Eine Freistatt des wahren Menschenthums

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: A. Douai
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine Freistatt des wahren Menschenthums
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 363–366
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Boston, Hauptstadt von Massachusetts
Amerikanisches Charakterbild
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[363]
Eine Freistatt des wahren Menschenthums.
Amerikanisches Charakterbild.
Von A. Douai.


Wenn der Lebemann ausruft: „Ubi bene, ibi patria!“ (wo mir’s wohlgeht, da ist mein Vaterland); wenn der gelehrte Alterthumsforscher und der begeisterte Kunstliebhaber Rom und Athen über alle Städte des Erdenrundes stellen; wenn bald Paris, bald Berlin, bald London, bald Leipzig, bald Wien, München oder Florenz als Sammelpunkte der höchsten Intelligenz und des concentrirtesten Lebensgenusses gepriesen werden: so ist von allen Städten der Welt Boston in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die einzige, wo der freie Mann sich am wohlsten, d. h. als vollkommen freier Mann, fühlen kann.

Boston ist in seiner Art einzig in der Welt. Es mit einer der obengenannten Städte vergleichen zu wollen, wäre unpassend, fast lächerlich. Zwar an Schönheit der Lage wird es von wenigen gleich großen oder größeren Städten erreicht oder übertroffen. Die eigentliche Stadt auf drei Hügeln einer Halbinsel, die nur durch einen langen schmalen Nacken mit dem Festlande zusammenhängt, hingestreckt und durch schmale Meeresarme beiderseits von zwei andern ganz ähnlich gebildeten Halbinseln mit hohen Hügeln getrennt, auf denen die Vorstädte South Boston und Charlestown malerisch hingegossen sind, während den Hintergrund des Festlandes die Städte Roxbury und Cambridge bilden, welche mit ihren Anhängseln von Städtchen meilenweit in die saftig grünen Hügelreihen der Bai von Massachusetts hinauf- und hineinschneiden – bietet der Ueberblick dieses Ganzen von jedem hohen Punkte der Gegend aus ein reizendes Gemälde. Aber dann kommt sogleich der oft trübe, nordische Himmel, das Klima, das an Rauhheit mit dem von St. Petersburg wetteifert, mit seinen Nebeln, schneidenden Nordwinden, die auf der eintausendsiebenhundert englische Meilen weiten Reise vom äußersten Labrador her alles Gift der Kälte in sich aufgesogen zu haben scheinen, mit seinen unglaublich schroffen Witterungsübergängen, die oft im Laufe eines Tages dreißig Grad Réaumur betragen, mit seinen schweren Gewittern und Regengüssen, welche nie dem von langer Trockenheit und Hitze erschöpften Körper Labung und frische Kühle bringen – kurz dieses abscheuliche Klima, das alle Wettergegensätze in sich vereinigt und hintereinander herjagt, hält von vorn herein jeden Versuch einer Zusammenstellung Bostons mit Rom oder Neapel oder Paris zurück. Außerdem fehlt natürlich in einer so neuen Stadt jene großartige Anhäufung herrlicher Kunstbauten, Gemälde- und Bildsäulensammlungen, vorzüglicher Schaubühnen und musikalischer Kräfte, endlich der reizenden Vergnügungsorte, welche die Hauptstädte und Culturmittelpunkte Europas auszeichnen und anziehend machen. Das Alles ist hier erst im Keime vorhanden, ja theilweise in der Caricatur.

In diesem Sinne nannte einer der edelsten und geistreichsten Bürger Bostons selber, der viel zu früh verstorbene George Sumner, des Senators ebenso ausgezeichneter Bruder, seine Vaterstadt „ein großes Dorf“. Er hatte an zehn Jahre in Europa gelebt und alles Große und Schöne, das es bietet, kennen gelernt und gewürdigt, wie wenige Angloamerikaner. Dennoch liebte er die Stadt, wie es alle gebildeten Bostoner thun, mit wahrhafter Zärtlichkeit.

In seiner äußeren Erscheinung gleicht Boston mehr als alle Städte Amerikas einer europäischen Stadt, natürlich zumeist einer von Altengland; im Bau seiner Häuser, in der Krümme seiner Straßen älteren Ursprungs, in der Dichtigkeit des Zusammenwohnens seiner Bevölkerung, in der sorgfältigen Polizei (es ist die einzige Großstadt der neuen Welt mit einer wirklich guten Polizei), in einer gewissen Spießbürgerlichkeit mancher von seinen eingeborenen Familien, kurz, in allen mehr äußerlichen Zügen trägt es ein ganz europäisches Gepräge und kommt vielleicht Edinburgh am Nächsten. Aber da hört auch alle Aehnlichkeit auf; in jeder anderen Hinsicht ist es unvergleichlich, einzig, eine vollkommene Ausnahme, zuerst darin, daß es hier keine Hütten giebt. Wer das wohlthuende Gefühl noch nie erlebt hat, sich in einer bitterlich kalten Winternacht mit dem Gedanken zu Bett legen zu können: „im ganzen Bereiche dieser Stadt von zweihunderttausend Einwohnern, ja im ganzen Bereiche des Staates, dessen Hauptstadt sie ist (Massachusetts, mit einer und einer Viertel Million Einwohner), braucht heute und das ganze Jahr hindurch kein Mensch zu frieren, zu hungern, oder irgendwie unverschuldete Noth zu leiden; es ist für Alle ausreichend und väterlich gesorgt“ – wer dieses himmlische Gefühl noch nie empfunden, der komme nach Boston; da kann er sich demselben ohne Selbsttäuschung ganz hingeben. Und wie ist da gesorgt für die im Kriege Aller gegen Alle zu kurz Kommenden! Nicht nach Art der hochmüthigen englischen Zwangs-Armenhäuser, nicht mit vornehm-kalter Hinwerfung von Almosen. Nein, die Gemeinde und die Bevölkerung erkennt sich als solidarisch verbindlich an, die Krebsschäden der bürgerlichen Gesellschaft gründlich zu heilen, die Quellen des Pauperismus, der Unsittlichkeit und des Verbrechens zu verstopfen und die allgemeine Bruderliebe zur Wahrheit zu machen. Jeder Bezirk der Stadt und des Landes hat seinen freiwilligen Armenpflege-Verein, aus den angesehensten und lebensklügsten Männern und Frauen bestehend, welcher unter seine Mitglieder die Aufgabe vertheilt, jedes Haus regelmäßig zu besuchen, die Bedürfnisse der Nothleidenden und wie ihnen am Gründlichsten abgeholfen werden kann, zu ermitteln und diese Abhülfe als einen der Menschheit schuldigen Zoll darzubringen. Der reiche Wohlthätige weiß, wem er seine Spenden einschicken muß, um sie an den rechten Bedürftigen zu bringen. Alle Bettelei (die überhaupt in Amerika nur an äußerst wenigen Plätzen vorkommt) ist von selbst dadurch verhütet, daß der Arbeitskraft Arbeitsnachweis, der Rathlosigkeit guter Rath, der Entbehrung die in jedem Falle passendste Wohlthat zuertheilt wird, wobei die moralische Einwirkung auf zu erzielende Selbstständigkeit, die moralische Hebung die Hauptsache bleibt. Keine unverschuldete Armuth mehr! Keine Bettelei mehr! Kein Verbrechen aus Noth mehr! Das sind echte Bostoner Wahrsprüche, die noch dazu im Stillen, ohne daß die Linke weiß, was die Rechte thut, geübt werden. Hier ist zum ersten Male in der Geschichte das Räthsel längst praktisch gelöst, wie man der verschämten Armuth hilft, die unverschämte beseitigt, wie man von jedem Saatkorn tausendfältige Frucht reift, wie man das Verbrechen mehr und mehr abschafft. Und nun, wenn es noch eine zweite solche Großstadt in der Welt giebt, oder noch ein zweites solches Land wie Massachusetts, so nenne man es!

Im Punkte der praktischen Nächstenliebe geschieht hier Unvergleichliches. Die Zartheit beim Wohlthun, die Weisheit in der Vertheilung der Aufgabe, wie dem Nächsten aufzuhelfen sei, endlich der Erfindungsgeist und die Wärme der Empfindung, mit welchen der Aufgabe Genüge geleistet wird, spotten aller Schilderung. Wir kannten unter Vielen ähnlichen Geistes einen Mann – warum seinen Namen vorenthalten? es ist Dr. Sam. G. Howe, der Stifter des ersten Blinden-, des ersten Taubstummen-, des ersten Blödsinnigen-Instituts und der Mitbegründer aller übrigen in Amerika, ein Mann, dessen ganzes Leben dem uneigennützigen Wohlthun, der Hebung der Menschheit gewidmet ist – ihn hatte eine Anzahl der reichsten Bostoner zu ihrem Großalmosenier ausersehen, ihm entweder große Summen zur Verfügung gestellt, oder Anweisungen auf ihre Beutel gestattet, weil er am weisesten die richtige Abhülfe für die Noth besonders interessanter Bedürftiger wußte. An ihn wandten sich oder wurden gewiesen die armen Erfinder, welche keine Mittel zur Verwirklichung ihrer Erfindungen, die verdienstvollen Gelehrten und Künstler, die keine Unterhaltungsquelle, die Philanthropen, die keinen Wirkungskreis hatten, kurz alle jene Männer und Frauen, welche Hülfe brauchten, um der Menschheit Dienste zu leisten. Und er wußte für Jeden Rath und Hülfe. Er verstand meisterhaft, mit den Mitteln Haus zu halten, irrende Geister auf den rechten Weg zu weisen, das Einzelne und Besondere dem Allgemeinen dienstbar zu machen, indeß er der Privatnoth abhalf. In allen philanthropischen Bestrebungen Amerikas war er tief interessirt, wie z. B. in der Antisclavereisache, am John Brown-Aufstande, in der Sanitäts-Commission. Sein Haus war und ist der Sammelpunkt der höchsten Intelligenzen und der interessantesten Menschen der neuen Welt; ihn segnen viele, viele Tausende. Dieses eine Beispiel von vielen genüge zur Andeutung des Geistes, der die Bostoner zum Abhub der Menschen macht.

[364]

Ansicht von Boston.
Nach der Natur aufgenommen

[366] Das ist aber nicht Alles, was sie auszeichnet. Boston ist eben der Repräsentant des Besten, was die neue Welt will, kann und übt. Keine Stadt der Welt hat so viel für Volksbildung, für Erziehung im Allgemeinen, für Schulen und Lehrer, für alle Bildungsmittel und Veredlungszwecke gethan, wie Boston. Auf jedes Schulkind der Stadt werden jährlich im Durchschnitt fast zwanzig Dollars Schulgeld aus öffentlichen Mitteln hergegeben, ganz ungerechnet die Summen, welche aus Privatbeuteln fließen. Die Schulhäuser sind Paläste, die Lehrergehalte sind höchst anständig, die Fürsorge für stete Hebung des Schulwesen ist über die weitesten Kreise verbreitet. Jeder Bostoner betrachtet die Schulen als die besten Versicherungsanstalten für den Himmel, wie gegen alles Unglück der Erde. Der Handwerker mit siebenhundert bis tausend Dollars Jahreseinkommen verwendet davon mindestens zwei- bis dreihundert Dollars auf die möglichst gute Schulung seiner Kinder, auf gute Bücher, Zeitungen, Vorlesungen und dergleichen mehr. Kein wohlhabender Mann stirbt, ohne ein verhältnißmäßig bedeutendes Legat für Erziehungsanstalten auszusetzen. Unterzeichnungslisten für alle Bildungszwecke ergeben immer mehr, als den dringendsten Bedarf. Aber mehr noch als diese alle Angloamerikaner auszeichnende Freigebigkeit wirkt die rege Selbstbetheiligung eines Jeden am allgemeinen Geistesfortschritt, das thätige, ermuthigende Beispiel der Werthschätzung geistiger Güter. Die Folgen sind unabsehbar. Boston hat, obwohl erst zweihundert vierunddreißig Jahre alt, vielleicht schon mehr bedeutende Männer und Frauen hervorgebracht, als irgend eine andere Stadt der modernen Welt. Nennen wir nur einige der hervorragendsten, wie Charles und George Sumner, Dr. Howe, Geo. Andrews, Theodor Parker, Lloyd Garrison, Wendell Philipps, Richard H. Dana, Edw. Everett, Ralph Waldo Emerson, James Russell Lowell, Oliver W. Holmes, George Ticknor, Horace Mann, blos unter den Männern dieses Jahrhunderts! Dieses Boston steckt gestopft voll Genies und Talenten höchsten Ranges, und da stets eine Hälfte seines jungen Nachwuchses auswandert, so streut es reichen Samen der Humanität über alle Gauen dieses Festlandes aus.

Die Hauptsache dabei ist aber doch immer wieder die Bildung der Massen. In Boston ist sie gleichmäßiger über alle Schichten der Bevölkerung verbreitet, als irgendwo – immer natürlich die eingewanderten Irländer und einige andere europäische Nationalitäten (besonders Belgier und Franzosen) ausgenommen – und auch diese erscheinen auf verhältnißmäßig gehobenem Standpunkte. Hier ist ein anderes sociales Problem der Gegenwart gelöst, an welchem Europa so schwer und convulsivisch arbeitet: der Pöbel ist abgeschafft.

Aber nicht minder ist die Aristokratie abgeschafft und das Menschenrecht sans phrase verwirklicht. Der reichste Bostoner hat wenigstens begriffen, daß er der Gesellschaft die Möglichkeit seines Reichthums verdankt, der vornehmste und bildungsstolzeste, daß er der Gesellschaft Capital und Zinseszins seiner Bildung und Bildungsgenüsse schuldet. Deshalb denn das merkwürdige Schauspiel, daß das aristokratische Stadtviertel Bostons, die Straßen, wo die Millionäre hausen, von jenen Straßen durchschnitten wird, wo die aus der Sclaverei entronnenen Neger zu Tausenden beisammen wohnen. Es ist wahr, diese Bostoner Nabobs haben aus Todesangst vor dem Verlust ihres Handels mit dem sclavenhaltenden Süden in den fünfziger Jahren ostentatiös die Auslieferung der flüchtigen Sclaven Anthony Burns, und Anthony Sims betrieben und durchgesetzt. Aber gleichzeitig beherbergten sie oder duldeten in ihrer nächsten Nachbarschaft Hunderte flüchtiger Sclaven, die hier wie in Abraham’s Schooße weilten. Und als der Unionskrieg ausbrach, strömten ihre Söhne schaarenweis zur Unionsfahne und gaben sich Sprößlinge der vornehmsten Familien dazu her, in den zuerst gebildeten Neger-Regimentern als Unter- und Oberofficiere zu dienen, ihre Töchter, um die Spitäler der Union mit freiwilligen Wärterinnen, die freigewordenen Sclaven mit Lehrerinnen zu versorgen.

Die Extreme berühren sich. Kein Wunder, daß in Boston dicht neben dem schlimmsten puritanischen Fanatismus, an welchem überhaupt ganz Neu-England krankt, der moderne religiöse Freisinn sich eingebürgert hat; daß dort der Knownothingismus entstanden ist, aber auch zugleich die aufrichtigste Werthschätzung deutscher Kunst und Wissenschaft. Beim Schillerfeste 1859 bestand die Zuhörerschaft von nahe viertausend Personen zu drei Viertheilen aus Yankees, welche den deutschen Reden des Abends mit vollem Verständniß zu folgen vermochten, und deutsche Bücher und Kunstwerke finden in Boston einen ausgezeichneten Markt.

Kurz, dieses Boston, diese Freistatt des wahren Menschenthums, diese erste Stadt der Welt an ideeellem Werthe, ist glücklicherweise – keine Erfindung, sondern eine Wirklichkeit, eine überraschende Entdeckung!

Wie stattlich und zugleich reizend Boston sich dem Auge darstellt, zeigt unser Bild, das indeß nur einen Theil der über drei Hügel verstreuten Stadt wiedergiebt. Wie ihre Lage überaus malerisch und prachtvoll, so ist sie nicht minder in mercantilischer Beziehung vortrefflich: sie hat Boston zum zweiten Seehandelsplatze der amerikanischen Union gemacht. In dessen befestigtem weitem und tiefem Hafen können fünfhundert große Schiffe bequem sich bergen, während jahraus, jahrein Tausende von Fahrzeugen aus und nach allen Meeren ein- und auslaufen. Als eine Specialität des Bostoner Verkehrs sei der große Eishandel erwähnt, welchen es namentlich mit Ostindien betreibt. Allein nach Calcutta gingen durch Bostons Vermittelung im Jahre 1856 über zwölftausend Tonnen nordamerikanischen Eises.

In der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts von englischen Einwanderern gegründet, zählt es heute über 140,000 Einwohner, mit den Orten seiner unmittelbaren Nachbarschaft, die zur Stadt gezählt werden müssen, an 200,000, von denen ziemlich die Hälfte Fremde sind. Daß Boston gewissermaßen die Wiege der amerikanischen Freiheit ist, wissen unsere Leser. Hier, in Bunkershill, das jetzt im Weichbilde der Stadt selbst liegt, wurde die erste Schlacht im großen Unabhängigkeitskriege geschlagen, hier auch einer der größten Söhne Amerikas, Benjamin Franklin, geboren.