Bibliothek; dieselbe ist äußerst reichhaltig und wohlgeordnet, ebenso die Sammlung aufgefundener römischer Alterthümer. In einem Nebenzimmer befindet sich eine Art Bildergalerie, größtentheils Stahlstiche und Portraits fürstlicher Personen, die ihre Bilder dem Kloster zum Geschenk gemacht haben, enthaltend.

Sodann verabschiedete ich mich und dankte meinem Begleiter herzlich für die so sehr freundliche Aufnahme, welche mir zu Theil geworden. Unten erwartete mich mein Führer, der nicht minder gut verpflegt worden, und mit einem herzlichen Wunsche des Mönches für einen guten Weg, traten wir den Rückmarsch an. Er war nicht weniger schwierig, als das Aufsteigen, und erst nach manchem Ausrutschen, Versinken und mühsamen Herausarbeiten aus dem Schnee erreichten wir glücklich St. Pierre. Mein Wagen war bald bereit, und im vollen Laufe meines Maulthieres ging es nun bergab nach Orsières. Hier wurde nun ein Pferd eingespannt, und schnell war auch Martigny erreicht. Ich konnte noch den letzten Zug nach Vevey benutzen, und wenige Stunden später befand ich mich wohlbehalten in meiner freundlichen Pension. Noch lange aber werde ich mit Freuden meines Sylvesterabends auf dem Bernhardshospiz gedenken.
H. v. K.