Eine Präsidentenwahl
Wir stehen mitten in einem Präsidentschaftswahlkampfe. Ja wohl, ein Kampf ist’s, und ein „Feldzug“ wird es nicht unpassend genannt, dieses Ringen zweier großen Parteien um die Stimmenmehrheit, und trotz aller Mängel des hiesigen Parteilebens ist es obendrein ein großartiger Kampf. Es wird in jedem dieser aller vier Jahre wiederkehrenden Präsidentschafts-Wahlkämpfe ein Stück Weltgeschichte fertig, ein größeres Stück, als im Mittelalter in einem Jahrhundert zurückgelegt wurde, und indem sich jeder Mensch im Lande – höchstens die Kinder in der Mege ausgenommen – irgendwie an diesem weltgeschichtlichen Thun betheiligt und obendrein sich bewußt ist, daß die Augen aller denkenden Zeitgenossen sämmtlicher Erdtheile auf dasselbe gerichtet sind, bekommt diese Wahlbewegung ein ungemein aufgeregtes Ansehen.
Um diese Zeit erkennt man das amerikanische Volk kaum wieder. Seine sonstige Kühle und Gleichgültigkeit weichen einer fast fieberhaften Unruhe, seine sonst nur passive, ruhig zusehende Betheiligung an der Politik seines Landes einer selbstthätigen und lauten. Man kann kaum zwei Menschen beisammen sehen, ohne sie zugleich von der Wahl, den Wahlbewerbern, ihren Glaubensbekenntnissen und Aussichten reden, wenn nicht etwa gar sich streiten zu hören. Jeder stimmberechtigte Bürger (und selbst solche, die es nicht sind) wird zum Propagandisten seinen Parteistandpunktes, die Frauen und Kinder werden davon mit angesteckt, und so verschlingt auf ein paar Monate die Politik fast jedes andere allgemeine Interesse. Kein anderer Volkscharakter hat so wenig Anlage dazu, sich für irgend etwas zu begeistern, als der anglo-amerikanische, und dennoch macht sich während einer Präsidentenwahl etwas bemerklich, welches der Begeisterung sehr ähnlich sieht. Man arbeitet sich künstlich in eine tiefe Ergriffenheit für die Landesangelegenheiten der Gegenwart hinein und bringt dafür Opfer an Zeit, Geld und Gesundheit, welche andere Nationalitäten nur bringen, wenn sie wirklich begeistert sind. Stadt und Land bekommen in solchen Zeiten ein festliches Aussehen. Riesige Banner in den Landesfarben und mit Inschriften aller Art versehen hängen aus den obersten Fenstern einander gegenüberliegender Häuser über fast jede Straße herab; viele Privathäuser sind mit Flaggen geschmückt; hier und da werden wohl riesige Freiheitsbäume errichtet und mit Blumengehängen, den Landesfarben und der phrygischen Freiheitsmütze verziert; nicht selten durchziehen bei Tage, gewöhnlich aber fast jede Nacht, Aufzüge der Parteien die Straßen, Transparente mit allerlei Inschriften oder sinnbildliche Gegenstände tragend, von Musik oder Trommeln geführt, Hurrah für die Partei und ihre Candidaten schreiend, Feuerwerke abbrennend und zuletzt in Wahlversammlungen in Sälen oder unter freiem Himmel endend, bei denen oft drei, vier und mehr Redner sich hören lassen, so eindrucksvoll und kräftig wie möglich. Jede Partei hat in jedem Oertchen von einiger Größe, sowie in jedem Stadtviertel größerer Städte ihr „Hauptquartier“, [703] wo täglich die gewerbsmäßigen Politiker zusammenströmen, die übrigen Bürger wenigstens gelegentlich vorsprechen, um die Bedeutung der Tagesereignisse für die Parteiaussichten und die höchst erfinderischen Wahlmanöver zu berathen, durch welche jede Partei der andern Abbruch zu thun sucht. Die politischen Tagesblätter, welche in solchen Zeiten ihre Ernte halten, führen eine leidenschaftlichere Sprache als sonst; die Beweisführung zu Gunsten jeder Partei wird folglich fanatischer und sophistischer, und da um solche Zeit Jedermann mehr als gewöhnlich Politisches liest, so stecken sie das ganze Volk mit mehr oder weniger Sophismus und Fanatismus an. Jedermann redet so, als glaube er allen Ernstes, die Welt werde untergehen, oder mindestens die Freiheit und Bildung des Landes der Barbarei und Knechtschaft Platz machen, falls seine Partei in der bevorstehenden Wahl unterliegen müsse.
Bei einer so ernsten, allgemein ergriffenen Volksstimmung ist es kein Wunder, wenn dieses sonst so prosaische Volk einen poetischen Anstrich bekommt. Es regnet Gedichte politischen Inhalts, auf die Wahl bezüglich; es erscheinen eine Masse Caricaturen auf die Parteien und ihre Candidaten und werden begierig durchmustert: die Flaggen, Banner, bunten Laternen und Transparente sind oft sehr geschmackvoll und tragen mitunter sehr sinnreiche Kraft- und Wahlsprüche; die Redner – und es giebt deren alsdann viele Tausende – suchen allen möglichen Redeschmuck hervor und fließen über von Bildern und Gleichnissen, witzigen Anspielungen und schwunghaften Seitenhieben auf die Gegenpartei. In den Redepausen treten Sänger auf, welche politische Gedichte voller Witz und Laune, oder aber voll tragischen Ernstes solo recitiren, seltener im Chor singen, der jedoch wenigstens immer den Refrain vorträgt und wobei die ganze Volksmenge stürmisch mit einfällt. Das Alles steckt wie gesagt an; die Elektricität, welche große Volksmassen einander am Ende immer mittheilen, steigen bei jedem Einzelnen die Aufregung, welche dann wieder auf die Masse rückwirkt.
Einen schroffen Gegensatz zu dieser Zeit vor der Wahl bildet diejenige nach derselben. Die siegreiche Partei vermeidet in der Regel ein die andere verletzendes Frohlocken, die unterlegene fügt sich ganz ruhig der Entscheidung der Stimmenmehrheit und tröstet sich mit Hoffnungen auf zukünftige Wahlsiege. Eine allgemeine Abspannung ist eingetreten, und was ausgesehen hatte wie ein Weltgericht mit obligatem Weltuntergange, das erweist sich ebenso harmlos, wie ein Bühnenschauspiel: die gefallenen Helden stehen hinter dem Vorhange wieder auf und gehen nach Hause oder zu anderen Geschäften über. Nach der Wahl kann man Jedermann zugestehen hören, daß die im Parteikampfe gebrauchten Gründe doch beiderseits übertrieben, die benutzten Massen auch auf der eigenen Seite nicht immer die reinsten und edelsten waren; daß die Gegenpartei nicht ganz so schwarz ist, wie sie angestrichen wurde, und daß innerhalb der eigenen Partei bei weitem nicht Alles ist, wie es sein sollte.
So wenigstens war es immer bis zu dem verhängnißvollen Präsidentschafts-Wahlkampfe von 1860 gewesen. Damals wurde zuerst innerhalb der Union „vom Stimmkasten an den Protzkasten Berufung eingelegt“, und die noch wüthende Sonderbunds-Bewegung mit ihrem Ergebniß, dem blutigen Bürgerkriege, entstand. Damals machten die praktischsten aller Menschen und größten aller Erfinder, die Angloamerikaner, zum ersten Male die merkwürdige Entdeckung – welche allerdings andere gebildete Völker schon längst kannten – daß man in einem und demselben Bundesstaate wohl verschiedene Nationalitäten, Racen und Religionen, aber nicht verschiedene Culturzustände, nicht die Barbarei und die Civilisation, nicht die Sclaverei und die Freiheit vereinigen könnte. Bis dahin hatten allerdings die südlichen, auf Negersclaverei, Verthierung der armen Weißen und große Boden-Aristokratie begründeten, von normannischem Adelstolze strotzenden Staaten mit den nördlichen auf vollständigste Demokratie und freie Arbeit gebauten Freistaaten an demselben Strange gezogen; aber nur unter der Bedingung, daß die „schwarzen Barone“ des Südens die ganze Union beherrschen dürften, um das Wachsthum des Nordens beschränken, die Durchführung der Demokratie in alle Lebensgebiete hinein vereiteln, kurz die Union allmählich in eine über Sclaven und willenlose Pöbelmassen gebietende Oligarchie verwandeln zu können. Sobald es aber gewiß wurde, daß der Norden trotzdem an Bevölkerung, Reichthum, Macht und Bildung den Süden weit überholte, sobald der Norden auch einmal einen Präsidenten in seinem Sinne haben wollte: da spielten die schwarzen Barone nicht mehr mit; sie richteten ihren Sonderbund auf und trieben es absichtlich zum Blutvergießen, um die Brücke zur Versöhnung hinter sich abzubrechen.
Heute, vier Jahre später, ist ihr Versuch der Zerstörung der Union als gescheitert zu betrachten. Der Sonderbund und seine treibende Ursache, die Sclaverei, röcheln soeben beide ihre Seele aus. Die Zeit der Präsidentenwahl ist wieder da, und die schwarzen Barone, im Felde besiegt und außer Stande, ihre ganz erschöpfte Macht mit den Waffen zu behaupten, suchen sich durch ihre Mitverschworenen im Norden Luft zu schaffen, welche einen Präsidenten im Sinne der Sonderbündler wählen sollen. Mc. Clellan, der Candidat der „demokratischen“ Partei, der geheimen und offenen Bundesgenossen des rebellischen Südens im Norden, würde, wenn er zum Präsidenten gewählt wäre, darauf verpflichtet sein, mit dem fast besiegten Süden einen Waffenstillstand abzuschließen, unsere Heere zurückzurufen von ihrer Siegeslaufbahn und die Wiederherstellung der Union auf lediglich friedlichem Wege, also auch unter Fortbestand der Sclaverei, zu betreiben. Abraham Lincoln dagegen, der jetzige zur Wiederwahl aufgestellte Präsident, der Candidat der „republikanischen Unionspartei“, ist durch das Parteiprogramm (die „Platform“) zur vollständigen Niederwerfung des Sonderbundes und zur Zerstörung der Sclaverei verbunden.
So einfach nun, wie wir die Frage, um welche es sich bei dem jetzigen Wahlkampfe im Wesentlichen handelt, darstellen, erscheint sie freilich vielen Mitkämpfenden selber nicht, sondern sie wird durch Parteiauffassung vielfach entstellt und die Entscheidung durch viele Nebenfragen erschwert. Dem mit allen Fortschrittsbestrebungen sympathisirenden Europäer wird es schwer zu begreifen, wie es im freien Norden selbst eine große Partei geben könne, welche dem Süden Sieg wünscht, der die Demokratie auf den Tod bekämpft und die Sclaverei für den naturgemäßen und gottgewollten Zustand aller, nicht blos der schwarzen, Arbeiter erklärt. Allein der nördliche Flügel der „demokratischen“ Partei besteht weit überwiegend aus viehisch verdummten katholischen Irländern, aus den dümmsten Schichten der eingewanderten wie eingebornen Bevölkerung überhaupt. Es ist leicht für Demagogen, diese Massen zu mißleiten, da sie entweder gar nicht lesen können, oder doch nur Zeitungen und Flugschriften ihrer eigenen Partei lesen, die Versammlungen der Gegenpartei nicht besuchen, oder höchstens zu dem Zwecke, um sie durch wüstes Geschrei zu stören und zu vereiteln, und da sie fast soldatisch den Geboten der Parteiführer gehorchen. Es ist leicht, ihren Racenhaß und ihre Vorurtheile gegen die Neger, auf deren Befreiung es ankommt, durch die Verleumdung zur Siedehitze anzuflammen, daß die Schwarzen blos befreit werden sollen, um die weißen Arbeiter mehr und mehr zu versclaven. Der größte Blödsinn wird solchen Menschen glaublich, wenn er recht oft wiederholt wird, und im Entstellen, Lügen und Verleumden haben die „demokratischen“ Häuptlinge durch langjährige Uebung eine seltene Meisterschaft. Es ist endlich der größte Theil der katholischen Geistlichkeit mit ihrem tiefgehenden Einflusse lebhaft an der „demokratischen“ Partei interessirt, wie der weit überwiegende Theil der protestantischen an der Antisclavereipartei; auch sind solche rohe Massen der Bestechung nicht unzugänglich – und man vermuthet, daß im jetzigen Wahlkampfe Jefferson Davis, die englische Aristokratie, Louis Bonaparte und die Rothschilds große Summen zu solchem Behufe verwenden.
Die Aussicht ist, daß trotzdem Mc. Clellan geschlagen, Lincoln wiedererwählt wird. Es haben, da von den wiedereroberten Sclavenstaaten nur Maryland, Delaware, Westvirginien, Kentucky und Missouri stimmberechtigt sind, fünfundzwanzig von den sechsunddreißig Staaten abzustimmen, von denen alle für Lincoln sicher scheinen, außer New-Jersey, Kentucky, Indiana, Illinois und Missouri; selbst diese aber mögen noch für Lincoln gewonnen werden. Von den vierthalb Millionen Wählern dieser fünfundzwanzig Staaten werden allem Anscheine nach zwei Millionen und darüber für Lincoln’n Wiederwahl und nicht volle anderthalb Millionen für Mc. Clellan’s Präsidentschaft stimmen. Von den 231 Wahlmännem, welche von diesen Wählern zu wählen sind, um den Ausfall der Volkswahl festzustellen, werden höchst wahrscheinlich 178, ja vermuthlich nahezu alle Lincoln-Männer sein. Man würde aber sehr irren, wenn man glaubte, daß Lincoln wirklich der Mann der freien Wahl jener zwei Millionen sei; es wird der Wahrheit viel näher kommen, wenn man annimmt, daß nicht der vierte Theil derselben ihn zu ihrem Candidatcn ausersehen haben würde, wäre eine andere Wahl möglich gewesen. Sein Mangel an Bildung, seine übermäßige Bedächtigkeit, seine Abneigung gegen die radicalen Sclavereifeinde und deren Politik, seine Schwäche, die ihn zum Werkzeuge Anderer, besonders den Staatssecretair Seward macht, vor Allem aber die Rücksichtslosigkeit, mit welcher er seit Jahren auf seine Wiederwahl hinarbeitet und dafür dem Lande ganz unersetzliche Menschen- und Geldopfer auferlegt hat – dies entfremdete ihm frühzeitig gerade den gebildetsten und edelsten Theil seiner Partei, welcher daran dachte, entweder Fremont, oder den gewesenen Finanzsecretair Chase, oder den gescheidten General (früher Advocaten) Butler als Candidaten der Freiheitspartei aufzustellen. Noch Ende August waren die Aussichten Lincoln’s auf Wiederwahl entschieden ungünstig; seitdem haben die großen Siege Sherman’s bei Atlanta, Farragut’s bei Mobile und Sheridan’s im[WS 1] Shenandoahthale die fast verzweifelte Stimmung aller Patrioten sehr gehoben. Diese Siege, die begründete Hoffnung, daß der Krieg in der Hauptsache noch diesen Herbst zu Ende gehen werde, und ein fast romantisches Zusammentreffen verschiedener Lincoln günstiger Umstände und in seinem Interesse angesponnener Intriguen, deren Schilderung wir auf einen nächsten Artikel verschieben müssen, haben binnen wenigen Wochen einen Wahlsieg Lincoln’s am 8. November außer aller Frage gestellt.
Die Wiederwahl Lincoln’s bedeutet trotzdem nicht einen Sieg der Intrigue, der Corruption und des gouvernementalen Einflusses über den gesunden republikanischen Sinn des ihn wählenden Volkstheiles – nichts weniger als das; denn die große Masse der „Administrations“-Partei ist der sittlich und geistig ehrenwertheste Theil des Volkes. Sie ist blos ein Beweis der vollendeten politischen Klugheit des Angloamerikaners und eine glänzende Probe des großartigen Patriotismus, dessen dieser bessere Theil der Nation fähig ist.
Das Räthselhafte, das in diesen Aussprüchen liegen könnte, klären wir das nächste Mal auf.
New-York, 25. September 1864.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: in