Ein Verbot

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Textdaten
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Autor: Marie von Ebner-Eschenbach
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Titel: Ein Verbot
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 764–768
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein Verbot.

Kulturbild von Marie von Ebner-Eschenbach.

Das Dörfchen liegt in einer Mulde, an einem sachten Abhang des Marsgebirges in Mähren, und ist im Westen von Waldungen umgeben. Es hat keine Kirche, nur einen Glockenturm, keine Schule, keine Schenke, an öffentlichen Gebäuden überhaupt nur ein Armenhaus, und was dieses wieder nicht hat, ist viel schwerer aufzuzählen als was es hat. Aus seinem völlig schwarz gewordenen Strohdach guckt ein Rauchfang hervor, bei dem man sich wundern muß, wie so viel Kürze so viel Schiefheit aufbringen kann. Die Mauern sind mit hellen Punkten, den Resten der ehemaligen Tünche, übersät. Vier Löcher, ein größeres, das mit alten, zusammengenagelten Latten geschlossen ist, und drei kleinere, die im Sommer bis zur Hälfte, im Winter beinahe ganz mit Lehmziegeln verlegt werden, bilden die Thür und die Fenster.

In dem Armenhause leben in zwei Zimmern fünf Personen. Zwei Männer, ein Weib und zwei Kinder. Senior ist der einst wohlhabendste Grundbesitzer des Ortes, ein achtzigjähriger Greis, dem man heute noch ansieht, daß er bessere Tage gekannt hat. Seine Schwäche gegen seine nichtsnutzigen Kinder war’s, die ihn ins Elend brachte. Jetzt ist er selbst zum Kinde geworden und gutmütig und nachgiebig geblieben. Zur Sommerszeit verdient er noch etwas mit Gänsehüten und Erdbeerenpflücken und weint nur – gerät aber nie in Zorn – wenn seine Leidensgefährten ihm die erworbenen Pfennige wegnehmen.

Kürzlich hat er an dem ehemaligen Schweine- und Ziegenhirten einen Stubengenossen erhalten.

Der wandelnde Branntweinrausch dieser Mensch! Gelb, kahl, Wahnsinn im stieren Blick; seine Sprache ein unverständliches Gelalle, sein Gesang – einst sein Vergnügen und sein Stolz – ein tierisches Geheul. Als die „Stärkungen“, die er unaufhörlich zu sich nahm, ihn so schwach gemacht hatten, daß er umfiel, wenn er mit der Peitsche knallte, steckte man ihn ins Armenhaus, wo er die Qualen einer notgedrungenen Alkohol-Entwöhnungskur litt.

Die weibliche Bewohnerin der humanitären Anstalt war Franzka, die Arbeitsscheue. Sie hatte Schimpf und Schande und Prügel erduldet, ihr angebornes Laster aber siegreich durchgesetzt. Zur Arbeit war sie nicht zu bringen gewesen, hatte immer vom Betteln und Stehlen gelebt, dank ihrer Zudringlichkeit und ihren guten, scharfen Diebsaugen besser als mancher Fleißige.

In der Pfründnerei war sie als Köchin angestellt worden und diesem Amt gewachsen, da es ja so gut wie nichts zu kochen gab. Auch hätte ihr niemand auch nur eine Zwiebel anvertraut. So setzte die starke und gesunde Person ihre altgewohnte Thätigkeit fort, bettelte jeden Vorübergehenden an und stahl, wo und was sie konnte.

Auch ihr Junge, ihr Franzko, mußte stehlen, mußte immer etwas mitbringen, wenn er nach Hause kam: ein wenig Holz, einige Nüsse, Erdäpfel oder Rüben. Kam er mit leeren Händen, waren ihm Schläge gewiß, doch nicht gar arge, denn Mutter Franzka mochte sich auch beim Züchtigen ihres Sohnes nicht anstrengen.

Er war brustkrank, hinkte und sah aus wie ein Sieben-, nicht wie ein Zehnjähriger, der er war. Sein mageres, blasses Gesichtchen hatte hübsche Züge und einen gutmütigen Ausdruck. Seine dunkelbraunen Augen blickten so neugierig und lebhaft, als ob sie sich beeilten, zu erschauen, was ihnen nur irgend möglich war in der kurzen Zeit, die sie hatten, sich in der Welt umzusehen.

Um zwei Jahre mehr als Franzko zählte die Waise Milenka, der fünfte Gast des Armenhauses. Ihre Mutter, eine bildhübsche Bauernmagd, war nach der Geburt des Kindes gestorben, der Vater hüllte sich in Anonymität. Obwohl sie in höchster Armut aufgewachsen war, mißhandelt und verachtet wurde, hatte doch niemand sie je betrübt gesehen, eine übermütige, wilde Lustigkeit lag ihr im Blute. Sie war von ihr besessen und von einer wahren Arbeits- und Erwerbswut. Ueberall wußte sie sich nützlich zu machen, scheute keine Mühe, keine Plage, vor den Pflug hätte sie sich spannen lassen, um ein paar Heller zu verdienen. Und nicht nur beim Taglöhnern zeichnete sie sich aus. In der Schule des benachbarten Ortes Wolitz, die von den Kindern des Dörfchens besucht wird, erhielt sie immer gute Zeugnisse, und zweimal nacheinander hatte sie schon einen ersten Preis für Fleiß und gutes Verhalten beim Religionsunterricht errungen. Daheim war sie ein Satan, und gewöhnlich die Geißel, manchmal aber auch die Spaßmacherin ihrer Hausgenossen. Sie hatte Einfälle, die sogar den Senior lächeln machten.

Der Alte mußte freilich jedesmal „blechen“ für die Unterhaltung. Milenka nahm ihm sein Geld nicht weg wie Franzka und der Hirt thaten; sie schmeichelte es ihm ab, nachdem sie ihn in gute Laune versetzt hatte.

Dann sah er abwechselnd sie und seine leeren Hände an und sagte traurig: „Mädel, Du bist schlecht.“

Und sie ganz bös: „Schimpf mich nicht! Ich werf’ Dir Deine lumpigen Heller vor die Füß’ und Du wirst schon seh’n …“

Sie wußte selbst nicht, was er sehen würde, und er konnte sich ebenfalls keine Vorstellung davon machen, aber die vage Drohung erschreckte ihn und er versuchte einzulenken: „Warum sollst Du nicht schlecht sein? Kinder sind schlecht. Meine Kinder sind auch schlecht.“

Der Aelteste und der Jüngste im Hause erlitten den Einfluß der willensstarken kleinen Person. Für Franzko war’s ein seliges Leiden. Er bewunderte seine Spielgefährtin immer, ihr Anblick machte ihm immer Freude, nur wenn sie von ihrem baldigen Scheiden sprach, fühlte er sich unglücklich.

Sie sah es wohl und es schmeichelte ihr und war ein Grund mehr für sie, recht oft davon zu sprechen.

„Zu Pfingsten geh’ ich in Dienst nach Wolitz,“ sagte sie einmal wieder mit einem Stolz, wie wenn sie gesagt hätte: Ich gehe zur Krönung. „Es ist schon alles ausgemacht. Ich krieg’ dreißig Gulden aufs Jahr und ein neues Gewand. Und zehn Gulden hab’ ich schon beim Herrn Pfarrer und fünf verdien’ ich mir heuer noch dazu mit Erdbeerbrocken.“

In dem Jahre waren zum Glücke des Armenhauses die Erdbeeren wunderbar geraten, und Absatz für sie fand man reichlich. Besonders gut wurden sie bezahlt in dem Badeort an der Petsch, eine Viertelstunde Weges hinter Wolitz. Der Wald wimmelte von dörflichen Besuchern und dabei mehrten sich täglich die Frevel an den Kulturen und an dem Wilde. Den ärgsten Unfug trieben nachweisbar die Armenhäusler. In seiner Kinderunschuld zertrat der Senior die jungen Anpflanzungen, und Franzka that’s aus Faulheit, um sich einen Umweg zu ersparen. Man fand jämmerlich verendete Hasen und Rehe in Fallen, die – darüber herrschte nur eine Stimme – der Hirt gelegt hatte.

An der Spitze des Forstamtes in Wolitz, dem der Wald unterstand, hatte ein langmütiger Oberjägermeister sich befunden, der zu den Unthaten der Dörfler ein Auge zudrückte. Um das andere war er vor langer Zeit durch einen Schuß aus dem Gewehr eines Wilderers gekommen.

Nach dem Tode des alten Herrn trat sein Sohn an seine Stelle, machte der schwachen Regierung ein Ende und begann einen energischen Kampf ums Recht zu führen.

Erste Verordnung: Niemand darf mehr ohne Erlaubnis in den Wald! Die kann sich aber jeder Arme im Forstamt holen. Sie wird in Gestalt eines nummerierten Blechplättchens erteilt. ZweiteVerordnung: Außer dürrem Holz, Erdbeeren und Schwämmen darf aus dem Walde nichts fortgetragen werden!

Die beiden Erlasse erweckten unendliches Gelächter. Was? Man darf nicht mehr ohne Erlaubnis in den Wald? Seit Menschengedenken haben ihn alle Leute als ihren Nährvater und als ihren Belustigungsort betrachtet. Er lieferte ihnen Holz und ab und zu einen Braten, und Streu und Gras für ihr Vieh. Er war das Stelldichein der Liebenden, die Wonne der Freunde unbefugter Jagd. Und was er gewesen ist, wird er bleiben. Es fällt niemand ein, sich an die neuen Verordnungen zu kehren. Wenn „die oben“ sehen werden, daß sie sich umsonst plagen mit ihrem Verbieten, werden sie es schon aufgeben. Maßloses Staunen brach aus, als die ersten Strafen erfolgten, als eine Fuhre Waldstreu konfisziert und der Dieb bei Gericht angezeigt wurde.

Der Spott verwandelte sich plötzlich in Erbitterung; den Schaden, den man dem Walde bisher durch Unachtsamkeit und Mutwillen zugefügt hatte, verursachte man ihm jetzt durch Trotz [766] und durch Bosheit. Mehrmals erteilte, dringende Abmahnungen und Warnungen blieben unberücksichtigt. Da ergriff das Amt die strengste Maßregel, ließ sämtliche Blechplättchen als ungültig erklären und untersagte allen Ortsbewohnern das Betreten des Waldes. Als einige Erdbeerpflücker auch diesem Befehl zuwiderhandelten, wurden die Beeren weggeschüttet und den Sammlern gedroht: „Wenn ihr wiederkommt, zerschlägt man euch überdies die Töpfe.“

Die Töpfe zerschlagen? Heilige Dreieinigkeit! das sollen sie nur probieren, die Spitzbuben, die Menschenschinder! Es giebt, Gott sei Dank, ein Bezirksgericht, das arme Leute in Schutz nimmt gegen die höllischen Teufel auf dem Forstamt!

Alle Klugen im Orte rieten, das Bezirksgericht aus dem Spiele zu lassen. Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus, ein Gericht läßt ein Amt nicht im Stiche. Am besten ist, eine Weile Ruhe halten. Der Eifer des neuen Oberjägermeisters wird sich schon legen, und gute Zeiten werden wiederkommen.

„Nein! nicht Ruhe halten! nicht nachgeben! nicht eine Weile, nicht einen Augenblick!“ Die phlegmatische, träge Franzka war’s, die das ausrief, und wenn sie einmal in Aufregung geriet, ließ sie sich nicht leicht beschwichtigen. Sie mahnte die Armenhäusler an alle Unbill und Härte, die sie von ihrer Gemeinde erfahren hatten, und schwor hoch und heilig, die Leute im Dorf seien die letzten, von denen sie einen Rat annehmen werde.

Der Senior saß auf dem Bänklein am Hause und staunte zu ihr empor. „Die kann reden,“ sprach er in höchster Verwunderung zu Milenka, die in der Thür lehnte, das seltene Schauspiel, das Franzka im Zorne bot, aufmerksam betrachtete und einen Genuß davon hatte.

Am selben Nachmittage noch geschah etwas Unerhörtes. Franzka nahm den Kochtopf vom kalten Herde und erklärte, „in die Erdbeeren“ gehen zu wollen. Geht jemand mit, ist’s gut, geht niemaud mit, ist’s auch gut. Sie weiß nur eins: entweder kommt sie mit dem Topf voll Erdbeeren zurück, oder ohne Topf. Dann hat sie ihn eben an dem Schädel des Hegers zerschlagen, der ihn ihr nehmen wollte. Nach einigem Zögern entschloß sich der Hirt, sie zu begleiten. Die Rückkehr der beiden wurde im Armenhaus mit namenloser Spannung erwartet und bereitete eine traurige Enttäuschung. Die Franzka hatte ihre Heldenthat nicht ausführen können. Richtig war sie überrascht worden, richtig war ihr das bißchen Erdbeeren, das sie gesammelt hatte, ausgeschüttet und der Topf zerbrochen worden – der einzige, den das Armenhaus im Augenblick besaß! Der zweite war gestern beim Kochen der Kartoffeln zersprungen. Schreiend, weinend, schimpfend erzählte sie’s, und der Senior fragte mit gutmütig blöder Neugier:

„Gehst jetzt zu Gericht?“

Zu Gericht? O der alte Esel! Das wollen sie ja, „die oben“, das weiß sie ja, und der Heger, der sie erwischt hat, der Vikukal, der Sohn der alten Hexe, hat es ihr bestätigt.

Den Senior überlief’s, als sie den Namen aussprach, und Franzko drückte sich an seine Mutter und verbarg sein Gesicht in ihrem Kleide.

Der Hirt wollte sich ins Gespräch mischen; Franzka gebot ihm, zu schweigen. Er sollte sich schämen, der Lump, der Feigling! Sie wollte nur wissen, wozu er eigentlich mit ihr gegangen war! Nicht eine Beere hatte er gebrockt, und davongelaufen war er vor dem Heger wie die Katz’ vorm Wassersturz!

„Geh’st jetzt klagen?“ fragte der Senior wieder.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein!“

„Warum denn nicht?“

Darum nicht, weil der Hexensohn zu ihr gesagt hat: Geht doch klagen, geht! Wir wünschen uns nichts Besseres. Wir werden schon sehen, was alles herauskommen wird vor Gericht. „Ja, das hat er gesagt. O, der Hexensohn! und o, der Feigling, der lumpige Hirt!“

Sie stöhnte, sie schluchzte, stieß den Franzko von sich, ging in die Kammer und warf sich dort auf ihr Bett.

Milenka hatte nicht ein Wort gesprochen, nur mit größter Spannung zugehört. Ueber ihr bewegliches Gesicht hatte es gezuckt wie kleine, aufblitzende Lichter. Lauter spitzbübische, nichtsnutzige Einfälle. Eine Weile wartete sie und horchte. Der Senior und der Hirt hatten sich aufs Bänklein vor das Haus gesetzt; in der Stube wurde Franzkas kräftiges Schnarchen laut.

„Jetzt ist’s gut, jetzt komm, jetzt thun wir etwas,“ flüsterte Milenka ihrem Spielkameraden zu. „Komm mit, wir machen’s besser, wir sind gescheit, die andern sind dumm, so dumm, so dumm!“ Sie nahm Franzko bei der Hand und ging mit ihm dem Dorfe zu. Ganz langsam, so lange sie von den beiden Alten gesehen werden konnte; einmal außerhalb ihres Gesichtskreises, immer schneller immer schneller. Im Dorfe rannte sie von Haus zu Haus, von Thür zu Thür, und schrie in einer Art Rhythmus, daß es klang wie ein wildes Lied: „Erdbeerbrocken verboten! Die Heger zerschlagen einem die Töpf’! Nehm’t euch in acht!“

Es war ein förmliches Jauchzen in ihrer Stimme. Mit triumphierendem Entzücken verkündete sie ihre traurige Botschaft. Die Leute traten aus den Häusern und blickten ihr nach, wie sie dahinraste und schrie und Franzko, ihr Trabant, ihr nachlief, hustend und hinkend.

Ein wahrer Jammer, der Bub’! Die dicke Frau des Gemeindeboten blieb mitten auf der Straße stehen mit ihrer ganzen Ladung gestohlenen Holzes auf dem Rücken und rief:

„Geh’ nach Hause, Franzko! Hast ja keinen Atem!“

Sie ärgerte sich nicht einmal, daß er nicht gehorchte, ein menschlich Rühren ergriff sie. Sein Jäckchen ging in Fetzen, die ausgefranste Hose aus Sackleinwand reichte ihm bis zur halben Wade am kürzeren Bein und bis zum Knie am längeren. Ein Hemd hatte er sein Lebtag nicht am Leibe gehabt, und so legt seine Mutter ihn in den Sarg, sie ist’s imstande! Die Botenfrau nimmt sich vor, dem Buben, wenn er stirbt, was ja bald geschehen wird, ein ,ausgewachsenes‘ Hemd von ihrem Jüngsten zu schenken.

Die Kinder hatten ihre Runde beendet und näherten sich jetzt einem unheimlichen Bereiche, dem der Hexe, der Vikukalka, die nur einige hundert Schritte hinter dem Armenhause wohnte. Ihre Hütte sah von außen sehr verfallen aus, sollte aber im Innern großen Reichtum bergen. So wenigstens behaupteten die Leute; und warum sollte es nicht sein, die Vikukalka konnte ja den Teufel beschwören! Wie viele hatten sie schon gesehen, wie sie auf dem First ihres Daches saß und Beschwörungsformeln flüsterte. Was sie da sagte, konnte man nicht verstehen, aber ihre Reden mußten Gräßliches enthalten, denn ein Grauen ergriff jeden, der das leise Murmeln der geheimnisvollen Worte vernahm. Vor ein paar Jahren noch durfte man der Hexe nicht „Hexe“ sagen, da wurde sie bös und machte einem Schaden am Vieh oder an den Feldfrüchten. Jetzt durfte man ihr sagen, was man wollte, denn sie war ganz taub geworden.

Milenka blieb stehen. „Schau, wie sie neugierig schaut!“ sprach sie. „Die Tauben sind alle schrecklich neugierig, selbst wenn sie Hexen sind und ohnehin alles wissen. Aber wart’, jetzt machen wir uns einen Spaß mit ihr!“

In unbändigem Uebermut trat sie an den Zaun fast bis auf Armeslänge heran und schrie: „Verboten! Erdbeerbrocken im Wald verboten! Wenn Ihr vielleicht Lust habt, laßt sie euch vergehn!“

„W – as?“ Die Vikukalka streckte ihren braunen, dürren Hals, daß er zum Entsetzen lang wurde. „Was?“ und Milenka sprang einen Schritt zurück, schnitt Gesichter und äffte sie nach.

„Was? ein alt’s Faß! Sitzen drei Weiber d’rauf, weiß keine was! Ich werd’ mich da nicht heiser schrei’n mit Euch. Ihr seid taub wie eine tote Gans!“

O des grauenhaften Wunders; das hatte die taube Hexe gehört. Wut verzerrte ihr Gesicht. „Gans?“ zischte sie. „Gans? Du Auswürfling!“ und ein Hagel von Worten prasselte aus ihrem zahnlosen Munde. Lauter Flüche, gewiß lauter schändliche, gotteslästerliche Flüche in der Hexensprache.

Dem Franzko schauderte die Haut, Schrecken lähmte ihn.

„Lauf!“ rief Milenka. „Jesus Maria, laufen wir!“

Wieder war sie voran und wieder keuchte er hinter ihr her. Und plötzlich flog etwas über seinen Kopf weg an den Kopf Milenkas – der Reisigbesen, den die Hexe ihr nachgeschleudert hatte, und der sich in ihren Haaren verfing, sie ihr verwirrte, und den sie ein Stück Weges hinter sich herschleifte.

Franzko hatte die Nacht hindurch wüste Träume und stand am Morgen todmüde auf; er hätte sich am liebsten gleich wieder hingelegt. Aber Milenka duldete es nicht. Sie befand sich in ihrer allermuntersten Laune, und auch er sollte munter sein. Sie zog ihr bestes Kleid an, weil Sonntag war, und lief und wirtschaftete im Hause herum „wie von der Tarantel gestochen“. [767] Offenbar führte sie irgend einen Streich im Schilde; Unternehmungslust funkelte ihr aus den Augen.

„Weiß der liebe Herrgott, was die wieder vorhat,“ sagte der Senior, wackelte mit dem Kopfe, zog seinen Rosenkranz aus der Tasche und fing an zu beten.

Der Hirt und Franzka gingen in die Kirche nach Wolitz. „Könntest auch mit, Du,“ hatten sie Milenka ermahnt und ein paar Anti-Kosenamen hinzugefügt.

„Geht nur voraus, ich hol’ euch ein!“ hatte sie geantwortet und ihnen, als sie den Rücken gewandt, eine lange Nase gemacht. Jetzt stand sie auf der Straße allein mit dem dummen Buben und war unbeschränkte Herrin der Situation. „So, jetzt komm“, sprach sie, „setzt thun wir’s!“

„Was denn?“

„Was – w – as? fragst wie die alte Hex’ – w – as? – Das also! Heute traut sich keine Seel’ in den Wald, ich hab’ ihnen allen gestern eine gehörige Angst eingejagt, heute gehen wir und klauben alles zusammen, alles allein, wir zwei!“

Er meinte, daß sie ihn zum besten habe wie so oft, zuckte die Achseln und sagte: „Was Dir einfällt!“

Sie faßte ihn entschlossen bei der Hand. „Wirst schon sehen, was mir einfällt, komm nur! Ich zeig’ Dir einen Platz, wo so viel Erdbeeren sind, wie Du in Deinem ganzen Leben nicht gesehen hast.“

Ihr überzeugter Ton machte Eindruck auf ihn, besiegte aber seine Zweifel nicht. „Wie sollen wir sie denn nach Hause bringen, die Erdbeeren? Wir haben ja keine Töpf’!“

„Wir leihen uns halt ein paar aus.“

„Ja, just, wer wird nns was leihen?“

Sie zeigte ihm die Zunge.

„Wer? Der’s nicht weiß, daß wir uns bei ihm was ausborgen. Komm!“ Und sie schlug den Weg ein, der zum Haus der Hexe führt. Ja wahrhaftig, zum Haus der Hexe, und als Franzko ihr dahin nicht folgen wollte, stieß sie ihn mit Fäusten und Füßen und nannte ihn einmal ums andere Kalb.

Und dann schmeichelte sie ihm und vertraute ihm ein Geheimnis an. Die Hexe ging, wie er ja wußte, zu Mittag immer fort mit ihren Ziegen, um sie am Waldesrand grasen zu lassen, und kam vor Abend nicht heim. Diese Zeit hatte Milenka schon einmal benutzt, um ins Hexenhaus einzusteigen.

„Einzusteigen! Verwundere Du, ,zerkreuzige‘ Dich!“ beantwortete sie seinen Ausruf des Entsetzens bei dieser vertraulichen Mitteilung. „Ich war drin. Den Laden, hinten beim Stall, den hab’ ich aufgemacht. Wie? – halt so – – man muß halt geschickt sein!“ …

Und was sie alles gesehen hatte im Hause der Hexe! Einen Schlangenkopf mit einer goldenen Krone, und eine abgeschnittene Hand, eine weiße, schmale, mit Fingern und Nägeln – ach – ach! … Und ein Messer, viel, viel länger und spitziger als die Zinken der größten und spitzigsten Heugabel, und die graue Haube, die die Hexe aufsetzt, wenn sie eine andre Gestalt annehmen will, oder wenn sie sich unsichtbar machen will. Und auf dem Bort ueben dem Herd fünf schöne, glasierte Töpfe, zwei grüne, zwei braune und einen weißen mit einer Rose drauf.

Und zwei von diesen Töpfen wollte sie jetzt holen gehen und Franzko mußte Wache halten, während sie einstieg bei der Hexe. An der Ecke des Zaunes, befahl sie ihm, stehen zu bleiben. „Und wenn Du jemand von weitem kommen siehst, gluckst Du wie eine Henne, verstehst?“

Es war aber weit und breit kein Mensch zu sehen. Franzko hörte auch nichts außer dem dumpfen Dröhnen in seinem Kopfe und dem Klopfen seiner Adern an den Schläfen. Gott, Gott! wenn sie doch käme! wenn sie heil zurück käme aus dem Hexenhaus! … Wenn ihr nichts geschehen wäre, müßte sie längst da sein. Er betete ein Vaterunser, er zählte bis zwanzig und betete wieder, verging fast vor Angst um sie und stöhnte: „Milenka! Milenka!“ Seine Angst stieg aufs höchste und er begann zu glucksen. O Seligkeit! da war sie und brachte zwei Hafen mit. Für ihn einen vom Drahtbinder schon geflickten, für sich – unfaßbare Keckheit! – den mit der Rose.

Und nun vorwärts, im Laufschritt in den Wald, ums Dorf herum, auf den schmalen Hohlweg, in dem man sich so gut verstecken kann hinter den üppigen Weißdorn- und Haselbüschen, wenn einem ein Angeber begegnen sollte. Die Kinder begegneten aber nur einem jungen Mädchen, das ihnen lachend zurief: „Gesindel!“ und einem alten Mann, der eine störrische Kuh auf die Weide führte.

„Schon wieder in den Wald, verfluchtes Pack?“ wetterte er die beiden an. „Wißt ihr nicht, daß es verboten ist? Das Pack macht Schaden im Wald und uns jagt man hinaus.“

Milenka lachte laut und frech, und er schnalzte mit der Peitsche nach ihr – sie duckte sich, Franzko empfing den Streich, der ihr gegolten hatte und einen roten Striemen auf sein Gesicht hinmalte vom Ohr bis zum Mundwinkel. Das machte ihm keinen Eindruck, auch er lachte.

„Ach, Du, Milenka, beinah’ hätt’ er Dich erwischt!“

Sie rannten weiter, und der alte Mann, der seine Kuh nicht verlassen konnte, schimpfte ihnen nach.

Und nun im Walde!

Ja, das ist wahr, Milenka weiß die besten Plätze! Eine Viertelstunde nur geradeaus hinauf gestiegen zwischen den schlanken Buchen und Erlen, und man ist auf der Stelle, auf der im vorigen Jahr der Holzschlag war! Die Baumklötze sind noch da und treiben gewaltig aus, es wuchert alles in dem guten Waldboden, die Blütenkerzen des Fingerhuts in ihrer wechselnden Farbenpracht, das dichtblättrige Bilsenkraut, der kampflustige Stechapfel stolzieren als Bäumchen, und zu ihren Füßen schimmert es rot: Erdbeeren, lauter Erdbeeren! Man braucht sich nur zu bücken und hat die Hände voll. Im Nu ist der braune Hafen und der mit der Rose mehr als zur Hälfte mit Früchten gefüllt.

Milenka wirft einen raschen Blick nach der Ernte Franzkos, steht plötzlich auf, ergreift mit beiden Händen seinen Hafen und leert ihn in den ihren aus, daß die Erdbeeren hoch aufgetürmt an allen Seiten niederrieseln.

Er kniet auf dem Boden, schaut wie erstarrt zu ihr hinauf. „Milenka, was thust?“

Sie stellt den Hafen auf ihr Tüchlein, das sie vom Kopf genommen hat, knüpft die vier Enden zusammen, hebt sie in die Höhe und läuft davon.

Franzko macht keinen Versuch, ihr zu folgen, er weiß, daß er ihr nicht nachkommen kann, sie ist wie ein Reh. Nur schreien kann er und schreit denn aus allen seinen Kräften: „Milenka, Milenka! Diebin, abscheuliche!“ Bald aber ergreift ihn eine furchtbare Wehmut; sein Zorn erlischt. „Milenka, liebe Milenka! Erbarm’ Dich meiner! Komm zurück! komm zurück, Milenka!“ In allen Tönen des Schmerzes und der Zärtlichkeit wiederholte er ihren Namen.

Sie hört ihn nicht, sie ist fort, hat ihn bestohlen und verlassen.

Was soll er anfangen? Er war noch nie im Badeort, hat dort noch nie Erdbeeren verkauft, das hat immer die Mutter besorgt. Verzweifelnd wirft er sich auf die Erde und weint, und schluchzt über sich, über Milenka, über sein Elend und über ihre Schlechtigkeit. In Strömen laufen die Thränen ihm über das Gesicht, er kommt sich unaussprechlich arm und bedauernswürdig vor. Immerfort weinend und schluchzend fängt er nun aber doch an, die verschütteten Erdbeeren aufzulesen, fängt auch zu pflücken an, und der Beeren scheinen immer mehr zu werden, sie drängen sich förmlich von selbst unter seine Finger, rufen ihn förmlich an: Pflück’ uns! Pflück’ uns! – Es ist wie im Märchen, wie im Traum.

Ein paar Schritte weiter – da strotzt es von Erdbeeren, so groß wie Haselnüsse. Von solchen Erdbeeren weiß nicht einmal die verräterische Milenka, nur er allein! Sein Stolz, sein Trotz erwachen: sie soll auch nichts von ihnen wissen, er sagt ihr nichts, er braucht sie nicht, wird seine Erdbeeren verkaufen ohne sie. Er wischt sich mit dem Aermel die letzten Thränen vom Gesicht und weint nicht mehr, weil er nicht mehr weinen will. Ueber das schwere Schluchzen, das seine schmale eingesunkene Brust stoßweise hebt, hat er keine Macht, das dauert fort und beengt ihm den Atem. Er muß innehalten, sich aufrichten auf den Knien, den Kopf erheben … Allmächtiger! … Wie gebrochen sinkt er im selben Augenblick in sich zusammen … Der kleine alte Jäger Slamek mit den krummen Beinen und dem lehmfarbigen Gesicht steht da, hat einen Hund an der Leine, und der ist auch alt und ist halb blind und schnüffelt und wittert am Boden herum, giebt aber keinen Laut. Unhörbar sind sie herangekommen. Franzko hat ihnen wohl selbst die Richtung angegeben, in der sie zu suchen haben, als er wie sinnlos nach Milenka schrie. Der Jäger wirft einen Blick auf den Buben und sieht dann weg. Gerührt sein ist [768] nicht seines Amtes. Doch muß er denken: Welches Elend! und: Ich lass’ ihn laufen!

Da knallt ein Schuß und gleich darauf ein zweiter … Der Oberförster ist im Wald, jagt an der Wolitzer Lehne. Daß er herüber kommt, hat keine Wahrscheinlichkeit, aber schon das Bewußtsein: Er ist im Wald! fährt einem in die Glieder … Slamek kriegt plötzlich ein Rückgrat von Eisen, wird ein Mann der Pflicht vom Wirbel bis zur Sohle. Es sind scharfe Weisungen erteilt worden, und ein paarmal schon hat Slameks nächster Vorgesetzter ihn lau im Dienst genannt. So bückt er sich denn, nimmt den Hafen, hebt ihn hoch, schleudert ihn mit aller Gewalt zur Erde und tritt dann auf die Scherben. – „Merk’ dir’s,“ sagt er.

Der Junge hat aufgestöhnt: „Herr Jäger, Herr Jäger, ich hab’ Ihnen keinen Schaden gemacht!“

Der Jäger brummt etwas Unverständliches in seinen zerzausten und schütteren Bart hinein und geht seiner Wege.

Franzko hockt regungslos auf dem Boden. Ganz starr betrachtet er die Scherben, die vor ihm liegen.

Wie ein greller Blitz schießt es ihm durch den Kopf. Die Hexe! … Was wird die Hexe sagen, wenn sie am Abend ihren Hafen auf dem Bort vermißt?

Alles andere, sein Schmerz über Milenkas Verrat, seine Freude über sein Finderglück, die Wonne des auflebenden Mutes, alles vergessen – alles verschlungen von einem entsetzlichen Gefühl: – Todesangst! Was wird die Hexe sagen? Wer ihr ihren Hafen genommen hat, weiß sie natürlich gleich, dafür ist sie eine Hexe. Herrgott im Himmel! am Ende weiß sie es jetzt schon, macht sich auf … Herrgott, wenn der Jäger die Scherben wenigstens nicht zertreten hätte, der Hafen wäre vielleicht zu reparieren gewesen!

Auf einmal raschelt’s – ein Wiesel? ein Erdzeisel? über den abgehauenen Baumstamm mit den vielen Wurzeltrieben ist etwas hingelaufen. Kleine Augen haben Franzko aus dem Laube angeglänzt … Die Hexe kann allerlei Gestalten annehmen. O! o! Er sprang auf. Ein Vogel, ein großer schwarzer, ist aufgeflogen – das wird sie sein! Seine Haare sträuben sich – jetzt wird es ihm gehen, wie es Milenka gegangen ist. Er besinnt sich ganz deutlich, die Hexe hat den Besen nicht nach Milenka geworfen, sie selbst ist über Milenka hergeflogen und rittlings auf dem Besen gesessen, hatte ihre dunklen Beine vorgestreckt und mit den Krallen an ihren Zehen Milenkas Haare gefaßt … Und Milenka hat geschrieen: „Jesus, Maria!“ und ist ihr entwischt. Vielleicht entwischt auch er, wenn auch er ruft: „Jesus, Maria!“ Maria – wie er den heiligen Namen ausspricht, da fällt ihm ein: beim Muttergottesbild oben an der großen Eiche, da fände er Heil. In die Nähe der Muttergottes wagt eine Hexe sich nicht. Nur hinkommen, hinkommen bis zu der großen Eiche, das müßte man! Franzko rennt so rasch er nur kann den steilen Weg aufwärts und keucht und betet: „Lieber Gott, hilf, mach’ sie tot, die Hexe, daß sie mich nicht packen kann … Ihr Heiligen, all ihr lieben, guten, thut ein Wunder, gebt ihr ihren Topf zurück! Heilige Maria, Mutter des kleinen Jesuskindleins, Du hast die Kinder gern, gieb mir Kraft, gieb mir Atem, daß ich laufen kann bis zu Dir!“

Und jetzt ist ihm, als ob er lachen hörte. Sein kurzer Fuß versagt plötzlich den Dienst, will nicht mehr mit. Franzko hüpft nur noch in kleinen Sätzen. Die Hexe hat ihn, spielt mit ihm wie die Katze mit der Maus. Sie ist hinter ihm, über ihm, neben ihm, streckt den Hals, ihre runzlige Wange streift seinen Arm, und sie blickt ihm von unten hinauf ins Gesicht. Und die Totenhand greift nach ihm, er fühlt sie eisig kalt im Genick. O die Nägel! … die Nägel stechen ihn in den Rücken … Der Schlangenkopf ist auch da, rollt ihm vor die Füße … züngelt nach ihm …

Weiter, weiter mit Schaudern, Stöhnen, Weinen …

Die Sonne steht im Scheitel, dunkel ragt der Wald vor dem weißglühenden Horizont, und einzelne Lichtstrahlen zittern durchs Laub … O gnädiges Licht! Es hat die Eiche getroffen. Es gleitet über ihren Stamm. Er sieht das heilige Bild. Der glänzende Schein um das Haupt der Gebenedeiten leuchtet ihm Trost und Erbarmen ins verzweifelnde Herz. Und das himmlisch holde Angesicht lächelt! … Da bin ich, komm zu mir!

Eine höchste, letzte Anstrengung. Franzko faltet die Hände und schreit auf.

Die Hexe hat ihr Aergstes gethan, sie hat ihm ihr Messer in die Brust gestoßen … Blutstropfen perlen auf seinen Lippen …

Aber einige Schritte nur noch, und er ist am Ziel. Die heilige Jungfrau neigt sich ihm zu, öffnet die Arme, breitet den blauen Mantel aus, und das Kind stürzt sich hinein, schmiegt sich in seine weichen Falten und betet, gerettet, erlöst: „Gegrüßet seist Du, Maria, Du bist voll der Gnaden.“

*  *  *

Milenka kam rechtzeitig heim, stellte den Hafen an seinen alten Platz, ging stolz ins Armenhaus und klimperte mit den kleinen Münzen in ihrer Tasche. Ihre erste Frage war nach Franzko.

„Ist der dumme Bub’ noch nicht da? Er hat sich gewiß erwischen lassen, und sie haben ihm den Topf zerschlagen, und jetzt traut er sich nicht nach Hause.“

Eine Weile wartete sie, dann ging sie ihn suchen.

Von weitem schon erblickte sie ihn. Er lag auf der Erde vor der großen Eiche.

„Fauler Schlingel!“ rief sie und eilte auf ihn zu und stieß mit ihrem Fuße gegen sein ausgestrecktes Bein: „Rühr’ dich!“ … Das Wort erstarb auf ihrer Zunge, schaudernd wich sie zurück. In die weitaufgerissenen Augen, mit denen sie ihn anstarrte, schoß es ihr brennend heiß. Der rührt sich nimmer, der ist tot. Sie wußte es gleich, sie ging ja von jeher jeden im Dorf Verstorbenen ansehn. Fast alle hatten einen friedlichen Ausdruck gehabt – keiner einen so still glückseligen. Von dem durchsichtig blassen Kindergesicht ihres kleinen Freundes ging ein förmliches Leuchten aus. Sein Kopf war im hohen, weichen Moose eingebettet wie auf einem roten Polster. Es waren aber nicht Erdbeeren, was den Boden färbte, es war Blut.