Ein aufgehender Stern

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Autor: Emil Schiff
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Titel: Ein aufgehender Stern
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 647-649
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[647]
Ein aufgehender Stern.

Josephine Wessely als Clärchen im „Egmont“.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Am Abend des zwölften Juli dieses Jahres drängten sich nach einer langen Vorstellung dichte Schaaren eines begeisterten Publicums aus den weiten Räumen des Berliner Nationaltheaters durch dessen Ausgänge hinaus in’s Freie. An den Thüren sah man frische Zettel, auf denen in überkreuzten Zeilen großgedruckt die Worte standen „Josephine Wessely. Noch zwei Rollen!“ Von drinnen aber hallten noch die letzten Beifallsrufe, die einer jungen Glücklichen galten. Erst spät war den Wenigen die [648] angenehme Enttäuschung geworden, daß dies doch keine Abschiedsvorstellung und in der letzten Stunde der Künstlerin die Möglichkeit gegeben worden, sich den Berlinern noch zwei Mal zu zeigen. Die Meisten aber hatten sie für einen Abschied gehalten, und als am Schluß der „Geschwister“ der Vorhang über dem Glück Mariannens und Wilhelm's herniederrauschte, brach ein Beifallsjubel aus, wie ich ihn in Berliner Schauspielhäusern noch nicht glaube vernommen zu haben. Viele Male mußte Marianne wieder hervorkommen, und Kränze und Sträuße über Sträuße – Sträuße, an deren enthusiastischen Ursprung ich mehr glaube, als an den der Kränze – flogen auf die Bühne, daß die kleinen, weißen Hände sie kaum fassen konnten. Wie hold war sie, die jetzt nicht mehr spielte, in ihrer erröthenden Freude über die Huldigung, die ersten Kränze und Sträuße im Leben, einem jungen Geschöpf gespendet, das, vor acht Tagen noch kaum über die Grenzen ihrer Leipziger Thätigkeit und den engen Freundeskreis in der Wiener Heimath bekannt, heute auf der Höhe künstlerischen Erfolges und, kaum wissend wie ihr geschah, von einem frischen, aber nicht geringen Ruhm umgeben dastand, den sie im Flug in der deutschen Hauptstadt gewonnen. Und wahrlich, das, womit sie ihn gewonnen, giebt begründete Hoffnung, daß der Ruhm, der ihr in wenig Tagen nur so anflog, in Jahren nicht verschwinden wird.

Hoffentlich ist unserem Volke von dem Schlachtengetöse und der politischen Beängstigung nicht der ideale Sinn des Schönen getrübt und etwas Aufmerksamkeit vorhanden für etliche schwache Worte, die den neuen strahlenden Stern am deutschen Bühnenhimmel verkünden wollen.

Sollen wir das Lebensbild eines siebenzehnjährigen, kaum aufgeblühten Mädchens geben, welches das Leben erst vor sich hat? Was giebt es da auch zu sagen? Einem ehrsamen, wohlhabenden Schuhmachermeister in Wien geboren, wuchs sie an der heiteren Donau munter auf, wurde Mädchen und fing an lange Kleider zu tragen. Der Vater ließ sie „ausbülten“, das heißt er ließ sie Französisch und den Flügel schlagen lernen und war ungeheuer stolz auf sie. Nur paßte es ihm nicht, daß sie, nach seiner Meinung verführt von der Kundschaft der Operndamen, die sich bei ihm ihre Stiefelchen anmessen ließen, durchaus zum Theater gehen wollte, aber um „Ruh'“ zu haben, gab er sie auf Dr. Förster's Rath in die dramatische Schule des Conservatoriums, wo sie bald den ersten Preis und die Medaille bekam, welche seitdem nicht wieder vergeben worden ist. Mit Förster ging sie sodann an das Leipziger Stadttheater, dem sie über ein halbes Jahr angehörte, bis sie Anfangs Juli dieses Jahres in Berlin eintraf, um an dem Gastspiele der Wiener Burgschauspieler Lewinsky, Hartmann und Hallenstein auf Veranlassung des Letztern theilzunehmen und Erfolge zu erringen, wie sie in den letzten Jahre außer dem vorjährigen Gastspiele der Wolter kaum eine Schauspielerin in Berlin davontrug. Und zwar geschah dies mit Rollen, welche theilweise zu den schwierigsten Aufgaben gehören, mit Emilia Galotti, Louise Millerin, Clärchen, Marie Beaumarchais und Marianne in den „Geschwistern“. Daß sie die Marianne, welche sonst nur den Naiven gehört, spielte, und zwar an einem Abend, nachdem sie die schwierige Marie im „Clavigo“ gegeben, ist, nebenbei gesagt, ein Kunststück, das selbst geübtere Künstlerinnen nicht immer ungestraft wagen dürften, und daß sie beide Rollen mit Leichtigkeit und vollendet spielte, in eben nur aus der Mühelosigkeit des Genies zu erklären. Den ganzen geheimnißvollen Reiz des Genies habe ich wiederum empfunden, als ich später in Leipzig Gelegenheit hatte, unsere junge Künstlerin im „Faust“ zu sehen, als sie das Gretchen zum ersten Male spielte. Es war eine nahezu vollendete Leistung voll Poesie und Anmuth, voll innerlichster Herzenswärme und erschütternder Lebenswahrheit.

Jeder, auch der ehrlichste Mensch, hat etwas vom Schauspieler, und mit Verstand und mäßiger Begabung treiben Viele diese Kunst, ohne etwas zu verderben, ja sogar oft mit ansehnlichem Erfolg. Allein auch unter den wenigen Auserlesenen, welche es so weit in der Kunst gebracht haben, den eigenen Menschen zu verleugnen und mit fremdem Ausdruck und fremden Geberden den Handlungen und Worten der dichterischen Phantasiegestalten diejenige Körperlichkeit zu geben, welche den Beschauer aus der Wirklichkeit hinwegtäuscht und ihn in der Bühne, diesem cubischen Ausschnitt einer anderen Welt, eine zweite Wirklichkeit sehen läßt – auch unter Diesen sind wieder zwei Classen von einander zu trennen. Die Eine, welche mit ausdauernder Uebung und mechanischem Geschick, das selbst die Muskeln der Augen und der Kopfhaut beherrscht, es erreicht haben, in Stimme, Geberde und Bewegung den Ausdruck aller Empfindungen zu erzeugen, von denen der Dichter uns seine Menschen will bewegt erscheinen lassen – und die Anderen, welche, sobald sie die Bühne betreten, wirklich auch von denselben Empfindungen bewegt, von den gleichen Leidenschaften durchrast werden, die sie darstellen sollen. Auf dem Theater können die Ersteren oft brauchbarer sein als die Letzteren, namentlich wenn diesen nicht ganz die gleiche Fähigkeit innewohnt, ihre Empfindung zum Ausdruck zu bringen. Allein unserem Herzen stehen diese, ob sie schon nicht den höchsten Grad der Gewalt des Schauspielers über sich selbst darstellen, näher, und wenn sie gar auch die zweite Tugend in der Vollendung besitzen, daß Empfindung und Ausdruck sich decken, dann entsteht in dem Zuhörer jener Paroxysmus der Begeisterung, mit dem der Beifall, welchen die Kunst des Virtuosen erringt, sich niemals messen kann. Und zu diesen Andern gehört Josephine Wessely; das allein erklärt auch die räthselhafte Gewalt, die sie schnell über das hiesige, sonst so kalte, gern krittelnde Publicum errungen hat.

Eine solche Erscheinung ist es auch, die unsere deutsche Bühne braucht, wenn das erschlaffte Interesse wieder aufleben soll. Wir sind blasirt von der Künstlichkeit; wir lechzen nach einer Kunst, die nicht das Abbild der Natur, sondern diese selbst ist. Das scheint sie nun in dem jugendlichen Wesen, von dem wir sprechen. Wann und wo sollte sie mit ihren siebenzehn Jahren es gelernt haben, als Emilia Galotti im Moment der Ermordung diesen wunderbaren Todesseufzer zu lügen, der nicht ein Schmerzenston, sondern ein Ah! des Dankes und der Erlösung ist, wann und wo diesen hinreißenden Ausbruch der Freude, als Egmont bei Clärchen erscheint, wann und wo den unnachahmlichen Backfisch- und Schelmenton, mit dem sie als Marianne zu Wilhelm, der sie nicht küssen wollte, sagt: „Jetzt verbrenn' ich die Tauben.“

Nein, nein, hier ist die Täuschung nicht auf unserer Seite, sondern auf derjenigen der Darstellerin, die dort mit einem unsagbaren Tone des Befremdens und des Stolzes, dessen Klang und Ausdruck ich nie vergessen möchte, auf das Wort der Mutter, daß ihre Tochter ein verworfenes Geschöpf ist, erwidert: „Verworfen, Egmont's Geliebte verworfen?“ die mit prophetischer Hoheit und fortreißender Gewalt die Memmen von Bürgern zur Rettung aufruft, die einen Schauer von Bewunderung und Ehrfurcht erregt, wenn sie sagt: „Könnt ihr mich mißverstehen? Vom Grafen sprech' ich; ich spreche von Egmont. ... Den Namen nicht! Wie? Nicht diesen Namen?“ – nein, diese scheint nicht, sie ist Clärchen. Ich hatte, als ich sie so sah, stets die Empfindung, daß, wenn jetzt plötzlich ein Brand ausbräche und es rüttelte sie Jemand, um sie in Sicherheit zu bringen, der Schreck nicht über die Gefahr, sondern über die plötzliche Verwandlung ihres Wesens sie lähmen könnte, daß ihr sein müßte, als hätte sie im Traume einen schweren, jähen Fall gethan. Mag man immerhin sagen, daß gerade diese Wirkung zu üben, die höchste und nicht unmögliche Leistung der virtuosen Kunst ist, mag es immerhin möglich sein, ohne Empfindung auch die leisesten Abstufungen der Empfindung durch die entsprechenden Muskelinnervationen zum Ausdruck zu bringen und Bewegungen zu schaffen, unregelmäßige, innige Naturlaute der Kehle zu entringen, deren Schaffung dem Bereiche des Willens für immer entzogen scheint, – ich kann es nicht glauben, und wäre dem doch so, dann müßte wohl dieses junge blühende Geschöpf um seiner Armuth willen zu beklagen sein, aber die Wirkung auf den Zuschauer würde die gleiche bleiben. Sagt ja doch schon Lessing, daß die Empfindung überhaupt immer das streitigste unter allen Talenten eines Schauspielers ist: „Sie kann sein, wo man sie nicht erkennt, und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist.“

Es soll übrigens nicht gesagt sein, daß die jugendliche Künstlerin etwa sich des Hausrathes technischer Erfahrung entschlägt, den ihr die Schule an die Hand giebt. Im Gegentheil, sie handhabt auch diesen vollständig und mit einem Wohlbedacht, einer Richtigkeit und Sicherheit, welche, wie ich bemerkt habe, gerade die Schauspieler am meisten in Erstaunen setzen. Sie ist [649] eine meisterhafte Sprecherin, wobei ihr schönes, allen Wandlungen sich leicht fügendes Organ sie trefflich unterstützt; ihre Bewegungen sind leicht und anmuthig; ihre Maske, auch dort, wo sie durch Alter oder Krankheit verändert sein muß, ist mit seltenem Tact gebildet, kurz nichts Gezwungenes in ihrem ganzen Wesen.

Ich habe vorhin an das Clärchen angeknüpft, weil sie die vollendetste Frauengestalt ist, die Goethe schuf, und weil die Versinnlichung dieser Gestalt durch die wundersame Darstellung des Fräulein Wessely ein bedeutendes Kunstwerk ist. „Was soll auch – sagt Helmholtz – „ein Kunstwerk, dieses Wort in seinem höchsten Sinne genommen, wirken? Es soll unsere Aufmerksamkeit fesseln und beleben; es soll eine reiche Fülle von schlummernden Vorstellungsverbindungen und damit verknüpften Gefühlen in mühelosem Spiele wachrufen und sie zu einem gemeinsamen Ziele hinlenken, um uns die sämmtlichen Züge eines idealen Typus, die in vereinzelten Bruchstücken und von wildem Gestrüpp des Zufalls überwuchert in unserer Erinnerung zerstreut daliegen, zu lebensfrischer Anschauung zu verbinden.“

Dieser schöne Ausspruch, auf Werke der bildenden Kunst berechnet, ist auch vollkommen zutreffend für eine Schöpfung der dramatischen Darstellung, welche ja Malerei, Plastik und Dichtung in sich vereinigt. Wer darum in ihr jene Wirkungen schafft, deren Ergebniß das wunderbare Wohlgefallen ist, das wir einfach mit der Empfindung des Schönen bezeichnen, dem schulden wir auch die gleiche Huldigung. Mag immerhin die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flechten, die Mitwelt ist nicht undankbar, wenn einmal es dem Genius gelungen ist, sie willenlos unter seinen zauberischen Bann zu zwingen.
Emil Schiff.