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Eine Geschmacksfrage

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Bn.
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Titel: Eine Geschmacksfrage
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 291, 292
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[291] Eine Geschmacksfrage. Nach den Formen vergangener Jahrzehnte greift die Mode heute unbedenklich zurück, und niemand wundert sich darüber, in einem und demselben Kreis Direktoireklappen, Bauschärmel von 1830, Paletots mit Faltenschößen, wie man sie im Jahr Achtundvierzig trug, und die viereckigen Ausschnitte der fünfziger Jahre zu sehen. Warum auch nicht? Was gut steht, ist lebensberechtigt, und manche altmodische Form entfaltet heute ganz ungeahnte Vorzüge an ihren jungen Trägerinnen. Mit den Farben jedoch ist es eine andere Sache, da hat das wahllose Zurückgreifen auf gut Glück seine großen Bedenken. Freilich: mit der Farbenskala von 1830 bis 1850 wäre auch unseren jungen Balldamen wenig gedient, sie würden vermutlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wollte man ihnen zumuten, mit dem armseligen Vergißmeinnichtblau, dem blassen und dem harten Rosa auszukommen, welche im Verein mit einem sehr effektvollen Giftgrün und scharfen Schwefelgelb das ganze Farbenbouquet eines Honoratiorenballs von 1854 ausmachten. Man kann es sich heute wirklich kaum mehr vorstellen, daß die Menschen je solche Farben trugen! .. Zunächst wurden sie allerdings noch schlimmer bedacht, denn nach 1856 tauchten die den Fortschritten der Chemie entsprossenen Anilinfarben auf, Rot, Blau, Violett von einer solchen ungebrochenen Leuchtkraft, daß sie alles ringsum „totschlugen“: Zimmereinrichtung und Tapeten, ja, sogar das eigene Gesicht ihrer Trägerin. Ein berühmter Portraitmaler sagte damals, als man ihm die unzweifelhaft „herrliche Farbe“ eines solchen knallvioletten Kleides pries: „Ja, die Farbe ist wunderschön, ’s ist nur schade, daß oberhalb des Stoffes noch ein Gesicht kommt!“

Sie standen in der That fürchterlich schlecht, diese von der Mode mit so viel Hallo in die Welt gesetzten Leuchtfarben, und es gehörte der ganze harmlose Ungeschmack der Krinolinezeit dazu, um die roterübenfarbigen [292] Solferinoblusen und die ultramarinblauen Seidenkleider mit dem Bewußtsein höchster Besonderheit zu tragen.

Dann kam mit den siebziger Jahren der große Umschwung, die „Wiederbelebung der Renaissance“ mit ihren tiefen Purpurtönen, mit dem tausendfach gebrochenen Olivengrün und dem wundervollen Altgold, es kam die Kenntnis der japanischen Farbenharmonien, und nun entstanden unter Mitwirkung der großen Künstler Zusammenstimmungen von Tönen, wie sie reizvoller nicht gedacht werden können. Man legte Gewerbemuseen an mit den schönsten abend- und morgenländischen Vorbildern, um die neue Wissenschaft der Farbenwirkung zum Gemeingut zu machen, die Musterzeichner sollten sich dort immer wieder Anregung zu neuen Gedanken holen – ein Rückfall in rohe Geschmacklosigkeit schien hiermit für immer unmöglich gemacht, und in den letzten 2 Jahrzehnten hatte die Frauenwelt Farben zur Verfügung wie in keinem früheren Zeitalter. Und heute? .… Seit vorigem Herbst hängen wieder als Neuestes und Feinstes in den Fenstern der Modemagazine die alten schreienden Farben, Solferinorot, Magentarot, Knallblau und -violett, entsetzliche Gespenster, vor deren Anblick einem völlig grausen kann! Und wer sich heute da hineinkleidet, der hat nicht die Entschuldigung der Unwissenheit wie die Krinolinedamen von 1860. Welche Nuancenfülle bieten zudem nicht heutzutage gerade die Anilinfarben unserer fortgeschrittenen chemischen Industrie dem wählenden Geschmack! Man fragt sich bei solchem Anblick: Soll denn wirklich alle Geschmacksverfeinerung der letzten 20 Jahre umsonst gewesen sein, soll in Ewigkeit das schönste Alte dem elendesten Neuen weichen müssen, einzig weil dieses eben neu ist und die Mode es so will?

Nun, ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Allerdings hängen auch in diesem Frühjahr die grellsten roten und blaue Stoffe aus, aber andere in gebrochenen Farben daneben, und trotz des Anpreisens der Verkäufer sieht man die ersteren nur vereinzelt in Gesellschaft und auf der Straße erscheinen. Offenbar giebt es in Deutschland noch recht, recht viele Mädchen und Frauen von selbständigem Geschmack, die ihr Kleid nach dem Gesicht wählen und, wenigstens eine Zeit lang, dem häßlichen Neuen zu widerstehen vermögen. Ihre Zahl zu vermehren, ist der Zweck dieser Zeilen. Noch eine Saison Enthaltsamkeit, und die Gefahr ist vorüber, die schreienden Farben gehören zu den „Abgelehnten“ und verschwinden wieder, wie vor einigen Jahren erst das Empirekleid und dann der neu versuchte Reifrock in der Stille verschwunden sind.

Mag nach der Zeit der „verschossenen“ Farben wieder eine farbenfreudig kräftige kommen – wohl und gut! Aber die erste Frage bei der Entscheidung darüber muß bleiben: Was steht und was steht nicht? Und die deutsche Frauenwelt besitzt jetzt ästhetische Bildung genug, um hierauf die Antwort selbst zu finden! Bn.