Ein treuer Führer

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Textdaten
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Autor: R. Bunge
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Titel: Ein treuer Führer
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 137–140
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Beschreibung einer Montblancbesteigung als Nachruf auf den Bergführer Michel Croz
Reiseerinnerung aus den Hochalpen
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Ein treuer Führer.
Reiseerinnerung aus den Hochalpen.


In der Frühe eines Julimorgens, so frisch und klar, wie er nur über dem Hochgebirge aufgehen kann, wanderte ich mit einem Freunde, der sich die Aufgabe gestellt hatte, in den höchsten Gebirgsregionen photographische Aufnahmen für wissenschaftliche Zwecke zu veranstalten, durch das Chamounixthal. Es war an jenem Tage ein ländliches Fest, und die in ihre bekannte nette und einfache Tracht gekleideten Savoyarden, welche unter heitern Gesprächen von der Frühmesse aus Prieuré kamen und grüßend an uns vorübergingen, blieben am blumigen Bett der Arve bei einem Alpenführer stehen und blickten mit größter Aufmerksamkeit durch ein altes, vielgebrauchtes Fernrohr, das Letzterer mit sich führte, die weiße Bergwand des Montblanc hinan. Sie mußten dort irgend etwas Ungewöhnliches beobachten, denn mehrmals hörte ich sie rufen: „Voilà les touristes – à présent ils avancent – ils montent!“ Auf nähere Erkundigung zeigte uns der Führer, der sich Fréderic Dairraz aus Chamounix nannte, eine kleine Anzahl langsam sich fortbewegender schwarzer Punkte, die wir mit bloßen Augen auf der weiten glitzernden Schneewüste natürlich gar nicht bemerken konnten. Zwei Engländer waren es mit vielen Führern und Lastträgern, die unter der Oberleitung des alten, bewährten Michel Croz aus Chamounix bereits in der Frühe des vorigen Tages aufgebrochen waren, um einen neuen Weg zur Krone des europäischen Bergkönigs zu finden.

Wir ließen die Kletterer Altenglands da droben ihren trügerischen Weg weiterziehen über die zerprasselnde Schnee- und Eiskruste und unterhandelten mit dem Führer wegen einer Besteigung [138] der „Grands-Mulets“, die wir heute noch beabsichtigten, weil die ruhige und klare Luft für die Zwecke meines Freundes gerade geeignet schien. Dairraz wandte ein, daß die Zeit zum Aufbruch für solch’ eine schwierige Tour schon etwas spät sei, da er noch einige Träger mit den nöthigen Kletterwerkzeugen, eisenbeschlagenen langen Stöcken, Hacken, Aexten und Beilen, sowie auch mit Proviantkörben ausrüsten müsse und wir somit vor acht Uhr Chamounix nicht verlassen würden; allein wir ließen dies nicht gelten und drängten zur Reise.

Nachdem wir uns im Hotel Royal de l’Union zu Chamounix bei einem tüchtigen Frühstück gestärkt und unsern Trägern Proviant und Wein für zwei bis drei Tage übergeben hatten, verließ unsere Expedition das dreitausendzweihundert Fuß über dem Meeresspiegel gelegene Hochthal, um „les Grands-Mulets“, die großen Mauleselfelsen, zu ersteigen, welche hoch über den Eismeeren der Gletscher, etwa dreitausend Meter über dem Meere, gigantisch aufsteigen und den tiefsten Einblick in die Eisklüfte des Montblancs, sowie die herrlichste Aussicht über die schneebedeckten, funkelnden Gebirge gewähren.

Nach vierthalbstündigem steilen Steigen erreichten wir bei den letzten der krüppelhaften Tannen den Strand des Bossonsgletschers, der gleich seine ganze Pracht und Erhabenheit vor uns ausbreitete, weil wir ihn hier in der ungeheuern Ausdehnung von seinem Ursprung beim großen Plateau bis zu seinem auf dem grünen Boden des Chamounixthales ruhenden Fuße übersehen konnten. Ein kleines, compactes Wirthshaus, das von der Frau eines Führers hier gehalten wurde, lud uns nach der anstrengenden Wanderung zur Rast, und wir nahmen daher – um unsern Proviant nicht vorzeitig anzugreifen – auf dem letzten Vorposten menschlichen Lebens und Waltens ein frugales Mahl ein. Dieser den Touristen unter dem Namen Pierre Pointue wohlbekannte Aussichtspunkt liegt einsam und rings von den Schrecken einer ungeheuern Zerstörung umgeben; rechts und links jähe Felsen; Gletscher und Firnen, soweit das Auge zwischen den Berggipfeln hinanreicht. Nach kurzer Rast ging’s bald wieder weiter hinan über Rhododendren und einzelne abgelegene Alpenplätze zu der anderthalb Stunden entfernten Pierre à l’Echelle, einem breiten Felsen, unter dem die bei den Gletscherübergängen nöthigen Leitern aufbewahrt werden. Während unsere Führer diese hinantrugen zu den gefährlichsten Uebergängen und durch Gletscherspalten erschwerten Passagen, nahm mein Begleiter das den Lesern der Gartenlaube wohlbekannte photographische Bild auf, welches die Redaction in einem trefflichen Holzschnitte (Jahrgang 1866, Seite 141) vorangeschickt hat und das besser, als jede Schilderung, den Eindruck jener ernsten, großartigen Naturscene wiedergiebt, jener Einöde über den Wolken, wo uns der Weltentod aus bleichen Gletscherkörpern entsetzlich anstarrt.

Die Mittagsstunde war bereits vorüber, als wir das schwarze Felsgestein verließen, die Steigeisen an die Füße schnallten und den Gänsemarsch über den mächtigen Gletscherstrom antraten. Dairraz ging auf der sanft geneigten Ebene voran und mied sorgfältig alle Eisspalten und gefährlichen Stellen, unter denen namentlich ein Abhang der benachbarten Aiguille du Midi durch herabstürzendes verwittertes Gestein schon das Grab manches Touristen wurde; wir Andern aber folgten unserm Führer auf dem Fuße zwischen wild durcheinanderragenden Eissäulen und Gletschertischen den Ruinen einer starren Welt entgegen, deren Eindruck von dem Punkte an, wo der Taconnygletscher sich mit dem Bossonsgletscher vereinigt, nur um so schauerlicher auf unser Gemüth wirkte, als das Terrain gefährlicher für uns wurde.

Bisher war nämlich unser Weg über die zerklüftete Eisfläche vollkommen schneefrei gewesen, und deshalb konnten wir ihn ohne alle Gefahr zurücklegen; jetzt aber hatte ein Schneesturm, der von den höher gelegenen Firnstöcken herabgeweht haben mochte, alle die blauen, hier oben bedeutend zahlreichern Gletscherspalten und Schründe mit einer trügerischen Kruste bedeckt. Unser Führer hielt es deshalb für rathsam, die „cérémonie de la corde“ anzuwenden, d. h. uns Alle an einem straffgezogenen Seile zu befestigen. Jeder mußte sich mindestens zwanzig Fuß von seinem Vordermann entfernt halten, und so ging der Gänsemarsch langsam und beschwerlich vorwärts. Nicht selten glitt einer in der Reihe aus und wäre sicher in den Abgrund hinabgerollt, wenn das von unsern Begleitern straff angezogene Seil nicht um seinen Leib geschlungen gewesen wäre.

Vorüberziehende Nebel ließen die Sonne nur in mattem, bleichem Lichte erscheinen. Tief unter uns, auf der weiten schiefen Fläche des Gletschers, wandelten zusammengeballte Nebel in gespenstischen Gestalten. Grauen durchzog uns beim Anblick dieses geisterhaften Spieles, und Dairraz, der in meiner Nähe stand, schaute besorgten Blicks hinüber und murmelte ernst: „Wehe den Engländern, wenn sie jetzt drüben auf dem gefährlichen Wege über den Dôme du Goûté oder gar auf den Bosses du Dromédaire sind, – da toben die Gletscher fürchterlich und die Lauinen der Aiguille du Midi sind wohl seit lange nicht so wild gewesen. Nun, sie haben den alten Michel bei sich, der weiß Bescheid und ist wohl der tüchtigste Führer im Gebirge; wenn der nicht helfen kann, kann’s keiner – außer Gott.“

„Aber wird das Unwetter nicht auch uns bedrohen?“ frug ich den wettergebräunten Führer.

„Keineswegs,“ antwortete dieser mit Bestimmtheit. „Es bricht sich an den steilen Wänden des Tacul und der Grands Mulets; hier herunter kommt es nicht, und ehe wir oben sind, ist es längst vorüber.“

Ein ängstliches Gefühl, über dessen Ursache sich wohl keiner Rechenschaft geben konnte, trieb uns zur Eile. Wir setzten unsern Weg weiter fort durch wüste Reviere, die außer und über der Zeit zu stehen und nur mit den Gestirnen des Himmels und mit den fliegenden Wolken zu verkehren schienen. Und dennoch bot sich der menschlichen Natur hier noch eine Heimath dar, wenn auch nur ein elendes, aus wüstem Gestein aufgethürmtes, unbewohntes Hüttchen, das Nachtasyl der müden Montblanc-Karawanen, unser heutiges Ziel.

Gegen vier Uhr Nachmittags hatten wir es erreicht, schnallten hastig die Steigeisen von den brennenden Füßen und suchten uns so häuslich einzurichten, wie es in der sehr primitiven Steinhütte gehen wollte, die man in der Touristenwelt scherzweise „Hôtel impérial des Grands-Mulets“ getauft hat. Die Neige des Tages verwendete ich aber mit meinem Freunde zur näheren Orientirung in der Eiswelt des Montblancgebirges, dessen gewaltigste Riesen: Géant, Tacul, Aiguille du Midi, Aiguille du Moine, Aiguille verte, Aiguilles droites und Jorasses, uns mit ihren blitzenden Firnen und Gletschern wie ein Kranz mit silbernen Blättern umgaben. In stiller Feier bewunderten wir die herrliche Aussicht, welche uns jenseits des gebirgigen Chablais den tiefblauen Leman und die weite französische Ebene enthüllte.

Mitternacht war herangekommen, die müden Träger waren bereits eingeschlafen, nur mein Freund wachte noch mit mir und Dairraz, der uns eifrig mit Grog bediente, als wir plötzlich in der Ferne ein schrilles Pfeifen und bald darauf einen ängstlichen Hülferuf vernahmen. Erstaunt sprangen wir auf und weckten die Träger; Dairraz aber schürte von Neuem das Feuer, welches die Führer vor unserer Hütte angezündet hatten, damit es besser in die Bergschluchten hineinleuchtete.

Bald entdeckten wir denn auch bei seinem Scheine die Gestalt eines Mannes, der mühsam und keuchend über den Gletscherstrom kam. Dairraz erkannte in ihm seinen schon vorhin erwähnten Freund, den wackern, später in der Matterhorn-Affaire vielgenannten Michael Croz, und begrüßte ihn mit einem treuherzigen „Grüß Gott, Michel! Was führt Dich so eilig bei Nacht über die gefährlichen Gletscher von Deinen Engländern herüber?“

„Die Noth allein, die äußerste Noth!“ erwiderte der Angeredete athemlos und sank erschöpft bei dem Feuer nieder. Erst ein Glas Wein, das wir ihm reichten, brachte ihn wieder zur Besinnung und er berichtete: „Es mochte wohl gegen zwei Uhr Nachmittags sein, als wir den Gipfel des Montblanc verließen. Trotz der Gesichtschleier, welche wir trugen, waren die Augen unserer Reisenden da droben fast schneeblind geworden und es erschienen die tiefern Luftschichten unter uns wie ein feiner Nebel, der Thäler und Höhen einhüllte. Das riesige Hochschneefeld, dessen sandartig schurrende Firnmasse beim Steigen uns so hinderlich war, passirten wir mittels Rutschpartie so schnell, daß wir die Strecke, welche uns aufwärts fast einen halben Tag mühseligen Steigens gekostet hatte, in wenigen Minuten zurücklegten. Nirgends brauchte ich den Schnee mit meinem Alpstabe zu sondiren, er war überall tief genug für die lustige Thalfahrt, und da die beiden Reisenden, welche uns Führern beim Hinabgleiten folgten, geübte Bergsteiger waren, so ging die Rutschpartie glücklich und ohne jeden Unfall von statten. Weiter unten an den [139] steilen Graten der Aiguille du Goûté mußte ich jedoch einige Male – hervorspringender Felsen wegen – mittels des tief in den Schnee gebohrten Stabes, der beim Herabgleiten unser Steuer bildete, in eine neue Bahn lenken; dann ging’s flott weiter, daß der Schnee in staubigen Bällen neben uns hinabrollte. Bald standen wir wieder auf den bläulichen, zerrissenen Gletscherblöcken, über deren gewaltige und gefährliche Eistreppen wir gestern unter unendlichen Mühen heraufkamen. Statt aber diesen unbetretenen Pfad hinabzugehen und unsere Zelte zum Bivouac auf dem glatten Eise aufzuschlagen, zogen wir vor, unsere Schritte zu beschleunigen, denn wir dachten noch diese Hütte hier auf dem großen Mauleselfelsen zu erreichen. Allein es sollte anders kommen.

Als wir die aus Moränenwällen und Granitklippen gebildeten Schluchten passirten, von welchen die bedeutenderen scharfgeschnittenen Grate sich hinanziehen bis zur weithinleuchtenden Aiguille du Midi, schlichen am Himmel fahle Wolken einher, zogen über die Eiswüste bläuliche Schatten nach und sammelten sich droben um die Firsten der Tour du Tacul und um die Zinken des Col du Géant. Ich trieb zur Eile, damit wir erst über den berüchtigten Mur de la Côte, einen steilen hundertundfünfzig Meter hohen Schneeabhang, gelangten. Hatten wir erst seine in den harten Schnee gehauenen und aus schwindelnder Höhe in den Abgrund führenden Stiegen hinter uns, so war die gefährlichste Strecke des Weges überstanden.

Eine lautlose Ahnung zog durch die Natur, als erwarteten die Eiswälle, wie das schwarze Felsengebein, einen furchtbaren Angriff der Elemente; mir wurde es klar, daß sich heimlich ein Unwetter vorbereitete, um in wenigen Minuten aus den Klüften und Schneegründen hervorzubrechen. Umsonst trieb ich nochmals zur schleunigsten Eile; denn in der Ferne sah ich den gewaltigen Schneewall der Côte schon vor uns liegen; aber plötzlich sanken die Wolken rings von den Bergeshäuptern herab, und es erhob sich ein verworrenes Getöse, das wilde Gebrüll eines Sturmes, der aber keine bestimmte Richtung hatte, sondern in dem die Winde aller Weltgegenden tobend zusammenzubrausen schienen. Der Tag verfinsterte sich; wir athmeten dichten Schneestaub, der von den Höhen und aus den Tiefen herunter- und hinaufgefegt wurde. Nur mühsam konnten wir im tiefen Schnee noch gegen den erwähnten Uebergang vordringen, obgleich mit Sicherheit anzunehmen war, daß jenseit desselben, wo die Thalschlucht sich erweiterte und die Luftströmung von einem andern Gletscher heraufwehte, das Unwetter seine natürliche Grenze gefunden haben würde; denn es war uns wohl bekannt, daß der furchtbare Schneesturm nichts Anderes war, als ein außergewöhnlich starkes Gletscherkuxen, ein örtlicher Orkan, der bekanntlich jedesmal nur die Atmosphäre im engen Bereiche eines gewissen Gletschergebietes in Aufruhr bringt, während auf allen Seiten in der nächsten Nachbarschaft stilles Wetter waltet.“

„Hab’s aber doch verspürt, daß Ihr was abkriegtet,“ unterbrach ihn Dairraz; „als wir drüben waren, wo der Taconnygletscher sich mit dem Bessonsgletscher vereinigt, hab’ ich’s zum Herrn hier gesagt – und hab’ ein Vaterunser für Euch gebetet – aber es hat mich getröstet, daß Du dabei warest, Michel; Du kennst das Gebirge wie kein Zweiter unter uns.“

Michel Croz bestätigte es etwas geschmeichelt mit einem stummen Kopfnicken, wandte jedoch gleich dagegen ein: „Wenn die Augen mit Schnee verweht sind und die Gewalt des Sturmes Einen nach den Andern zur Erde wirft – da hilft alle Kenntniß des Gebirges nichts mehr.“

„Wie retteten Sie sich aber und wo blieben Ihre Gefährten?“ frugen wir Michel mit steigender Angst.

„Wir machten es, wie die Gemsen,“ antwortete er, „die in solchem Unwetter hinter den Felsen Schutz suchen. Wir umklammerten in der Noth die Klippe eines Felsengrates, die da einsam, wie ein Leichenstein, aus dem weiten Eisgrabe hervorragte. Hier hielten wir uns knieend fest und faßten – im Reiche des Todes, vom Verderben umbrüllt – einen Entschluß, den nur die Verzweiflung ersinnen konnte. Binnen wenigen Minuten war nämlich die Thalschlucht vor uns in eine viele Klaftern tiefe Schneemulde verwandelt. Die Entfernung bis zu der erwähnten Passage des Mur de la Côte konnte mit Sicherheit nicht angegeben werden und wir wußten daher nicht, ob unsere Seile – selbst wenn wir sie aneinanderknüpften – bis dorthin reichen würden; dennoch sollte es versucht werden „ob Einer von uns dieses ‚Vorgebirge der guten Hoffnung‘ erreichen könne, um dort das Seil, wenn es lang genug wäre, derart zu befestigen, daß sich die später Folgenden an demselben festhalten und so vor dem Versinken in die tiefzugewehte Thalschlucht bewahren könnten. Mir, als dem ältesten und kundigsten Führer der unglücklichen Expedition, kam der Pionierdienst zu; wenn das Seil ausreichte, so war er weniger gefährlich, als anstrengend, weil mich bei einem etwaigen Einsinken die auf der Klippe zurückbleibenden Gefährten ja jederzeit vermittels des um meinen Leib geschlungenen Seiles wieder herausziehen konnten. Und sie mußten dies recht oft thun, da ich schon wenige Schritte von der Felsenklippe einsank und meine Kräfte von Minute zu Minute abnahmen. Das Schlimmste aber war die Entdeckung der traurigen Gewißheit, daß das Seil lange nicht hinüberreichte und wohl noch mehr als hundert Fuß Entfernung zwischen seinem Endpunkte und der erwähnten festen Schneestiege blieb. Ich suchte durch Zeichen dies meinen Gefährten verständlich zu machen – ein allgemeiner Schmerzensschrei tönte als Antwort zu mir herüber und ich sah, wie einer der beiden Touristen, in der Absicht mir zu folgen, das Seil erfaßte und in den Schnee sprang, in dem wir durch diesen gewaltigen Ruck sicher Beide versunken wären, wenn ich nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, das an mir befestigte Seil zu lösen, so daß der tollkühne Engländer an ihm wieder emporgezogen werden konnte.

Ein Griff – da rollte das Seil hin, der letzte Faden, an dem mein Leben über tiefen Abgründen schwebte, die letzte Hoffnung zugleich für die Zurückbleibenden! Noch einmal gab die Verzweiflung mir Muth – ein Blick auf die Gefährten – und ich machte den tollkühnen Versuch, auf allen Vieren vorsichtig über die trügerische Schneedecke weiter zu kriechen, um so die bekannte Gletscherüberbrückung zu erreichen. Gott mußte mir die Leichtigkeit eines Vogels gegeben haben – denn wirklich! der kaum hingewehte Schnee trug mich und ich erreichte den Wall, welcher mit seinen eisharten Stufen den einzigen, aber höchst gefährlichen Uebergang in einen unabsehbar tiefen Abgrund bildet. Ich reinigte die zugewehten Stufen vom Schnee und trat ohne jede Hülfe den berüchtigten Weg an, den man sonst nur passirt, nachdem man vorsichtig an Rettungsseilen befestigt wurde. Es schien zu glücken – doch plötzlich, gerade auf der Höhe, wende ich das Auge zurück und, wie ein Schlag der eigenen Vernichtung, trifft mich der Anblick meiner unglücklichen Gefährten. Ein Gedanke – es war ein fürchterlicher Gedanke – schlimmer als Sterben: ‚Du verlässest sie, lebendig begraben in Schnee und Eis! Was erheischt deine Pflicht? Mit ihnen zu sterben, oder – dein Leben zu retten?‘ Ich blickte in den finstern Abgrund – eine eiskalte Luft, wie kalter Grabesschauer wehte daraus empor – und ich dachte – ‚wenn jetzt dein Fuß abglitte – wenn du straucheltest – Michel Croz! Dir wäre wohl!‘ –

Ich entschloß mich zu ihnen zurückzukehren, doch kaum hatte ich die hohe Côte verlassen, so sank ich tief in den Schnee; – ich merkte es wohl, warum er mich jetzt nicht mehr trug – ich hatte die Kraft und namentlich die ruhige Fassung verloren. Unter schweren Kämpfen tauchte plötzlich der Gedanke in mir auf: ‚Wenn es möglich wäre, daß mich die alten Füße noch hinabschleppten in’s Thal; wenn ich aus der Welt des Lebens Hülfe heraufsenden könnte – Hülfe!‘ das Wort entwand sich meinen Lippen wie ein Angstschrei, und wieder kletterte ich den harten Schneewall hinan und war bald jenseit des anderthalb hundert Meter hohen Mur de la Côte angelangt. Der Sturm schien ausgetobt zu haben; es war Friede in der Gletscherwelt und ich wanderte eilenden Fußes am breiten Schneeabhang des Corridor zwischen dem Mont-Mandit und den Rochers-Rouges dem großen Plateau zu, alle mir wohlbekannten nähern Pfade benutzend. So einsam war ich noch nie da gewandert – noch nie mit solcher Herzensangst!

Zu meiner fürchterlichen Lage sollte sich aber bald das gräßlichste Uebel gesellen: die Erschöpfung. Von unserm Proviant hatte ich leider nichts bei mir, dabei sank die Nacht herab und mit ihr das Ziel meiner Hoffnung. Was sollte inzwischen aus mir – aus meinen unglücklichen Gefährten werden? Ich eine Beute des Hungers, der Erschöpfung – sie ein Raub der Verzweiflung, die mit Anbruch des Tages vielleicht die ganze Reisegesellschaft dem Tode unter Schnee und Eis in die Arme trieb! Mit solchen Schreckensgedanken war ich über das Plateau gewandert und schleppte mich den von ihm auslaufenden Gletscher mehr als eine Stunde noch hinab. An seinem Rande sank ich ermattet auf einer Felsenplatte nieder; – ich konnte nicht weiter und wählte sie zu meiner Bahre. [140] Nicht meinetwegen brachen mir Thränen aus den Augen – ich glaubte dort das gewöhnliche Ende der Hochgebirgsführer zu finden! – aber meine Gefährten, deren Schicksal lag mir schwer auf dem Herzen. – Da sah ich plötzlich in der Nacht einen Schimmer an einer fernen Bergwand; – ich traute meinen Augen kaum: der Mond konnte es nicht sein, er ging so früh nicht auf – aber woher der helle Schein? – Ich raffte mich noch einmal auf, schleppte mich auf dem mir wohl bekannten Gletscher noch ein Stück weiter hinab, als ich plötzlich – Dank dem Himmel! – diese rettende Flamme erblickte und in der Gewißheit, hier Touristen zu finden, mit erneutem Muthe und allen noch zusammengerafften Kräften hereilte.“ –

Wir drückten dem wackern Alten die Hand und erboten uns, mit allen unsern Mitteln die Rettung der von ihm zurückgelassenen Reisegesellschaft zu versuchen. Ohne Aufschub hätten wir die Tour angetreten, allein die Führer riethen einstimmig davon ab, die gefahrvolle Gletscherfahrt vor dem Aufgange des Mondes zu beginnen. Deshalb theilten wir mit dem braven Michel unsere Decken und überließen uns in der Hütte kurze Zeit der stärkenden Ruhe.

Es war noch nicht zwei Uhr, als Michel Croz uns weckte – die Sorge um seine Unglücklichen schien ihm keine Ruhe zu lassen. Zur mühsamen Fahrt mit Tauen und Schneeschaufeln gerüstet, traten wir hinaus unter den klaren Sternenhimmel, der sich wahrhaft magisch über dem erstorbenen Gletscherbilde wölbte. Die Decorationen der Hochgebirgswelt waren noch dieselben, welche wir am Abend sahen, aber ihre Färbung war so bleich und verschwommen, als ständen nur noch die Geister der Berggipfel vor uns; es waren noch dieselben ungeheuren Klippenreihen mit ewigem Schnee, welche uns anstarrten, doch sie erfüllten uns jetzt mit wundersamem, fast gespenstischem Schauer. Die Welt unter uns verhüllte Nacht; wir standen auf dem schwarzen Plateau des Mont Mulet, wie auf der Thurmwacht eines mächtigen Kuppeldaches, hoch über der todten Welt. Prachtvoll ging endlich am klaren Himmel der Mond zwischen zwei glänzenden fernen Eisfirsten auf, die schon lange vorher von einem wunderbaren Scheine erglühten. Mit einem ernsten „Helf Gott!“ verließen wir unsern Felsen und wanderten über den Gletscher dem Grand-Plateau, dem mächtigen Vorsaale im funkelnden Palaste des Montblanc zu.

Nach Verlauf von vier sauern, aber an über Worte erhabenen Eindrücken reichen Stunden langten wir an dem blendenden Schneeabhange des Corridors an und erblickten vor uns die Schneemauer der Côte. So mühsam auch ihre einhundertundfünfzig Meter hohen steilen Stufen zu ersteigen waren, hatten wir dennoch vor sieben Uhr Morgens die Höhe erklommen und begrüßten von der obersten Stiege die fremde Reisegesellschaft mit freudigem Winken.

Jetzt war es unsere Hauptaufgabe, das Seilende zu erreichen, an dem Michel Croz den größten Theil des gefahrvollen Weges zurückgelegt hatte und das zum Glück noch unberührt, wenig mehr als hundert Fuß von unserer Höhe, entfernt lag. Der Alte ließ es sich nicht nehmen, auch hier wieder den ersten Versuch zu wagen. Wir knüpften ihm daher eines unserer festesten Taue um den Leib und rüstig trat er seine Wanderung an; allein wehe! mit jedem Schritte sank er tiefer in den Schnee, und die trügerische Decke, welche ihn gestern herübergetragen, versagte ihm heute – vom Strahl der Morgensonne mürbe geworden – vollständig den Dienst. Wir eilten daher, den Erschöpften wieder heraufzuziehen, und griffen zum letzten, wenn auch mühsamsten, so doch wenigstens sicheren Mittel, zur Schneeschaufel. Rüstig begannen wir einen kaum zwei Fuß breiten Pfad in der Richtung nach dem Tauende zu bahnen, eine Arbeit, die um so beschwerlicher war, als der angewehte Schnee an den meisten Stellen mehr als die Mannshöhe erreichte. Nach wenigen Stunden war es uns gelungen; wir knüpften eins unserer stärksten, festesten Taue an das der anderen Reisegesellschaft und stellten somit eine sichere Verbindung her zwischen der Expedition auf der einsamen Klippe und dem Mur de la Côte, wo wir das straff angezogene Seil mit großer Sicherheit befestigten.

Die unglückliche Montblanc-Karawane kam nun einzeln, Mann für Mann an dem Tau sich festhaltend, über die nicht tragbare Schneedecke von der Klippe zu uns herüber. An die Gefahren derartiger trügerischer Wege gewöhnt, suchte Jeder nur an solchen Stellen den Schnee mit den Füßen zu betreten, die fest genug erschienen; – sobald aber die Schneedecke zusammenbrach, war es immer das rettende Seil, welches der Gefährdete fest umklammerte und das ihn treulich emporhielt.

Endlich – es mochte fast Mittag sein – war es vollbracht; wir hatten sie Alle glücklich herüber, und Menschen, die sich zum ersten Male im Leben erblickten, lagen sich hier, über dem kalten Grabe, in den Armen, die einen von Dank, die andern von Freude erfüllt. Es war für uns Alle eine selige Stunde, der Glücklichste unter uns war jedoch Michel Croz – der eigentliche Retter seiner Gefährten – der treueste, im schweren Dienst ergraute Führer in der Welt ewiger Gefahren. Nun ging es an ein Erzählen, wie die Unglücklichen die schreckliche Nacht mehr als zwölftausend Fuß über dem Meeresspiegel zugebracht; wie sie sich gegenseitig wach erhalten und durch fortwährende Bewegung der Glieder vor dem Erfrieren geschützt hatten; wie so mancher vergebliche Rettungsversuch gemacht wurde, und wie selbst mit dem aufdämmernden Morgen kaum die schwächste Hoffnung wiedererwachte.

Als Michel sich am andern Morgen in Chamounix von uns trennte, drückte er uns treuherzig die Hand und sagte: „Gott segne Sie! Hätten Sie mir nicht in der verhängnißvollen Nacht mit dem Feuerschein die Nähe hülfsbereiter Menschen verkündet, dann würde es mir nicht möglich gewesen sein, meinen Herren und meinen Gefährten den Dienst zu leisten, für den ich Gott bis an mein seliges Ende danken will.“

Und dies Ende sollte leider so schnell und so furchtbar kommen! Noch hatte ich mit meinem Freunde die Alpen nicht verlassen. Wir saßen, von mühsamer Gletscherfahrt ausruhend, in der armseligen Hütte eines Wildheuers, als mein Freund mir stumm und traurig ein kleines schweizerisches Localblatt zuschob. Es brachte die erschütternde Nachricht vom Matterhorn-Unglück, bei dem Michel Croz, pflichtgetreu in seinem schweren Berufe, sein Ende fand. – Möchten diese Worte eines Wandergefährten sein Andenken wieder auffrischen im Herzen aller der Pilger, die er hinangeleitet zu den Wundern der Hochgebirgswelt und sein Lebenlang sorglich geführt durch das Reich der Gefahren!

R. Bunge.