Ein blutiges Drama
Eine Bluttat, die den Psychologen vor ein unlösbares Rätsel stellt, ereignete sich im Oktober 1905 in der Herzoglichen Residenzstadt Braunschweig. Ein kaum den Knabenschuhen entwachsener Mensch, Sohn sehr anständiger Eltern, hatte zwei bildschöne junge Mädchen, denen er Musikunterricht erteilte, wie er versicherte, auf deren ausdrückliches Verlangen, in einer Weise erschossen, daß, als der junge Mann die Tat im Gerichtssaale schilderte, selbst ergraute Kriminalisten ein Schaudern überkam. Die Tat des achtzehnjährigen Banklehrlings Paul Brunke erregte in ganz Deutschland und auch im Auslande ein furchtbares Aufsehen. Als Brunke am 21. März 1906 sich vor der ersten Strafkammer des Braunschweiger Landgerichts zu verantworten hatte, wurde der Zuhörerraum von Damen und Herren der besten Gesellschaft geradezu gestürmt. Brunke war verhältnismäßig klein, bartlos, hellblond. Er hatte ein selten schönes Gesicht und machte den Eindruck eines gebildeten jungen Mannes. Er verstand, sich sehr gewählt auszudrücken, sein ganzes Auftreten war durchaus vornehm zu nennen. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Roßmann. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Reinking. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Dr. Robert-Braunschweig. Der Vorsitzende bemerkte nach Eröffnung der Verhandlung: Ehe wir in die Verhandlung eintreten, wird zu erwägen sein, ob im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit auszuschließen ist. Es werden in der Verhandlung die häßlichsten Laster zur Erörterung gelangen, deren ein Mensch nur irgend fähig ist. Es wäre doch wohl geboten, die Öffentlichkeit auszuschließen.
Staatsanwalt[WS 1] Reinking: Ich bin der Meinung, daß die Verhandlung öffentlich geführt werden kann. Die Sache hat die weite Öffentlichkeit in einem Maße beschäftigt, daß die Öffentlichkeit auch ein Recht hat, von der Verhandlung volle Kenntnis zu erhalten. Ich halte es auch für erforderlich, daß das Publikum die einzelnen Vorgänge erfährt. Ich halte es für möglich, die Verhandlung so zu führen, daß die öffentliche Sittlichkeit nicht verletzt wird. Allerdings wäre es den im Zuschauerraum befindlichen Damen anzuraten, sich zu entfernen. Ich werde daher einen Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit nicht stellen, sondern gebe die Entscheidung dem Gerichtshof anheim.
Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Robert: Ich kann mich den Ausführungen des Herrn Staatsanwalts nur anschließen. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung ist die höchste Errungenschaft der Neuzeit. Die vorliegende Sache hat weit über die Grenzen Deutschlands das größte Aufsehen gemacht, ich halte es daher für dringend notwendig, die Verhandlung öffentlich zu führen. Aber auch der Angeklagte hat ein Interesse, daß die Verhandlung öffentlich geführt wird. Es sind in der Öffentlichkeit solch unsinnige Gerüchte verbreitet worden, daß es im dringenden Interesse der Sache liegt, die Verhandlung öffentlich zu führen. –
Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Eröffnungsbeschluß in öffentlicher Sitzung zu verlesen.
Nach dem Eröffnungsbeschluß war der Angeklagte der vorsätzlichen Tötung im Sinne des § 216 des Straf-Gesetzbuches und der Unterschlagung und des Diebstahls beschuldigt.
Der Vorsitzende verkündete alsdann: Der Gerichtshof hat beschlossen, nunmehr die Öffentlichkeit auszuschließen, da durch die Öffentlichkeit der Verhandlung der öffentlichen Sittlichkeit Gefahr droht. Die Vertreter der Presse sind zugelassen, der Zuhörerraum ist zu räumen.
Der Vorsitzende ließ hierauf den Angeklagten vor den Richtertisch treten. Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei am 27. Juli 1887 als Sohn eines Schlossermeisters in Braunschweig geboren, lutherischer Konfession. Er habe die Oberrealschule bis zur Untersekunda besucht und sei am 4. Juli 1904 in das Braunschweiger Bankgeschäft von Spanjer-Herford als Lehrling eingetreten. Er hatte sich vorher bei der Kaiserlichen Marine gemeldet, wurde aber als zu schwach befunden und deshalb nicht angenommen. Sein Vater sei tot. Er habe noch einen Bruder und zwei bereits verheiratete Schwestern. Seine Mutter habe in der Monumentstraße 1 in Braunschweig parterre und erste Etage eine Wohnung zwecks Abvermietens gehabt. Von dem Plus des Abvermietens habe seine Mutter gelebt. Er (Angekl.) sei außer von seiner Mutter von einzelnen Wohltätern und von seinen Schwestern unterstützt worden. Er habe, nachdem er in das Bankgeschäft eingetreten war, Geschichte und Philosophie getrieben. Ganz besonders habe er „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant, sämtliche Werke Schopenhauers, die Gedichte von Heine u. a. gelesen. – Vors.: Haben Sie dies alles, insbesondere Schopenhauer und Kant, denn auch verstanden? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Na, hören Sie einmal, das fällt manchem gebildeten Erwachsenen schwer. – Angekl.: Ich habe alles verstanden. – Vors.: Sie haben sich auch mit dramatischer Poesie beschäftigt? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Sie haben selbst mehrere Dramen verfaßt und diese dem hiesigen Hoftheater, dem Deutschen Theater und dem Lessingtheater in Berlin zur Aufführung eingereicht? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Das erste Drama betitelte sich „Ein Sonderling“, der Sonderling waren Sie? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Ein zweites Drama betitelte sich „Elternlos“. – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Wie kamen Sie auf den Gedanken, Theaterstücke zu schreiben? – Angekl.: Ich hatte die Absicht, Schriftsteller zu werden. – Vors.: Sie hatten doch aber die Absicht, das Bankgeschäft zu erlernen? – Angekl.: Es gefiel mir in dem Bankgeschäft nicht, ich wollte daher Schriftsteller werden. – Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte: Er sei bereits als achtjähriger Knabe von einem Erwachsenen zum unnatürlichen Geschlechtsverkehr verführt worden. Nachdem er größer wurde, habe er mit gleichaltrigen und auch erwachsenen Mädchen unzüchtigen Verkehr in sehr erheblichem Maße unterhalten, so daß seine Gesundheit eine wesentliche Beeinträchtigung erfahren hatte. Die Unterschlagung bei seinem Prinzipal gebe er zu, er sei aber der Meinung gewesen, er werde aus dem Honorar, das er für seine Dramen erhalten werde, in die Lage kommen, den Schaden zu ersetzen. Er habe auch den Versuch gemacht, für Musikzeitungen und die „Gartenlaube“ zu schreiben, er sei aber auch dort mit seinen Anerbietungen abschlägig beschieden worden. Er sei infolge seines ausschweifenden Lebens so geschwächt gewesen, daß er genötigt war, stärkende Sachen zu sich zu nehmen. Deshalb habe er sich verleiten lassen, bei seinem Prinzipal die Unterschlagung zu begehen. Die Geschwister Haars hatten in den „Braunschweiger Neueste Nachrichten“ einen Klavierlehrer gesucht. Er habe sich daraufhin gemeldet. Honorar habe er nicht erhalten. – Vors.: Es handelte sich wohl dabei mehr um eine Liebelei? – Angekl.: Ganz recht, Herr Präsident: es handelte sich in der Hauptsache um eine Liebelei. Brunke bemerkte weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe mit der jüngeren, der Alma Haars, ein Liebesverhältnis angeknüpft, obwohl ihm die ältere, Martha, besser gefiel. Diese hatte aber einen Bräutigam. Unzüchtigen Verkehr habe er mit keinem der beiden Mädchen gehabt. Er hatte sehr bald eingesehen, daß beide Mädchen vollständig unschuldige, anständige Mädchen waren, bei denen ein unzüchtiger Verkehr ausgeschlossen war. Martha[WS 2] erhielt nach einiger Zeit einen Brief von ihrem Bräutigam, in dem dieser schrieb: Er müsse die Beziehungen zu ihr abbrechen, da sein Vater in eine Verehelichung mit ihr nicht willigen wolle. Martha wurde daher sehr niedergeschlagen und ersuchte ihn (Angeklagten), ihr Morphium zu verschaffen, damit sie sich vergiften könne. Es sei ihm aber nicht gelungen, Morphium zu erhalten. Darauf habe Martha ihn gebeten, sie zu erschießen. Er habe zunächst abgelehnt. Infolge der steten Ablehnungen seiner Dramen hatte er aber beschlossen, ebenfalls aus dem Leben zu scheiden. Dies habe er der Alma mitgeteilt. Da habe Alma gesagt: Wenn ihr aus dem Leben scheidet, dann will ich auch sterben. Dies habe er Martha erzählt. Letztere sei sofort mit dem Plan, daß sie alle drei gemeinsam sterben, einverstanden gewesen. Martha habe ihm alsdann 20 Mark gegeben, damit er einen guten Revolver und Patronen kaufen könne. Auf Ersuchen der Mädchen habe er sich zunächst im Schießen geübt. Am Abend des 17. Oktober 1905 sollte die Tat ausgeführt werden. Am Montag, den 15. Oktober, sei er mit den beiden Mädchen noch ausgegangen. Am folgenden Tage, den 16. Oktober, habe er mit den beiden Mädchen Klavier gespielt. Am 17. Oktober, abends gegen 8 Uhr, seien die beiden Mädchen zu ihm in die Wohnung gekommen. Er hatte seiner Mutter ein Billett zu einer Spezialitätentheatervorstellung gekauft, damit er mit den Mädchen in der Wohnung allein sein konnte. Alma machte zunächst den Vorschlag, in ihre elterliche Wohnung zu fahren und sich der Korsetts zu entledigen, da die Kugeln an den Korsetts abprallen könnten. Sie seien nun alle drei in einer Droschke in deren elterliche Wohnung gefahren. Er habe unten gewartet. Die beiden Mädchen haben an ihre Eltern einen Brief geschrieben, in dem sie diese um Verzeihung baten, daß sie beschlossen hätten, aus dem Leben zu scheiden. Alsdann entledigten sie sich der Korsetts und zogen weißseidene Blusen an. Hierauf fuhren sie in seine Wohnung zurück. Auf Ersuchen der Mädchen holte er zwei Flaschen Champagner à 15 Mark; das Geld hatte ihm Martha gegeben. Nachdem sie den Champagner ausgetrunken hatten, ersuchte ihn Alma, zunächst einen Probeschuß abzugeben. Er schoß auf eine Photographie, der Schuß traf vortrefflich. Alsdann setzte er die Mädchen auf einen Sessel dicht nebeneinander. Er schoß zuerst auf Martha. Die Kugel traf mitten ins Herz. Martha röchelte noch einige Augenblicke und war gleich darauf tot. Nun sagte Alma: „Jetzt schieße mich.“ Er zielte auf Alma und traf auch diese sofort tödlich ins Herz. Jetzt wollte er sich erschießen, allein angesichts der beiden Leichen fehlte ihm der Mut dazu. Er lief zur Polizei und erzählte, was geschehen war. – Vors.: Sie sollen zunächst mit den Mädchen auf einem Bett gesessen haben. Dadurch sei das Bett in Unordnung gekommen. Sie haben das Bett in Ordnung gebracht, damit man nicht auf den Gedanken komme, es seien Unsittlichkeiten begangen worden. – Angekl.: Das ist richtig. – Vors.: Hielten Sie es denn nicht für ein Verbrechen, zwei Menschen zu erschießen? – Angekl.: Die Mädchen baten mich doch, sie zu erschießen. – Vors.: Das durfte Sie aber doch nicht veranlassen, ein solch furchtbares Verbrechen zu begehen, dachten Sie denn nicht an das Herzeleid, das Sie den Eltern der Mädchen bereiteten? – Angekl.: Ich dachte wohl daran, aber die Mädchen baten mich doch so sehr. – Vors.: Sie sind konfirmiert worden. Da haben Sie doch die Lehren des Christentums empfangen? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Da wissen Sie doch auch, daß der Mord und auch der Selbstmord eine schwere Sünde ist? Es heißt doch in der Heiligen Schrift: Du sollst nicht töten, und ferner heißt es in der Lehre des Christentums: Das Leben ist ein von Gott verliehenes Geschenk, das, wenn es auch noch so schwer ist, man sich nicht selbst nehmen darf. War Ihnen das bekannt? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Und trotzdem haben Sie die Mädchen erschossen! – Angekl.: Die Mädchen baten doch so. – Vors.: Alma hatte doch aber gar keinen Grund zu einem Selbstmord? – Angekl.: Alma hatte einmal ein Liebesverhältnis mit einem Soldaten; da der Soldat von Alma nichts mehr wissen wollte, so hatte sie sich das auch sehr zu Herzen genommen.
Auf Antrag des Sachverständigen, Geh. Medizinalrats Dr. Gerlach, wurde ein Brief verlesen, den der Angeklagte am 16. November 1905 aus dem Untersuchungsgefängnis an seine Mutter geschrieben hatte. Der Brief lautete etwa: „Geliebte Mutter! Die Untersuchung gegen mich scheint sich etwas lang auszudehnen. Ich befinde mich wohlauf, nur daß ich meiner Freiheit entbehre. Mein Klavier und meine Guitarre fehlen mir. Zu lesen habe ich genug. Das Essen ist schmackhaft und bekommt mir sehr gut. Ich bin keineswegs ein an Geist und Körper gebrochener Mensch. Wenn ich herauskomme, dann werde ich vom unreifen Knaben zum reifen Manne herangewachsen sein. Ich bin keine Verbrechernatur, ich habe nichts Entehrendes begangen.“ Der Brief schloß mit der Bitte an die Mutter, ihm eine Nagelschere und ein Buch zu schicken.
Geh. Rat Dr. Gerlach: Haben Sie den Brief geschrieben, damit ihn Ihre Mutter bekommen sollte oder damit er abgefangen werde? – Angekl.: Ich habe den Brief allerdings geschrieben in der Absicht, daß er allgemein gelesen werde. Ich wollte mich gegen die Beschuldigung verwahren, daß ich ein Verbrecher sei. Herr Staatsanwalt Peßler nannte mich nämlich von vornherein eine Bestie, das wollte ich zurückweisen. – Geh. Rat Dr. Gerlach: Ist es richtig, daß Sie schon, als Sie noch in der Untersekunda saßen, Dramen geschrieben haben? – Angekl.: Jawohl. – Staatsanwalt: Haben Sie nicht auch Abschiedsbriefe geschrieben? – Angekl.: Jawohl. – Staatsanwalt: Wo schrieben Sie die Abschiedsbriefe? – Angekl.: Im Kontor. – Auf Antrag des Geh. Med.-Rats Dr. Gerlach wurden einige Stellen aus den Dramen verlesen. – Das dritte Drama, das Brunke auch dem Königlichen Schauspielhause in Berlin eingereicht hatte, betitelte sich: „Aus dem Leben der Prinzessin Luise“.
Nach Vernehmung des Angeklagten beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit wiederherzustellen.
Es wurde darauf Ober-Realschuldirektor Dr. Wernicke als Zeuge aufgerufen: Er habe den Angeklagten in der Untersekunda selbst unterrichtet. Der Angeklagte sei sehr begabt und ein durchaus fleißiger Schüler gewesen. Die Lehrer seien sämtlich mit ihm zufrieden gewesen. Er habe niemals die Beobachtung gemacht, daß der Angeklagte anormal sei.
Nunmehr erschien der unglückliche Vater der getöteten Mädchen, Kaufmann Heinrich Haars, augenscheinlich von Gram erfüllt, als Zeuge. Er bekundete: Seine Töchter seien sehr sittsame, ordentliche Mädchen gewesen. Die Martha sei allerdings sehr niedergeschlagen gewesen, als ihr Bräutigam ihr abgeschrieben hatte, beide Mädchen hatten aber niemals Selbstmordgedanken geäußert.
Dr. med. Bauermeister bekundete als Zeuge und Sachverständiger: Die Schädelbildung des Angeklagten sei normal. Der Angeklagte sei aber stark hysterisch veranlagt. Er sei sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits erblich belastet. – Bankier Spanjer-Herford: Der Angeklagte sei ein sehr brauchbarer Mensch gewesen; aufgefallen sei es ihm nur, daß er oftmals über Dinge sprach, von denen er nichts verstanden habe. – Es wurden alsdann noch mehrere Zeugen vernommen, die die erschossenen Mädchen als höchst achtbar schilderten; sie machten einen vollständig sittenreinen Eindruck. – Frau Mushake: Martha Haars habe ihr einige Tage vor der Tat einen Brief ihres Bräutigams gezeigt, in dem dieser mitteilte, daß er alle Beziehungen mit ihr abbrechen müsse. Das Mädchen war furchtbar aufgeregt und sagte: „Ich muß mich erschießen. Meine Schwester Alma will mit mir sterben.“ – Der Ehemann der Vorzeugin bestätigte diese Bekundung. – Der Vorsitzende zeigte alsdann den Prozeßbeteiligten zwei auf dem Richtertische liegende Photographien, die die Stätte des Verbrechens und die Leichen veranschaulichten. Auf dem Richtertische stand außerdem ein dem Angeklagten gehörender Apparat. Der Zweck dieses Apparates kann aus Schicklichkeitsgründen auch nicht andeutungsweise mitgeteilt werden. –
Polizei-Inspektor Bussenius[WS 3]: Der Angeklagte habe ihm am Abend des 17. Oktober 1905 seine furchtbare Tat in so ruhiger Weise geschildert, daß er sofort zu der Ansicht kam, der Angeklagte sei geistesgestört. Zum mindesten habe er sich gesagt, der junge Mensch müsse die Tat im Rausch getan haben, zumal er nach Spirituosen roch. Er (Zeuge) hatte auch sofort festgestellt, daß der Angeklagte mit seinen Opfern vor der Tat Champagner getrunken hatte. Auf seine Frage, wie er denn dazu gekommen sei, die Mädchen zu erschießen, sagte Brunke: „Sie wollten es ja haben.“ –
Sanitätsrat Dr. Roth: Die Mutter des Angeklagten sei stark nervös, ob der Vater ein Trinker war, stehe nicht fest. Der Bruder des Angeklagten sei von derselben geistigen Beschaffenheit wie er. Der Angeklagte sei nicht unbegabt, seine frühzeitige geschlechtliche Ausschweifung habe ihn jedoch geistig und körperlich geschwächt. Das Lesen von Schopenhauer und Kant habe ihn zu der Geringschätzung des Lebens geführt. Er habe während seiner ganzen Untersuchungshaft nicht eine Spur von Reue gezeigt. Dafür spreche auch der verlesene Brief, in dem er u. a. schrieb: Ich bin keineswegs eine geknickte Lilie, sondern eine trotzige Eiche. Der Angeklagte gab verschiedene Ursachen für den Selbstmord an. Der Hauptbeweggrund war wohl, daß er jede Möglichkeit ausgeschlossen sah, aus seinen literarischen Arbeiten finanzielle Einnahmen zu erhalten und damit den von ihm begangenen Kassendefekt zu decken. Der Angeklagte sei weder geisteskrank noch geistesschwach, aber infolge erblicher Belastung, Selbstüberschätzung und seines ausschweifenden Lebenswandels körperlich und geistig degeneriert. – Staatsanwalt: Wie erklären Sie die Ruhe, mit der der Angeklagte sogleich nach der Tat diese erzählt hat? – Sanitätsrat Dr. Roth: Der Angeklagte glaubte, er habe nichts Böses begangen; er ist der Meinung, er wollte nicht feige sein, er mußte das den Mädchen gegebene Versprechen einlösen. Der Angeklagte ist auch jetzt noch dieser Ansicht, er bereut auch jetzt noch nicht die Tat. Als ich gestern den Angeklagten besuchte, fragte er mich, ob, wenn er bestraft werde, er Soldat werden könnte, er habe große Lust, Soldat zu werden.
Geh. Medizinalrat Irrenhausdirektor Dr. Gerlach: Ich kann mich im großen und ganzen dem Gutachten des Herrn Sanitätsrats Dr. Roth anschließen. Der Angeklagte ist in physischer Beziehung eine normale Natur. Der Hauptbeweggrund für den Angeklagten war zweifellos, daß er keine Möglichkeit sah, den von ihm begangenen Kassendefekt zu decken. Er sagte mir: Wenn ihm noch am 17. Oktober jemand 1000 M. gegeben hätte, so daß er in der Lage gewesen wäre, den Kassendefekt zu decken, dann würde er den Mädchen etwas gepfiffen haben; er hätte sie alsdann nicht erschossen. Daß der Angeklagte seine Tat in keiner Weise bereut, sondern sogar der Meinung ist, er habe eine heroische Tat begangen, geht aus dem Umstande hervor, daß er einmal äußerte: Wenn er herauskomme, dann werde er das Zimmer, in dem er die Mädchen erschossen habe, schwarz dekorieren lassen. (Bewegung im Zuschauerraum.) Der Angeklagte erzählte mir ferner, als er sich bei mir zur Beobachtung befand: Er sei einmal in einer recht fröhlichen Gesellschaft gewesen, bei ihm sei es aber bald sehr öde und leer geworden. Er mußte sich sehr schnell aus der Gesellschaft entfernen, da er nur dann einen moralischen Halt habe, wenn ihm der ganze Ernst des Lebens in die Erscheinung trete. Es sei deshalb gut, daß er in meiner Anstalt zur Beobachtung sei. Sollte er für krank erklärt werden, dann müsse er abwarten, was aus ihm werde. Sollte er für gesund erklärt werden, dann bleibe ihm nichts weiter übrig als der Selbstmord. Der Angeklagte ist wohl geistig und körperlich degeneriert, die freie Willensbestimmung ist aber weder dauernd noch zur Zeit der Tat bei ihm ausgeschlossen gewesen. –
Staatsanwalt Reinking führte im Schlußvortrag aus: Das Drama, das uns heute beschäftigt, hat weit über die Grenzen Braunschweigs, ja Deutschlands, berechtigtes Aufsehen erregt. Ich gebe zu, der Angeklagte ist erblich belastet. Er ist durch Selbstüberschätzung, sexuelle Verirrung und unverdautes Studium philosophischer Werke geistig und körperlich degeneriert, seine freie Willensbestimmung ist aber weder dauernd noch zur Zeit der Tat ausgeschlossen gewesen. Ich will auch zugeben, daß die Mädchen erschossen werden wollten und daß Martha Haars wiederholt den vergeblichen Versuch machte, sich zu töten. Andererseits muß dem Angeklagten klargemacht werden, daß er nicht derartig gegen die staatliche Ordnung handeln darf. Der Staatsanwalt erörterte alsdann die vom Angeklagten in dem Bankgeschäft verübten Straftaten und beantragte eine Gesamtstrafe von neun Jahren sechs Monaten Gefängnis. Er gebe sich der Hoffnung hin, daß die Strafe zur Besserung des Angeklagten beitragen werde.
Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Robert: Die Tat des Angeklagten ist zweifellos eine furchtbare. Die erschossenen Opfer schreien gewiß nach Sühne. Aber andererseits müssen doch bei Beurteilung der Tat die gesamten Umstände in Betracht gezogen werden. Wenn hier auch der römische Grundsatz: „Volenti non fit injuria“ nicht zur Anwendung kommen kann, so muß doch in Betracht gezogen werden, daß der Angeklagte unter einem gewissen Zwange gehandelt hat und daß er zum mindesten geistig degeneriert ist. Wenn man sich das noch knabenhafte Gesicht des Angeklagten ansieht, dann steht man wie vor einem unlösbaren psychologischen Rätsel. Der Angeklagte ist sich bis heute der Tragweite seiner Handlungsweise nicht bewußt. Er sagte mir mit voller Seelenruhe: Ich habe doch kein Verbrechen begangen! Die Mädchen wollten doch erschossen werden, für das Erschießen bin also nicht ich, sondern die Mädchen verantwortlich. Der Verteidiger verlas den von Martha Haars geschriebenen Abschiedsbrief, in dem es hieß: „Lieber Oskar! Ich gehe Deinetwegen in den Tod. Alma kommt aus Liebe zu mir mit.“ Der Verteidiger schloß: Eine lange Strafe sei bei dem Angeklagten nicht angebracht. Er sei kein schlechter Mensch. Er (Verteidiger) habe die Überzeugung, aus dem Angeklagten könne noch etwas werden. Er ersuche, auf die niedrigste zulässige Strafe zu erkennen. – Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden, daß er nichts weiter zu sagen habe.
Nach etwa einhalbstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Roßmann: Der Gerichtshof hat den Angeklagten der zweifachen vorsätzlichen Tötung im Sinne des § 216 des Strafgesetzbuches und des Diebstahls in 20 Fällen für schuldig erachtet und deshalb den Angeklagten zu einer Gesamtstrafe von acht Jahren Gefängnis verurteilt. Der Gerichtshof erblickt in den Tötungen zwei selbständige Handlungen. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß der Angeklagte geistig gesund, aber in sittlicher Beziehung minderwertig ist. Es geht ihm das Bewußtsein für sittliches Gefühl vollständig ab.
Bei der Strafzumessung hat der Gerichtshof die Scheußlichkeit der Tat und den Umstand in Erwägung gezogen, daß der Angeklagte über zwei Familien furchtbares Unglück gebracht hat. Strafmildernd ist die große Jugend und die sittliche Minderwertigkeit des Angeklagten in Betracht gezogen worden. Fünf Monate sind dem Angeklagten auf die Untersuchungshaft angerechnet und außerdem die Kosten des Verfahrens ihm auferlegt worden. Der Angeklagte, der auch das Urteil mit der größten Gleichgültigkeit anhörte, sprach noch kurze Zeit mit seinem Verteidiger. Er folgte alsdann einem Gerichtsdiener willig in seine Zelle. Einige Wochen darauf hatte sich Brunke in seiner Zelle erhängt.