Ein heiliger Stein
In jenen trostlosen, jeder landschaftlichen Schönheit baren Regionen des nördlichen Dacota, welche die Amerikaner in den Karten als bad lands (schlechtes Land) bezeichnen, hatten wir den immer spärlicher werdenden Büffel während des kurzen, oft von Schneegestöber unterbrochenen Sommers gejagt und waren nun auf der Heimfahrt, ostwärts, nach Minnesota begriffen. Unsere kleine Karawane war aus vier weißen Männern, einem Halbblutindianer und einer kleinen Bande echter, rechter Rothhäute aus dem Stamme der Sissiton-Sioux zusammensetzt, welche Letztere wir für die Dauer der Jagdzeit angeworben hatten, theils damit sie uns als Führer in jener pfadlosen Graswüste dienen sollten, theils aber auch um in ihnen eine Hülfe beim Abhäuten der erlegten Thiere und tüchtige Kutscher für unsere vier Wagen zu finden. Der Halbblutindianer hatte als Koch zu figuriren und war unser Factotum in allem, was Jagd und Reisepläne anbelangte. Pierre, wie er sich nicht ohne Stolz nennen ließ, war in der canadischen Provinz Manitoba, die an Dacota grenzt, zu Hause, und dieses weite, aber schwach bevölkerte Gebiet, in welchem ein französisches Kauderwelsch gesprochen wird, liefert die trefflichsten Jäger, Bootsleute und Pfadfinder, ohne welche die sonder Beispiel dastehende, vorzügliche Organisation des Pelzhandels der Hudsonsbaygesellschaft, welche in Manitoba noch ein factisches Monopol
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So erreichten wir denn in langsamer Ostwärtsbewegung die Wigwams der Sissiton-Sioux, wo wir für einige Tage verweilen wollten, damit unsere rothen Begleiter das mitgebrachte Büffelfleisch – ihren Jagdantheil – in Muße an ihre Frauen abliefern konnten, denen es oblag, daraus den Pemican – ein Wort, das ich nicht ohne Gruseln niederschreiben kann – zu bereiten.
Während unsere Zelte aufgeschlagen wurden, schweiften meine Augen über die nächste Umgebung des Indianerdorfes und blieben unwillkürlich an einem großen Felsblock haften, der halb über, halb in der Erde an der Seite der schwachen Bodenerhebung lag, an deren Fuß wir unsern Lagerplatz einrichteten. Diese in der stein- und felsenlosen Gegend so fremdartige Erscheinung erregte mein Interesse dermaßen, daß ich sofort eine nähere Besichtigung unternahm. Es war ein Syenitstein, wie ich mich leicht überzeugen konnte, und da das ganze Gebiet, soweit ich es zu übersehen vermochte, ein Alluvialgebilde war, so unterlag es wohl keinem Zweifel, daß ich es mit einem erratischen Block zu thun hatte, der in der Eisperiode, vielleicht fern aus Norden, dahin geschwemmt worden war.
Meine Neugierde wuchs, als ich auf der glatten Oberfläche, die ungefähr neun Fuß lang und sechs Fuß breit war, mystische Zeichen in roher, aber doch keineswegs ungeschickter Ausführung eingemeißelt fand. In einem ovalen Kranze liefen sechs Linien parallel, mit dicken Knoten an den Enden, und zwischen diesen Linien waren Punkte eingestreut, außerdem vier Hirsche und symbolische Zeichen, die ich nicht zu enträthseln vermochte. Linien wie Punkte waren achtzehn Zoll tief eingehauen und darum, obgleich im Laufe der Zeit Wind und Wetter auch an diesem Steine nicht ohne Erfolg genagt hatten, deutlich zu erkennen. Welche Bedeutung hat dieser Stein in menschenleerem, wüstem Lande, das nur das wandernde Jägervolk der Sioux bewohnt, und wer enträthselt mir diese Hieroglyphen?
Mit solchen Gedanken kam ich zum Lagerplatz zurück und rief Greencorn, einen alten Häuptling, an meine Seite.
„Erzählt mir, was Ihr von jenem Steine wißt!“ hob ich an und reichte ihm den Tabaksbeutel zur Füllung seiner Pfeife hin.
Statt einer Antwort winkte er mir geheimnißvoll und schritt mir schweigend nach dem Stein voran. Dort setzten wir uns nieder, zündeten unsere Pfeifen an und saßen eine Weile wortlos neben einander, denn so werden nach Indianerart große Verhandlungen eingeleitet.
„Das ist,“ so hob der alte Krieger endlich an, „ein heiliger Stein. Es ist das steinerne Thor, das in das Wigwam der Zwillingsschwestern führt. Die Zwillingsschwestern sind Geister, welche die Macht besitzen, die Dacotaweiber schön zu machen und sie die Anfertigung von Perlenschnüren und Federtand zu lehren. Die Geister leben unter diesem Steine und haben diese Zeichen auf ihn geschrieben, welche besagen, daß er heilig sei. Unsere Weiber kommen hierher, opfern Farben, Perlen und Nadeln und bitten um Schönheit, aber auch um einen Mann. Wenn indessen ein Krieger diesen Stein berührt, so wird sein Arm schwach, sein Blut zu Wasser und das Schrecklichste von Allem geschieht ihm: er wird zur Frau umgewandelt. Die Indianer nennen diesen Hügel mato-ti (Bärenhöhle), denn in der Sprache der Dacota heißt mato Bär und ti Höhle.“
„Weshalb?“ forschte ich, denn der Alte wollte wieder in tiefes Schweigen versinken.
„Das kam so. Eine lange, lange Zeit ist es schon her – da jagte ein Dacota-Indianer hier in der Nähe und sah statt Wild ein sehr schönes Weib, die er sofort fragte, ob sie seine Frau werden wolle.
‚Nein, es ist besser, Du heirathest ein Mädchen aus Deinem Stamme. Ich gehöre zum Volke der Bären, und Dacotas und Bären sind Feinde.’
Aber der Dacota ließ sich nicht so leicht abweisen. Er war ein guter Jäger, und so brachte er ihr denn täglich einen Theil seiner Beute, entweder zartes Büffelfleisch, einen fetten Hirsch oder gar klaren, süßen Honig, welchen sie sehr liebte.
Der Dacota wollte um keinen Preis von ihr lassen, und so erklärte sie ihm denn nach einiger Zeit:
‚Gut, ich will Deine Frau werden, aber das Versprechen mußt Du mir geben, daß Du niemals mein Volk, die Bären, tödten willst.’
Der Dacota versprach bereitwillig, niemals einen Bären zu erlegen, sondern ihrem Volke immer sorgsam aus dem Wege zu gehen, und so wurden sie denn verheirathet und lebten eine Zeitlang glücklich in der Höhle zusammen. Eines Tages aber war der Dacota auf der Jagd gewesen und hatte nichts erlegt. Müde und ärgerlich kehrte er nach Hause zurück. Da sieht er, wie ein Bär dem Eingange seiner Höhle zustrebt, und ohne an das seiner Frau gegebene Versprechen zu denken, läßt er den Pfeil fliegen. Ein gellender Schrei folgt dieser That, und als der Dacota in seine Hütte eilt, findet er seine Frau mit seinem Pfeil im Herzen, das Bärenfell aber war abgefallen und mit ihrem Lebensblute bedeckt. Manchmal,“ so schloß der Alte seine Erzählung, „sehen die Dacotas Nachts einen Bären zu der Quelle kommen, die da etwas abseits vom Steine nach unserem Dorfe hinunter rieselt, aber sie wissen, es ist nur der Geist jener ermordeten Frau, denn er wirft keinen Schatten im Mondlichte und seine Fußtritte hinterlassen keine Spuren am weichen Rande des Wassers.“
Langsam schlenderten wir nach den Zelten zurück, wo schon Alles im tiefsten Schlummer lag; nur in Greencorn’s Wigwam erwartete man uns noch mit einem trefflichen Abendessen aus Büffelfleisch, Maiskuchen und gerösteten Rüben. Dann aber ging ich gedankenvoll nach meinem eigenen Zelte zurück, in dem Pierre in seiner vorsorglichen Weise ein Feuer angemacht und mit grünem Grase beworfen hatte, damit der dicke gelbe Rauch die Mosquitos von meiner Lagerstätte fern halten sollte. Allein diese Vorsichtsmaßregel belästigt oft eben so sehr den Menschen wie die Mosquitos. Das war auch der Grund, warum ich an jenem Abende Zelt und Feuer floh und mit meiner wollenen Decke nach dem Hügel in die Nähe des heiligen Steines wanderte, denn dort wehte eine frische Brise, die von den Mosquitos so sehr wie Feuer gefürchtet wird.
Da lag sie vor mir, die endlose Prairie, auf der die Grabesruhe lagerte, die selbst nicht von dem Indianerdorfe aus, das sich im blassen Sternenlichte nur in unsicheren Umrissen von dem Grasocean abhob, unterbrochen wurde. Diese Prairiescenen ermüden leicht, denn das Auge findet keinen Ruhepunkt. Von der feierlichen Stille begünstigt, wollte ich mein Bewußtsein im Schlafe verlieren, da – ich reibe mir die Augen klar – sehe ich am Fuße des Hügels eine dunkle Gestalt, die sich, so weit es im Dunkel der Nacht zu erkennen war, aufwärts nach meiner Lagerstätte bewegte. Es war mir, dem Waffenlosen, wohl nicht zu verargen, wenn ich mich mit der Frage beschäftigte: was thun, wenn es statt eines friedlichen Menschen ein reißendes Thier ist? und mit Greencorn’s Bärenfabel so frisch im Gedächtnisse, wünschte ich herzlich, ich wäre wieder glücklich im Lager. Doch da schimmerten die ersten Strahlen des aufgehenden Mondes über die Prairie, und bei ihrem fahlen Scheine konnte ich nun, zu meiner Beruhigung, deutlich erkennen, daß es eine Indianerin war. Geräuschlos und behutsam setzte sie den vorwärts schreitenden Fuß zur Erde, immer ängstlich rückwärts blickend, ob ihr Niemand folge und ob ihr geheimnisvolles Thun auch unbeobachtet bliebe. Mit katzengleicher Vorsicht näherte sie sich dem heiligen Steine und setzte sich an seine Längsseite nieder. Nun zog sie unter ihrem losen Calicokleide ein Rehfell hervor, breitete es vor dem Steine aus und murmelte Dacotaworte, die ich nicht verstand. Sie streute etwas auf die Oberfläche des Steins, offenbar ihre Opfergabe – wie ich mich später überzeugte, aus Glasperlen und etwas gepulvertem Carmoisin bestehend – nach welchem Acte sie sich auf ihr Rehfell setzte, still, regungslos und mit gefalteten Händen. Der Mond stand nun voll und klar am Himmel, und seine Strahlen fielen über den Kamm des Hügels in das ernste, flehende Gesicht der lieblichen Silberzunge, der ältesten Tochter Greencorn’s. Ihr langes schwarzes Haar hing lose um Nacken und Schultern, die es wie ein Gewand bedeckte. Ihr ganzes Gebahren bezeugte zur Genüge, daß sie liebeswund war, daß sie in stiller, geheimnißvoller Mitternacht gekommen war, um die Vermittelung der Geister der Zwillingsschwestern anzurufen, die wohl den Vater erweichen sollten, damit er für sie keinen allzu hohen Preis von dem angebeteten Manne fordern möchte. Nachdem Silberzunge ungefähr eine halbe Stunde gesessen, seufzte sie tief auf, packte ihr Rehfell wieder zusammen und verließ auf einem andern Wege, als auf dem sie gekommen, den Hügel, aber immer unter derselben lauernden Vorsicht, die sie bei ihrem Nahen beobachtet hatte.
Ich habe bei den Aeltesten der Indianer noch vielfach Umfrage gehalten, ob sie mir nähere, vielleicht durch die Tradition fortgepflanzte Auskunft über den Ursprung dieses Geisterglaubens und der Heiligsprechung des erratischen Blockes geben könnten, aber Alle behaupteten einstimmig, daß der Stein sich schon seit Menschengedenken in dieser Position befände, und daß sie die Legende, die sich an ihn knüpfe, von ihren Vorfahren gehört hätten. Kein Faden führt zu dem Geheimniß, das der heilige Thorstein vor der Geisterhöhle der Zwillingsschwestern hütet. Das Gehirn, das die Legende erdachte, und die Hand, welche die Hieroglyphen meißelte, sind vor langen Jahrhunderten in Staub zerfallen, und nur der Alterthumsforscher wird dieses seltsame Monument der Vergangenheit mit prüfendem Blicke betrachten, um zu enträthseln, was jene mystischen Zeichen der Nachwelt verkünden sollten und wie sie in den harten Stein eingegraben wurden, mit eisernem Werkzeug oder den Fragmenten eines Feuersteins.
Solche Legenden, wie die, welche uns Greencorn von der Bärenfrau erzählte, findet man übrigens unter allen Stämmen der amerikanischen Indianer, welche sämmtlich annehmen, daß Bären und Biber schon Menschen gewesen sind oder sich nach Belieben in solche verwandeln können. Manche Stämme, Banden und Familien leiten ihre Abkunft sogar auf solche thierische Vorfahren zurück, und keineswegs finden sie in diesem Glauben eine Herabwürdigung. Damit stehen sie nicht tiefer, als die ungebildeten Classen mancher europäischen Nation, und selbst in unserem deutschen Vaterlande kenne ich Gegenden, wo bis auf den heutigen Tag noch der Glaube existirt, es könne sich ein Mensch, wenn er nur den Zauberspruch weiß, in einen Werwolf verwandeln. Auch die Verehrung und Anbetung eines Steines ist keine vereinzelte Erscheinung, so wenig in der Geschichte des gesammten Heidenthums wie speciell unter den Indianern. Gewöhnlich ist es ein durch seltsame Lage oder merkwürdige Form auffallender Stein, welchen die Letzteren mit Roth, der heiligen Farbe und wahrscheinlich dem Sinnbild des Blutes, bemalten und in Bilderschrift der Mit- und Nachwelt als einen geheiligten Gegenstand bezeichneten. Diese Bilderschriften der amerikanischen Indianer erinnern an die früheste Form der ägyptischen Hieroglyphen; es war eben hier wie dort ein Versuch, durch allgemein bekannte Symbole Gedanken und Ereignisse zur öffentlichen Kenntnis bei Mit- und Nachwelt zu bringen. Unter den Azteken erreichte diese Kunst bekanntlich eine sehr hohe Vollendung, sodaß die Geschichte des damaligen mexicanischen Reiches in bester Ordnung aufgeschrieben oder besser eingravirt werden konnte. Dagegen ist es unter den nördlicher wohnenden Indianern bei rohen, unbeholfenen Versuchen geblieben. Oft sollen die Zeichen nur den Namen eines hervorragenden Mannes angeben, wie diejenigen an dem gefährlichen Leapingrock in Dacota oder sie sollen auch das Portrait eines Thieres oder Objectes sein, das ihnen im Schlafe erschienen ist; denn den Träumen schenken die Indianer eine große Beachtung.
Der Tag des Abschieds kam heran, und uns lag es noch ob, das Zelt Greencorn’s zu betreten und dem alten Häuptling, der uns wie immer würdevoll empfing, Lebewohl zu sagen. Da trafen wir auch die kleine Silberzunge, aus deren tiefdunklen Augen jede Sorge verschwunden [528] war und die nun so heiter lachte, wie der Himmel, der über uns blaute. Die Geister der Zwillingsschwestern sind in jener Mitternachtsstunde nicht vergeblich um Vermittelung angerufen worden, denn kein Anderer als unser braver, nußbrauner Pierre brachte am Morgen des Abschiedstages dem alten Chef ein struppiges Indianerpferd, eine Flinte mit Feuersteinschloß und etwas Calico in das Wigwam, und als Gegenwerth empfing er die kleine Silberzunge. Unser Zelt, das wir jetzt nicht mehr brauchten, übergaben wir dem glücklichen dunkelfarbigen Paare als Hochzeitsgeschenk, und dann ritten wir dem Missouri zu, wo wir uns nach dem Süden einschifften.
Das war vor mehreren Jahren. Als mich verflossenen Sommer mein Weg noch einmal in jene Gegend führte, die inzwischen lebhafter geworden war, denn ein neues Dorado, die black hills, die eine Oase in der Wüste bilden, war gefunden, da traf ich meine ehemaligen Jagdgenossen nicht mehr. Auch sie hatten den Kriegspfad betreten in den erbitterten, für Weiße und Rothe so empfindlichen Kämpfen, die, wie immer, damit endeten, daß Letztere das Feld räumen und nach dem Lande der untergehenden Sonne weiter ziehen mußten. Der heilige Stein ruht noch wohl gebettet an der Seite des Bärenhügels, aber kein Dacotaweib opfert mehr Perlen und Farben den Geistern der Zwillingsschwestern. Wie ehedem, so wächst und grünt noch auf der Prairie das Gras, aber selten wie ein Indianergesicht sind auch die Büffel geworden, die in endlosen Heerden über diese Ebene nach Norden zogen, ehe der weiße Mann mit seinen vorzüglichen Waffen die schonungslose Jagd begann.