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Eine Flucht aus dem Grabe

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Textdaten
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Autor: H. Sch.
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Titel: Eine Flucht aus dem Grabe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 850–855
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[850]
Eine Flucht aus dem Grabe.


1.

Schreiber dieser Zeilen hat die Gewohnheit, von Zeit zu Zeit Razzias nach den verschiedenen Büchertrödlern der Residenz zu unternehmen, in welcher er lebt. Eine solche Expedition lieferte ihm dieser Tage in einer sonst ärmlich genug bestellten Boutike, hinter den Säulen einer überbauten Brücke, ein ziemlich seltenes Wild in die Hände. Es war ein Buch in französischer Sprache ohne Angabe des Autornamens und des Druckjahres, wahrscheinlich jedoch in der ersten Zeit der französischen Revolution gedruckt und enthielt eine sehr eingehende Beschreibung jener Zwingburg des Absolutismus, deren Zerstörung der erste Gewaltact der großen Staatsumwälzung galt, der famosen Bastille. Als Anhang zu dem merkwürdigen Werke fanden wir die Erzählung einer Reihe theils wirklich gelungener „Ausbrüche“ aus dem grausigen Kerker, theils abenteuerlicher Versuche, dem lebendigen Grabe zu entrinnen.

Glücklich über die unerwartete Beute, trugen wir den Band nach Hause und eilen jetzt, da das Buch wohl keinem unserer Leser bekannt sein dürfte, auch Andere unseres Fundes theilhaftig zu machen, indem wir einen Abschnitt der hochinteressanten Schrift, der einzigen Quelle, der wir ein Bild des innern Lebens der Bastille entnehmen können, im Auszug mittheilen.

Den Eingang des furchtbaren Gefängnisses bildete ein Thor nebst einem Wachthause in der Rue St. Antoine. Eine Zugbrücke und ein zweites düsteres Thor führten zur Wohnung des Gouverneurs, welche vom eigentlichen Kerker durch einen tiefen Graben und eine zweite Zugbrücke getrennt war. Ein mit eisernen Spitzen besetztes und mit einer Palissadenthür versehenes, sehr festes Gitter schied das Wachtgebäude von dem großen Hofe, einem länglichen Viereck von etwa hundertundzwanzig Fuß Länge bei achtzig Fuß Breite. Innerhalb des Gitters erhob sich rechts der für die Unterbeamten, den Gefängnißschneider und einige [851] wenige bevorzugte Gefangene bestimmte Bau. An den Ecken sprangen acht Thürme vor; sie trugen die Namen „Tour de la Comte“, „du Tresor“, „de la Chapelle“, „de la Bertandière“, „du Puits“, „du Coin“, „de la Basinière“ und – wunderbarer Weise! – „de la Liberté“. Ein Haus, in dem sich der sogenannte Aufnahmesaal, die Wohnung des Kerkermeisters, die Küchen und die Gemächer des Königslieutenants befanden, trennten den innern oder Brunnenhof von dem erwähnten großen Hofe.

Rund um die ganze Bastille herum lief ein fünfundzwanzig Fuß breiter Graben, von einem sechszig Fuß hohen Wall umgeben. Dieser letztere trug eine hölzerne Galerie, auf der Tag und Nacht Schildwachen hin und wieder schritten. Außerhalb der Bastille lag eine mit Bäumen bepflanzte Bastion; ebenso auf der andern Seite. Zwischen diesen beiden Bastionen spannte sich die Brücke St. Antoine über den Wallgraben der Stadt. Sie mündete vor der Bastille auf einen mit stattlichen Häusern bebauten großen Platz.

So stellte sich das Aeußere der entsetzlichen Zwingburg dar. Noch düsterer und unheimlicher sah es in ihren inneren Räumen aus. Die einzelnen Zellen waren schwarz vom Rauche der Jahrhunderte und voll von Schmutz und Ungeziefer und enthielten kein anderes Mobiliar als mit Vorhängen umhüllte kleine Betten und ein paar wurmstichige Tische und Stühle. Vor den doppelten eisernen Thüren und vor den winzigen Fensterluken waren dicke eiserne Gitter angebracht, so daß nur spärliches Licht in die engen Gemächer fiel. Sobald ein Gefangener eingeliefert wurde, nahm man ihm ab, was er an Geld oder Werthsachen bei sich trug, überreichte ihm jedoch ein Verzeichniß der mit Beschlag belegten Gegenstände für den – freilich sehr seltenen – Fall, daß ihm die Luft der Freiheit wieder zu athmen vergönnt ward. Die wachthabenden Soldaten hatten den strengen Befehl, ihre Hüte über das Gesicht hinabzuziehen, wenn ein neuer unfreiwilliger Ankömmling das Kerkerthor passirte, damit sie die Person desselben nicht erkennen konnten, und in der Kirche wurden die Gardinen vor den Sitzen der Gefangenen nur im Augenblicke der „Wandelung“ in die Höhe gelassen. Die Mahlzeiten fanden um ein Uhr Mittags und um sieben Uhr Abends statt, und da pro Kopf dafür täglich eine Pistole ausgesetzt war, so hätte die Kost keine schlechte sein können, wäre nicht von den Kerkermeistern das halbe Essen unterschlagen und die andere Hälfte verfälscht worden. Die am meisten gefürchteten Gefängnisse waren die Calottes oder Dachkammern in den Thürmen, die unter dem Niveau der Wassergräben belegenen Gelasse und die Räumlichkeiten unter dem Geschützwalle, die bei jedem Salutschusse bis in den Grund hinab erbebten.

Gewiß, es war eine Hölle auf Erden, in welche sich Menschen wegen des kleinsten Verstoßes wider einen königlichen Günstling, einen einflußreichen Priester, einen bestochenen Beamten verbannt sahen. Das „Laßt alle Hoffnung zurück, Ihr, die Ihr hier eintretet“ stand deutlich genug über den Pforten dieses Grabes geschrieben, und dennoch ist es manchem der bei lebendigem Leibe darin Eingesargten gelungen, seine Fesseln zu sprengen und an das Licht des Tages und der Freiheit emporzutauchen.

Es war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ludwig der Fünfzehnte schwelgte in seinem Parc aux Cerfs und Frau von Pompadour stand im Zenith ihrer Macht. Die stolzesten Edelen des Hofes beugten sich in Furcht und Demuth vor der Lieferantentochter, wenn sie auch im Stillen die allgewaltige Favorite haßten und verachteten. Um dieselbe Zeit kam, zur Vollendung seiner militärischen Studien, ein junger Ingenieurofficier nach Paris, Henri de la Tude, der Sohn eines St. Ludwigsritters, des Königslieutenants von Sedan. Henri de la Tude wollte Carrière machen. Dazu aber gab es keinen sicherern Weg, als die Gunst der Marquise von Pompadour. Der junge de la Tude verfiel denn auf einen höchst abenteuerlichen Gedanken: er spiegelte der derzeitigen Regentin Frankreichs vor, er habe ein Complot ausgespürt, welches von Adeligen und Priestern gegen ihr Leben angezettelt sei. Die Angabe erwies sich sofort als eine falsche und der Denunciant ward verhaftet, erst in die Bastille abgeführt, dann in das Schloß von Vincennes gebracht. Er entzog sich seiner Haft durch die Flucht, überlieferte sich indeß Ludwig dem Fünfzehnten auf Gnade und Ungnade. Der König bezeigte dem jungen Manne vieles Wohlwollen, ließ ihn aber, auf Anstiften der Frau von Pompadour, doch von Neuem in die Bastille setzen. Und vergeblich blieben jetzt alle Versuche des Irregeleiteten, seine Freiheit zu erwirken. Die Marquise hatte einmal ihren Haß auf ihn geworfen, und dagegen war selbst der König machtlos.

Achtzehn Monate lang schmachtete La Tude in einem unterirdischen Verließe. Später ward er zwar aus diesem finstern Kerker erlöst und in eine überirdische Zelle befördert, zusammen mit einem andern Opfer der Marquise, einem gewissen d'Alègre, allein noch immer war sein Loos grausam genug. Eingeschlossen von ungeheuer hohen, sechs Fuß dicken Mauern, von vierfachen Eisengittern vor jedem Fenster und über jedem Kamine, von mit sumpfigem Wasser erfüllten tiefen Gräben, ohne Freunde, die ihm Sägen oder Feilen zusteckten, – wie durfte er unter solchen Umständen auf Rettung aus seiner jammervollen Lage hoffen? Und dennoch bewerkstelligte der junge Officier sein Entrinnen aus diesem grauenhaften Fegefeuer!

Welche Vorsicht, welche Energie, welche fast übermenschliche Ausdauer erforderte es, um dieses Ziel zu erreichen! Jedwede Art von schneidenden Werkzeugen waren den Gefangenen in der Bastille auf das Strengste verpönt, und nicht um hundert Louisd'or hätte sich ein Kerkermeister zur Herbeischaffung nur einer Viertelelle Band oder Schnur bewegen lassen. Keine Kunde aus der Außenwelt fand Eingang in die Zwingburg; Beamte, Aerzte, Kerkermeister hatten für die Gefangenen eine einzige stereotype Anrede. „Guten Morgen! Guten Abend! Wünscht Ihr etwas?“ oder „Was fehlt Euch?“ Jahre lang hätte Bruder oder Vater eines Gefangenen in der Zelle neben oder über demselben schmachten können – er hätte nichts davon erfahren!

Ein Koffer mit Wäsche war das einzige Arsenal, das La Tude zu Gebote stand, seine Flucht vorzubereiten. Sein Mitgefangener d’Alègre lachte, da jener auf dies nutzlose Möbel als auf ihren Rettungsanker hinwies. Doch La Tude ließ sich nicht irre machen. Sieben Jahre hindurch brütete er Tag und Nacht über seinem Fluchtplan, und endlich stand dieser fertig vor seiner Seele. Er wußte jetzt genau, was er zu seinem „Ausbruch“ brauchte: Siebenhundert Ellen Schnure, – und zwei Leitern, die eine von Holz, dreißig Fuß lang, die andere aus Stricken, hundertachtzig Fuß. Ferner mußte das schwere Eisengitter über dem Kamine ausgebrochen und während der Nacht, höchstens zwölf bis fünfzehn Fuß entfernt von einer Schildwache, durch eine viele Fuß starke Mauer ein Loch gebohrt werden. Und das Alles mußten die Beiden mit ihren bloßen Händen vollbringen! Allein das genügte noch nicht! In ihrer kleinen Zelle, die täglich zwei Mal von Beamten und Schließern revidirt wurde, mußten sie auch die beiden Leitern verbergen. „Unmöglich! Ganz unmöglich!“ rief d’Alègre ein Mal über das andere aus, als ihm La Tude diesen Plan entwickelte. Der Energie aber wird Alles möglich.

La Tude hatte wahrgenommen, daß der Gefangene in Nr. 3 des Thurms La Comte – der Zelle über seiner eigenen – niemals nur das leiseste Geräusch vernehmen ließ, weder seinen Tisch oder Stuhl rückte, daß man es hören konnte, noch hustete oder nieste. Jeden Sonntag und Mittwoch ging derselbe, ebenso wie La Tude und dessen Freund, zur Messe, und zwar kam er stets vor ihnen die Treppe herunter und stieg sie nach ihnen wieder hinauf. Seine Zelle in Augenschein zu nehmen, war unerläßlich; um dies zu ermöglichen, erdachte La Tude einen sehr einfachen, doch sinnreichen Plan. Bei der Rückkehr aus der Messe sollte d’Alègre sein Taschentuch herausziehen und es die Treppe hinunterfallen lassen. Dies geschah, und der Schließer ward gebeten, es wieder heraufzuholen. Während der Mann diesem Wunsche entsprach, eilte La Tude die Stufe hinauf, schob den Riegel von Nr. 3 zurück und sah sich in dem geöffneten Raume um. Die Zelle mochte neun bis zehn Fuß hoch sein. Hierauf maß er geschwind drei Stufen der Treppen und zählte, wie viel derselben bis zu seiner eigenen Zelle vorhanden waren. Alsbald leuchtete ihm ein, daß die Decke der letzteren doppelt sein mußte, wenigstens fünf Fuß dick, um den Schall zu dämpfen. Ein ähnlicher hohler Raum, so schloß er, lag jedenfalls auch zwischen seiner und der nächst unteren Zelle.

Die Augen funkelten ihm, als er sich mit d’Alègre wieder zwischen seinen vier Mauern eingeschlossen sah.

„Geduld! Muth! Wir werden frei werden! Die Decke ist hohl; dort können wir unsere Stricke verbergen.“

„Stricke?“ frug sein Freund. „aber wir können ja keinen Zoll davon auftreiben!“

[852] „In dem Koffer da,“ entgegnete La Tude, indem er auf einen Wäschebehälter deutete, „habe ich zwölf Dutzend Hemden, sechszehn Paar seidene Strümpfe, fünf Dutzend Paar Beinkleider, sechs Dutzend Servietten. Fasern wir diese Wäschvorräthe aus, so haben wir mehr Stricke, als wir brauchen.“

Auch d’Alègre’s Gesicht begann sich aufzuhellen.

„Wie aber,“ frug er weiter, „können wir die Eisenstangen vor dem Kamine beseitigen? Wir haben ja weder Meißel noch Brecheisen.“

„Die Hand hat alle Werkzeuge gemacht und der Geist sie alle ersonnen,“ gab La Tude ernst zur Antwort. „So lange uns diese zwei nicht fehlen, brauchen wir um Mittel und Wege nicht verlegen zu sein.“

Dabei zeigte er auf die eisernen Scharniere in ihren Klapptischen.

„Wenn wir diese auf dem Estrich unserer Zelle spitz schleifen,“ fuhr er fort, „so werden sie zu Meißeln; aus dem Stahl, mit welchem wir uns Feuer anschlagen, machen wir uns ein Messer, [853] mit dem wir uns die Stiele unserer Instrumente herstellen und noch eine Menge anderer Dinge anfertigen können.“

Den ganzen Tag sprachen sie nur von ihrer Flucht. Die Hoffnung flößte den armen Gefangenen Muth ein, denen eine sieben Jahre andauernde Sclaverei eine übernatürliche Schlauheit verliehen hatte. Nach dem Abendessen, sobald sie sich für die Nacht sicher wußten, zogen sie einen Haspen aus dem Tische heraus, nahmen einen Ziegelstein aus dem Fußboden und begannen die Decke der unten gelegenen Zelle zu attakiren. Nach sechsstündiger Arbeit hatten sie ergründet, daß auch das untere Gemach zwei Decken besaß, jede drei Fuß von der andern entfernt. Dann schafften sie den Ziegel sorgsam wieder an Ort und Stelle, so daß keine Spur von seiner Wegnahme zu sehen war.

Am andern Tage zerbrachen sie ihren Feuerstahl, arbeiteten ihn zu einem Messer um und schnitten zwei Hefte zurecht, in die sie die zugespitzten Tischhaspen decken konnten. Jetzt wurden langsam zwei der Hemden ausgefasert, Faden um Faden. Diese letzteren knüpften sie aneinander und wickelten sie zu einem großen [854] Knäuel zusammen, dergestalt, daß fünfzig einzelne Fäden eine Länge von sechszig Fuß bildeten. Aus diesen zusammengebundenen Fäden drehten sie sich ein etwa fünfundfünfzig Fuß langes Seil, dem sie allmählich immer ein Stück mehr anfügten, je nachdem sie in den langen Stunden qualvoller Nächte weiteres Leinenzeug auseinander gezupft hatten.

Welche unsäglich mühselige und langweilige Arbeit! Nur die Perspective eines möglichen Gelingens ihres Vorhabens ließ sie nicht ermatten. Nun ging es an das schwere Werk, die Eisenstangen aus dem Kamine auszureißen. Mit schweren Gewichten befestigten sie ihre Strickleitern, kletterten im Schornsteine in die Höhe und arbeiteten gegen die Stangen los. Sie quälten sich mehrere Monate lang, dann aber waren die Stäbe locker genug, um jeden Augenblick hinweggenommen werden zu können. Vorläufig ließen sie dieselben indeß noch stecken. Wie sauer diese Arbeit war, davon macht man sich schwerlich eine Vorstellung. Jeden Tag stiegen die beiden Männer mit blutenden Händen aus dem Rauchfange herunter und so gequetscht und zerschunden, daß sie immer einige Stunden ausruhen mußten, ehe sie im Stande waren, ihr Werk fortsetzen.

Hatte man jedoch auch die Stangen beseitigt, so bedurfte man immer noch einer hölzernen Leiter, um aus dem Graben auf den Wall hinaufzuklimmen, wo die Schildwachen standen. Dies aber war der einzige Weg nach dem Garten des Gouverneurs und von da aus in die Freiheit. Wie nun diese Leiter anfertigen? Sie konnten dazu nur das ihnen tagtäglich gelieferte Brennholz benutzen, Stücke von achtzehn Zoll Länge. Wie aber diese zerkleinern? Eine Säge besaßen sie ja nicht und die Tischhaspen drangen nicht durch. Der Scharfsinn La Tude’s wußte auch jetzt wieder Rath. Im Verlaufe weniger Stunden war aus einem eisernen Leuchter und der andern Hälfte ihres Feuerstahls eine vortreffliche Säge zu Wege gebracht, die in zwanzig Minuten ein armstarkes Stück Holz zerschnitt. Mit dieser Säge und dem Messer, welches sie sich bereitet hatten, wurde nach und nach die nöthige Anzahl Leitersprossen fabricirt, desgleichen die durch Gelenke ineinandergefügten Seitenbäume der Leiter. Damit nicht genug. Sie machten sich auch einen Cirkel, eine Haspel und Alles, was ihnen sonst an Geräthschaften zu ihrer Flucht noch noth that, und verbargen diese sämmtlichen Gegenstände natürlich in den hohlen Räumen zwischen den Decken der oberen und unteren Zelle. Jedem dieser Instrumente gaben sie einen geheimen Namen, so hießen sie die Säge Faun, die Diele Polyphem, die Leiter Jacob, das Seil Taube, die Haspel Anubis, die Haspen Tubalkain, und bestimmten, daß, sowie der der Thür sich am nächsten Befindende auf der Treppe den Tritt des Schließers hörte, er sogleich den Beinamen des rasch zu versteckenden Geräths ausrufen sollte, da der Kerkermeister die Zellen nicht selten auch bei Tage inspicirte.

Endlich, nach Anstrengungen und Mühen, die sich kaum denken lassen, waren Leitern und Seile fix und fertig und in der Höhle Polyphem’s glücklich geborgen. Da sich indeß La Tude überzeugte, daß die Strickleiter, mittelst deren sie die senkrechte Mauer hinabsteigen mußten, derart schwanken würde, daß den Hinunterklimmenden Schwindel befallen möchte, so flochten sie sich noch ein zweites dreihundert Fuß, das heißt doppelt so langes Seil, wie die Höhe des Thurmes betrug. Dieses zweite Seil sollte durch einen festen Kloben gezogen und mit seiner Hülfe das gefährliche Schwanken der Leiter beseitigt oder doch vermindert werden. Alles in Allem hatten sie jetzt vierhundert Fuß Strick oder Schnur. Hierauf kam die Herstellung der zweihundert Sprossen ihrer Strickleiter an die Reihe, – eine Arbeit, welche auch noch manche Woche in Anspruch nahm. Im Ganzen hatten ihre Vorbereitungen eine Zeit von achtzehn Monaten erfordert bei einer fast ununterbrochenen Arbeit während Tag und Nacht!

Mit Hülfe dieser Veranstaltungen nun mußte durch den Rauchfang auf die Zinne des Thurmes gestiegen, von hier aus hundertachtzig Fuß in den Graben hinabgeklommen, dann wieder über den Wall in den Garten des Gouverneurs empor, von Neuem in den großen äußeren Graben hinunter und schließlich über das Thor von Saint Antoine hinübergeklettert werden. Welche complicirte und schwierige Manöver waren da also zu vollführen! Und immer blieb ihnen noch Eines ganz unentbehrlich, und zwar etwas, worüber sie nicht die geringste Macht hatten: eine passende Nacht. Lockte sie vielleicht Regen, Sturm, Dunkelheit zum Werke und es hellte sich nachher der Himmel auf, so entdeckte sie die Schildwache sicherlich, und sie wurden dann entweder niedergeschossen oder zurückgeschleppt in die Bastille und in finstere Verließe geworfen, ist denen sie ihr Leben lang schmachten mußten, oder doch wenigstens, bis die allmächtige Marquise todt war. Allein selbst einem solchem Dilemma hatte La Tude einigermaßen zu begegnen gesucht. Er bedachte, daß die häufigen Ueberschwemmungen der Seine den Mörtel des äußeren Walls zerfressen haben müßten und daß es deshalb nicht unmöglich sein dürfte, mittelst eines einfachen Zwickbohrers, den er sich aus den Schrauben seiner Bettstelle fabricirte, und einiger Eisenstangen aus dem Schornsteine sich einen Weg durch die Mauer auf die Straße hinaus zu bahnen. Auch diese Vorkehrungen wurden noch getroffen – und so war man bereit, das lange geplante Wagniß zu vollführen.




2.

Die Nacht des 25. Februar 1756 wurde zur Flucht ausersehen, obschon sie wußten, daß in beiden Gräben das Wasser vier Fuß hoch stand. Da sie mithin ganz mit Schlamm überzogen und bis auf die Haut durchnäßt werden mußten, so belud sich La Tude noch mit der Last eines mit zwei vollständigen Anzügen gefüllten Koffers. Unmittelbar nach dem Mittagessen des bestimmten Tages brachten sie die beiden Leitern vollends zu Stande und versteckten sie unter ihren Betten, damit der Schließer beim Hereintragen des Abendbrods nichts davon gewahr wurde. Sie waren, wie dies häufig geschah, vom betreffenden Beamten erst am Morgen durchsucht worden, fühlten sich folglich ziemlich sicher. So schnürten sie denn ihre Geräthschaften in Bündel zusammen, brachen die Eisenstangen aus dem Schornstein heraus und wickelten sie ein. Eine Flasche Branntwein ward vorsorglich mitgenommen für den Fall, daß sie etwa längere Zeit im Wasser zu arbeiten hätten.

Der so heiß ersehnte und nun, da er wirklich herannahte, doch mit so großer Angst begrüßte Moment war gekommen. Der Kerkermeister hatte die Abendmahlzeit gebracht und die Thür geschlossen. La Tude, obwohl an heftigen rheumatischen Schmerzen an dem einen Arme leidend, begann im Schornsteine in die Höhe zu klettern. Allein er hatte übersehen, sich nach Essenkehrermanier einen Rock über den Kopf zu ziehen und Ellenbogen und Schenkel durch Hüllen zu schützen, und so machte ihn der herabfallende Ruß fast blind, während das Blut ihm von Knieen und Armen herabrann. Trotz alledem aber ließ er sich nicht aufhalten in seinem Unternehmen und gelangte glücklich bis zum Kranze der Esse.

„Endlich war ich oben,“ – so erzählt er selbst, und wir setzen unsern Bericht jetzt in seinen eigenen Worten fort – „und nahm rittlings auf dem Schornsteine Platz. In dieser Stellung wickelte ich einen Knäuel Schnur ab, an deren Ende mein Gefährte unser stärkstes Seil anknüpfen sollte, um hieran unsern Koffer zu binden. Dies geschah, und ich zog das Behältniß wohlbehalten zu mir empor. Hierauf ließ ich die Schnur abermals hinunter, an die d’Alègre nun die hölzerne Leiter befestigte. Auch sie, die beiden Eisenstangen und die übrigen Bündel, deren wir bedurften, kamen dergestalt zu mir herauf. Sowie ich dies Alles beisammen hatte, ließ ich die Schnur zum dritten Male, nieder, um daran die Strickleiter emporzuheben. Als dies geschehen, stieg mein Camerad, von mir nach Kräften unterstützt, durch den Rauchfang in die Höhe. Schließlich ward heraufgezogen, was wir an Geräthschaften noch mitzunehmen hatten.

Vom Schornstein auf die Plattform des Thurmes hinab zu gelangen, bot keine große Schwierigkeit bar. Aber man denke sich: das Gepäck, mit dem wir uns beladen mußten, war so ansehnlich und so gewichtig, daß kaum zwei Pferde es hätten fortschleppen können! Allein das durfte uns nicht hindern, wir mußten vorwärts, vorwärts unter allen Umständen. Wir rollten unsere Strickleiter zusammen; sie bildete einen fünf Fuß hohen und einen Fuß dicken Haufen, und diesen Mühlstein wälzten wir langsam bis zum Schatzthurme, welcher uns für unsern Abstieg als der geeignetste erschien. An eine Mauerkante festgebunden, wurde die Leiter sachte in den Graben hinabgelassen. In derselben Weise befestigten wir unsern Kloben, über den das dreihundertsechszig Fuß lange Seil lief, und sobald wir alle unsere Bündel daneben placirt hatten, knüpfte ich meinen Schenkel an dem über den Kloben laufenden Seil fest, trat auf die Leiter, und je tiefer ich [855] hinabstieg, desto mehr rollte mein Freund an dem mich haltenden Seile ab. Allein trotz dieser Vorsichtsmaßregel war es mir bei jedem Schritte, als schwebte mein Körper in der Luft wie ein Drache, den die Knaben loslassen, so daß mich, wäre das Manöver bei hellem Tage unternommen worden, sicher alle Zuschauer für einen verlorenen Mann gehalten hätten. Nichtsdestoweniger aber kam ich unversehrt unten im Graben an.

Nachdem mir d’Alègre alle unsere Habseligkeiten herabgesandt und ich dieselben auf einer vorspringenden Stelle über dem Wasser trocken untergebracht hatte, band er seinerseits sich an das Seil fest, gab mir das Signal, daß er die Leiter betreten hatte, und ich vollzog nun unten die gleichen Manipulationen, die er oben für mich ausgeführt hatte, bis auch er die gefährliche Operation glücklich überstanden und neben mir das Wasser des Grabens erreicht hatte. Während dieser ganzen Zeit konnte die Schildwache keine dreißig Fuß von uns entfernt sein. Da es nicht regnete, patrouillirte sie auf dem Wallgange hin und her, und so war es uns nicht möglich, über den Wall hinweg den Weg nach dem Garten des Gouverneurs einzuschlagen, wie unser ursprünglicher Plan lautete. Wir mußten somit von unseren Eisenstangen Gebrauch machen. Ich nahm den Zwickbohrer zur Hand und einen der Stäbe auf die Schulter. Mein Gefährte belud sich mit dem andern. Die Branntweinflasche hatte ich auch nicht vergessen, und so ging es direct auf den Theil des Wassers los, welcher den Bastillegraben von dem am Thore Saint Antoine scheidet, zwischen dem Garten und der Wohnung des Gouverneurs. Das Wasser stand darin sehr hoch, es ging uns bis unter die Arme.

Als ich eben meinen Bohrer zwischen zwei Steine angesetzt hatte, kam eine Patrouille herangeschritten mit einer großen Laterne auf langer Stange, etwa zehn bis zwölf Fuß über unsern Köpfen. Um uns zu verbergen, mußten wir uns noch tiefer in’s Wasser hinabducken. Indeß auch diese Gefahr ging glücklich vorüber. Unsere Bohrarbeit begann, und bald war ein gewaltiger Stein aus dem Walle herausgegraben.

‚Land! Land!‘ jubelte ich d’Alègre zu, denn nun hegte ich keinen Zweifel mehr am Gelingen unserer Flucht. Wir feierten diesen Moment durch einen Trunk aus unserer Schnapsflasche, dann fiel der zweite und der dritte Stein! Die zweite Runde marschirte über uns dahin: von Neuem tauchten wir in das Schlammwasser hinab. Und dies Manöver hatten wir alle halbe Stunden zu vollführen! Bis gegen Mitternacht lag ein Haufen Steine vor uns, der einen Handkarren gefüllt haben würde.“

Einmal kam die Schildwache so nahe heran, daß sie La Tude auf den Kopf spuckte. Schon bildete er sich ein, sie seien gesehen worden, aber der Soldat ging ruhig weiter. Von einer neuen Brandweindosis gestärkt, brachen sie mit gehobenen Kräften Stein um Stein aus der Wallmauer heraus, bis die Bresche weit genug war, ihnen Durchlaß zu gewähren. Wenn man erfährt, daß die Stärke der Mauer vier und einen halben Fuß ausmachte, so wird man ermessen können, welches fast fabelhafte Werk die beiden Männer in der kurzen Zeitspanne einer Nacht zu Stande brachten. Während La Tude den Koffer herbeiholte, kroch d’Alègre durch den ausgebrochenen Gang in’s Freie hinaus. Mit welcher Freude legten sie endlich ihre frischen Kleider an! Sie waren ja auferstanden aus ihrem Grabe!

Aber noch drohten ihnen Gefahren in Hülle und Fülle. Sechszig Schritte vom Graben, auf dem Wege nach Bercey, geriethen die Beiden mit ihrem schweren Koffer in der Dunkelheit in das tiefe Bett einer Wasserleitung. Im ersten Schrecken ließ d’Alègre den Koffer fallen und klammerte sich an La Tude an, welcher nur mit knapper Noth seinen Freund und sich aus dem Wasser emporzog. Endlich standen sie wieder auf festem Boden. Es schlug endlich vier Uhr Morgens. Voller Rührung umarmten sie sich, dann sanken sie auf die Kniee nieder und dankten Gott für ihre Rettung. Der erste Miethwagen, dem sie begegneten, ward angehalten. Ohne viel Umstände sprangen sie hinein und ließen sich nach dem Kloster St. Germain des Prés fahren, wo sie ihre nächste Zuflucht fanden. Als Bauern verkleidet, schlugen sie einen Monat später, auf verschiedenen Wegen, die Route nach der Grenze ein. Sie erreichten das Ausland, aber d’Alègre ward in Brüssel, La Tude in Amsterdam wieder ergriffen.

Zum zweiten Male der Bastille überwiesen, wurde der Letztere, an Händen und Füßen gefesselt, in einen unterirdischen Kerker geworfen. Indeß auch jetzt verließ ihn die Hoffnung nicht. Im Jahre 1762 schrieb er an die Marquise von Pompadour: „Ich leide nun schon vierzehn Jahre, haben Sie endlich Erbarmen, denken Sie an das Blut unseres Heilands, seien Sie ein Weib, Madame, fühlen Sie Mitleid mit meinen Thränen und mit denen einer alten siebenzigjährigen Mutter!“

Die ruchlose Buhlerin hatte kein Mitleid. Grausam wandte sie ihr Antlitz von dem Unglücklichen ab, um ihren Freuden nachzugehen. La Tude ließ sich durch dies Alles nicht beugen. Sein erfinderischer Kopf sann fort und fort auf Mittel zu seiner Befreiung. Durch die Freundlichkeit des Gefängnißgeistlichen im Stillen mit Papier, mit Tinte und Feder versorgt, schrieb er auf kleine Zettel, welche er durch die Gitter seines Kerkers nach einem Hause in der Straße Saint Antoine fliegen ließ. In demselben wohnten ein paar alte Damen, denen das Schicksal des Armen zu Herzen ging. Eines Morgens, es war im April des Jahres 1764, sah La Tude am Fenster dieser Damen ein Stück Papier angeheftet, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand:

„Gestern, am 17., ist Frau v. Pompadour gestorben.“

Auf der Stelle wandte sich La Tude an den Minister und bat um seine endliche Freilassung. Der Minister wollte wissen, auf welchem Wege der Gefangene die Kunde vom Tode der Allmächtigen erhalten habe. La Tude verweigerte jedwede Auskunft. Man versenkte ihn denn wiederum in ein unterirdisches Verließ und transportirte ihn im August in Ketten nach Vincennes. Ein Jahr darauf, an einem sehr nebeligen Tage, stieß La Tude, während er auf dem Walle promenirte, die Schildwache bei Seite, entwaffnete seine Wächter und entsprang. Er wurde wieder festgenommen und in ein schauderhaftes Gefängniß gesteckt. Nach der Thronbesteigung Ludwig’s des Sechszehnten interessirte sich der edle Malesherbes für den Gefangenen. Man erklärte ihn für wahnsinnig und schickte ihn nach Charenton. Nach zwei Jahren wurde er aus dem Irrenhause entlassen und ihm die Freiheit gegeben unter der Bedingung, daß er Paris nicht wieder betrete.

La Tude war so thöricht, diese Bedingung außer Acht zu lassen. Man nahm ihn abermals fest und sperrte ihn endlich in einem Käfig in Bicêtre ein. Erst 1784 erhielt der unglückliche Dulder, auf die rastlose Verwendung einer hochherzigen Frau, einer Madame Le Gros, seine Freiheit factisch wieder und zugleich eine kleine Pension. Nach der Zerstörung der Bastille wurde La Tude der Löwe des Tages. Sein Name glänzte fast in allen patriotischen Reden. Mit seinem Bildnisse wurden seine Leitern und Werkzeuge im Louvre öffentlich ausgestellt. Die Nationalversammlung bewilligte ihm ein Jahrgeld von dreitausend Franken; zugleich wurden die Erben der Marquise v. Pompadour verurtheilt, ihm eine Entschädigung von sechzigtausend Livres zu zahlen. Von diesen Summen empfing La Tude jedoch nur zehntausend Franken. Er schrieb seine Memoiren, denen unser Buch seine Angaben entlehnt, und starb, verschollen und vergessen, erst 1805 als ein Greis von achtzig Jahren, trotz aller der unsagbaren Leiden, die er in seinen vielen Kerkern erduldet hatte.

„Fünfunddreißig Jahre meines Lebens,“ heißt es in seinen Denkwürdigkeiten, „habe ich im Gefängnisse verseufzt, zwölftausenddreiundsechszig Tage in verschiedenen Kerkern schmachten müssen. Während dieser endlos langen Tage lag ich ohne Hülle auf Stroh, von ekelhaftem Gewürm gequält und auf ein winziges Quantum von Brod und Wasser reducirt. Dreitausendsiebenundsechzig Tage stak ich in feuchten, stinkenden Verließen und zwölfhundertachtzehn dieser gräßlichen Tage und noch gräßlicheren Nächte scheuerten Ketten meine Hände und Füße wund. Ein solches Uebermaß von Pein, wäre das nicht zu viel selbst für den abscheulichsten der Verbrecher? Und ich hatte nichts begangen als einen unbesonnenen Jugendstreich!“

Wenn man dergleichen Leidensgeschichten liest, wie könnte man da noch zweifeln, daß das Volk Grund hatte zu seiner Revolution und daß alle Gräuel derselben noch lange nicht die Unthaten des Absolutismus aufwogen? Daß die Bastille das erste Opfer der Volkswuth wurde, wer fände das nicht begreiflich?

H. Sch.