Eine Zauberwurzel

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Textdaten
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Autor: Martin Beck
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Titel: Eine Zauberwurzel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 29–31
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Eine Zauberwurzel.
Kulturgeschichtliche Skizze von Martin Beck.
Mit Abbildungen nach Originalaufnahmen der k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien.[1]

In Südeuropa, in den Ländern am Mittelländischen Meere, da wächst eine sehr giftige, zu der Familie der „Nachtschatten“ gehörende Pflanze, eine Verwandte unserer Kartoffel. Sie hat zarte, glatte Blätter von bleichgrüner Farbe und mit starken Adern durchzogen. Ungefähr eine Hand breit, sind diese Blätter ziemlich groß und mit kurzer stumpfer Spitze versehen. Sie wachsen sehr dicht und breiten sich ohne merklichen Stengel am Boden aus. Aus den langstengligen blaßgelben Blüthen entwickeln sich starkriechende safranfarbige Kugelfrüchte, welche kleinen Aepfeln ähneln und mit weißen platten Samenkörnchen gefüllt sind.

Zwei Alraunwurzeln mit ihren Gewändern aus dem Besitze Kaiser Rudolphs II.

Die Pflanze heißt Mandragora und ist dieselbe, die im Mittelalter einen so geheimnißvollen Zauberkreis um sich geschaffen hat.

Das graue Alterthum wußte noch nichts von übernatürlichen Kräften der Mandragora. Die Römer kannten wohl die Pflanze, sie benutzten ihre Wurzel als schlafbringendes und schmerzstillendes Mittel. –

„Gieb Mandragora mir zu trinken,
Daß ich die große Kluft der Zeit durchschlafe,
Wo mein Antonius fern ist!“

läßt Shakespeare die ägyptische Kleopatra der Sklavin zurufen, und ein Schlaftrunkener mußte sich wohl die Bemerkung gefallen lassen: „Du schaust ja aus, als hättest du Mandragora getrunken!“ Auch in Liebestränke mischte man gern den Saft. Aber nichts hören wir von den Fabelgespinsten, die in späteren Zeiten die Mandragora umwoben! Natürlich machten die Kräutersucher und Wurzelgräber auch damals schon ihren Hokuspokus mit der begehrten Pflanze, um ihren Preis zu erhöhen, Uneingeweihte abzuschrecken und nöthigenfalls eine Ausrede zu haben, wenn ihr Mittel einmal nicht die versprochene Wirkung that. Es war eben dann irgend ein Versehen untergelaufen. Das geht heute so, das war so in Rom und war so in Griechenland, wo der aufgeklärte Philosoph Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, sich einmal darüber lustig machte. Noch der ältere Plinius, der dreihundert Jahre später seine Naturgeschichte schrieb, weiß nichts von den übernatürlichen Kräften, die in dem unscheinbaren, sonderbar verschlungenen Wurzelgebild schlummern sollten.

Aber doch schon zu seiner Zeit tauchen ersten Andeutungen auf.

„Glücksmännchen“ von Mariazell.

Ein etwas jüngerer Zeitgenosse des älteren Plinius war der Geschichtschreiber Flavius Josephus, der im ersten Jahrhundert n. Chr. zu Rom in griechischer Sprache und in römischem Sinne die Geschichte des jüdischen Volkes bis zur Zerstörung Jerusalems schrieb. Der weiß zu berichten von einer Zauberwurzel, die bei der Bergfestung Machaerus, östlich vom Toten Meere, heimisch war.

An der mitternächtlichen Seite, wo ein tiefer Schutzgraben um die Stadt lief, war ein Platz mit Namen „Baraas“. Dort wuchs die merkwürdige Pflanze, die denselben Namen führte. Feuerfarben war ihre Blüthe, und wenn man in der Dunkelheit auf sie zuging, so schimmerte sie wie der Blitz. Sie ließ sich aber nicht leicht ausgraben, sondern wich vor dem Ankömmling fortwährend zurück, bis dieser sie durch ein bestimmt vorgeschriebenes Mittel festbannte. Niemals aber durfte er sie berühren – es wäre sein Tod gewesen! Nur dann konnte er sie wegtragen, wenn er sie nicht unmittelbar mit der Hand anfaßte. Daneben aber gab es noch einen Weg, die lebensgefährliche Wurzel zu erlangen. Man mußte sie ganz und gar umgraben und nur ein kleines Ende von ihr im Erdreich stecken lassen. Daran band man einen Hund, der es, im Bestreben, seinem Herrn zu folgen, herauszog, aber augenblicklich daran sterben mußte. Er ist dem Tode verfallen an Stelle dessen, der die Wurzel ausgegraben hat, denn die Wurzel will ihr Opfer haben. Nunmehr kann man sie frei und gefahrlos berühren und mitnehmen. Giebt man sie einem Besessenen auch nur in die Hand, so müssen die bösen Geister alsbald von ihm weichen.

Das, was Josephus hier von der Wurzel „Baraas“ erzählt, deckt sich mit den Ceremonien, die man dann auch bei der Ausgrabung der Mandragora beobachtete. Aber erst aus dem Anfang des sechsten Jahrhunderts besitzen wir eine sichere Kunde, daß man die Mandragora als eine Zauberwurzel ansah, die unter so seltsamen Förmlichkeiten gegraben werden mußte. Damals wurde für die Kaisertochter Anicia eine schöne Abschrift der Werke des berühmten, ebenfalls im ersten Jahrhundert n. Chr. lebenden Botanikers Dioscorides hergestellt und, wie dies üblich war, mit [30] kunstvollen Miniaturen verziert. Auf einer Seite dieser Handschrift nun befand sich ein Bild, das den alten Gelehrten unter einer Säulenhalle auf goldener Kathedra im weißen Talare sitzend darstellte. Die „Heuresis“, die wissenschaftliche Forschung, überreichte ihm mit der einen Hand eine Mandragorapflanze, während sie mit der anderen Hand an einem Stricke den toten Hund hielt, der beim Ausziehen der Wurzel sein Leben verloren. Leider ist gerade dieses Blatt des sogenannten Codex Byzantinus eines der werthvollsten Schätze der Wiener Hofbibliothek, schon vor Jahren von einem verwegenen Liebhaber ausgerissen und durch eine flüchtige Kopie ersetzt worden; an Stelle der alten Miniatur sehen wir heute nur die roh gezeichnete Nachbildung jener Mandragorawurzel.

Zeichnung einer Mandragorapflanze in dem Codex Byzantinus der Wiener Hofbibliothek.

Im übrigen konnte sich der alte Dioscorides auch für jene ältere bildliche Darstellung schönstens bedanken. Er wußte nichts von dem Wunderkram, mit dem man die Mandragora umgab.

Worin aber lag nun das Geheimnißvolle, Uebernatürliche, das den sonderbaren Wurzelschößling zum Mittelpunkt einer abergläubischen Verehrung machte?

Mit einem Worte: man gab dem oft seltsam menschenähnlich gestalteten Wurzelstock auch menschliche Natur! Das ging so weit, daß man zwischen männlichen und weiblichen Mandragoren unterschied. Nicht etwa im botanischen Sinne, denn die Mandragora ist, wie die Mehrzahl der Blüthenpflanzen, eine Zwitterblüthe – sondern man faßte die stärkeren Exemplare der Gattung als männliche, die schwächeren als weibliche auf. So geschah es schon in einer noch etwas älteren Dioscorides-Handschrift, dem sogenannten Codex Neapolitanus, der sich ebenfalls auf der Wiener Hofbibliothek befindet. Hier sind zwei dieser Pflanzen mit Wurzeln, Blättern und Früchten abgebildet, von denen durch die griechische Unterschrift ausdrücklich die größere als männliche, die kleinere als weibliche Mandragora bezeichnet wird, während gleichzeitig die Umrisse der Wurzeln eine entsprechend unterschiedene Gestalt zeigen.

Abbildungen von Mandragorapflanzen in dem Codex Neapolitanus der Wiener Hofbibliothek.

Wohl zur Zeit der Völkerwanderung dringt nun die Sage von der Zauberwurzel und mit ihr sie selbst aus ihrer Mittelmeerheimat in die germanischen Länder ein. Man wandte sie hier zu denselben Arzneizwecken an wie jenseit der Alpen, man erzählte sich aber auch mit gläubigem Staunen von ihrer Wunderkraft.

„Alraun“ nannte sie der Deutsche, und wenn wir den Namen zu erklären versuchen, so gerathen wir auf die Bedeutung der „Alles raunenden“, der „Allwissenden“. Von einer sagenhaften germanischen Prophetin „Alruna“ wußte schon Tacitus zu berichten. Möglich aber auch, daß die Alraune sprachlich wie sachlich in Verwandtschaft stehen mit den „Alben“ oder „Elfen“, den Zwergen, Wichtelmännchen, Heinzelmännchen oder Heckemännchen des Volksglaubens. Wie diese, so entstammten auch die zauberkräftigen Wurzeln dem geheimnißvollen Reiche der Tiefe; mit ihren grobhaarigen Fasern, ihren Runzeln und ihrer oft recht seltsam gespaltenen Form glichen sie auch äußerlich jenen langbärtigen, greisenhaften Männchen, mit denen die geschäftige Phantasie des Volkes den Schoß der Erde bevölkerte.

Wie dem auch sei – der Besitz der Zauberwurzel galt als ein unschätzbares Gut. Sie brachte Glück und Reichthum dem, der sie im Hause hatte oder bei sich trug, wehrte Krankheit und alles Ueble von seiner Schwelle. Dafür war sie aber auch sehr selten! Angeblich wuchs sie nur unter dem Galgen – daher auch ihr Name „Galgenmännlein“ – und wenn man sie auszog, so schrie sie wie ein Kind. Wer sie gewinnen wollte, der mußte sich deshalb die Ohren verstopfen. Man trieb einen reinen Fetischdienst mit ihr, pflegte, kleidete und hütete sie wie ein geliebtes menschliches Wesen. Denn ihre Vernachlässigung brachte Unglück!

Kaiser Rudolph II. (1576 bis 1612), der bekanntlich eine lebhafte Neigung für alchimistische und astrologische Studien hatte, besaß zwei Alraune, die noch heute auf der kaiserlichen Hofbibliothek in Wien zu sehen sind. Sie haben rothseidene Hemdchen an und sollen ehemals in Särgen gelegen haben. Ihre Namen sind Marion und Thrudacias. Kopf, Rumpf und zerfaserte Glieder sind plump unterschieden ebenso Augen, ein häßlicher breiter Mund und eine plattgedrückte Nase im fratzenhaften Gesicht. Allmonatlich, im zunehmenden Monde, wurden die rauhhaarigen, zusammengeschrumpften Dinger gebadet. War dieses Bad einmal vergessen worden, so sollten sie wimmern und schreien wie kleine Kinder, bis das Versäumte nachgeholt war.

Aus Frankreich und Italien bezog man die meisten Alraune; für die besten galten die von Montpellier in Südfrankreich und die vom Apennin. Eine echte Mandragorawurzel war natürlich schon dort ein recht theures Vergnügen. Vollends aber nördlich der Alpen, wo sie im Freien nicht mehr fortkam. Indessen, die Industrieritter des Aberglaubens in Deutschland wußten sich zu helfen! Kräutermänner, Landstreicher, fahrende Schüler und dergleichen Leute schnitten aus Zaunrüben und Kalmuswurzeln menschenähnliche Figuren, steckten keimende Gerstenkörner hinein, damit rauhe Borsten zum Vorschein kamen, und brachten diese Schwindeleien für gutes Geld an den Mann.

Es gab aber auch stets vernünftige Leute, welche die Abergläubischen auslachten oder wenigstens ihren Unsinn nicht mitmachten. Der wackere Petrus de Crescentiis, der 1518 in Straßburg ein Werk drucken ließ „Von dem nutz der ding, die in äckeren gebuwt werden“, hat zwar vor den medizinischen Wirkungen der Alraunwurzel allen Respekt und weiß in dieser Beziehung allerlei Rath für ihre Verwendung zu ertheilen. Diejenigen aber, welche die Wurzel zu menschlichen Figuren zuschneiden und damit, besonders bei den Frauen, gute Geschäfte machen, erklärt er kurzweg für Betrüger.

Während des Dreißigjährigen Krieges und in den trostlosen Jahren, die ihm folgten, blühte der Weizen für die Alraunhändler am üppigsten. Das verarmte Volk suchte sich eben durch jedes Mittel wieder aus dem Elend emporzubringen, und da es während der langen Zeit der Noth und Verwilderung in seiner geistigen Bildung tief gesunken war, so griff es urtheilslos nach allem, was ihm Hilfe versprach. Noch im Jahre 1675 erhandelte ein Leipziger Bürger vom Scharfrichter ein Alraunmännchen für 64 Thaler! Wenn der gute Mann heute noch lebte, so würde [31] er sich wahrscheinlich für dieses Geld ein Lotterielos kaufen, und er hätte dabei vielleicht etwas bessere Aussicht auf Gewinn als mit seinem runzligen Wurzelmännchen.

Der mystische Ruf des Alrauns verlor sich früher als der medizinische, und auch der letztere blieb nicht unangefochten. Denn schon um 1700 erging ein Verbot, die Mandragora als schmerzstillendes Mittel bei Operationen zu gebrauchen; sie war zu lebensgefährlich, und viele mögen aus der Betäubung durch dieses Mittel niemals wieder erwacht sein! In anderen Verwendungen, als Schlafmittel z. B., fristete sie noch einige Zeit ihr Dasein; Alraunöl sollte immer noch gut sein zur Erweichung von Geschwülsten, ja, man empfahl den Apothekern, die Alraunsalbe alljährlich frisch von Montpellier kommen zu lassen, da sie sonst ihre Kraft verliere.

Indessen, der Aberglaube ist zäh. Noch im Jahre 1704 wußte der Gießener Arzt und Universitätsprofessor Valentini in seiner „Natur- und Materialienkammer“ von Aberglauben und Hexereien zu erzählen, die mit der Alraunwurzel getrieben wurden. „Scheinet noch von den Heyden her gekommen zu seyn,“ meint er, „bei welchen die Circe sich dieses Gewächses auch soll bedient haben, weswegen es auch ‚Circaea‘ genennet wird. Vor einigen Jahren hab dergleichen Männlein bey Herrn Peikenkamp, einem sehr kuriosen Physico zu Marburg, gesehen, so auff der Cantzley einem verdächtigen Mann war abgenommen worden, welchem es Geldt soll gebracht haben. Allein dem ehrlichen Herrn Peikenkamp wollte es nichts bringen, indem er mit dem armen Teuffel nichts zu thun hatte.“

Ja, selbst in unseren Tagen ist im Volke noch ein Nachhall von dem Glauben an die Alraunmännchen lebendig. Die untere Abbildung auf S. 29 stellt ein paar Alraunwurzeln dar, wie solche gegenwärtig unter dem Namen „Glücksmännchen“ im Wallfahrtsort Mariazell in Steiermark verkauft werden. Die Wallfahrer pflegen dieselben weihen zu lassen und betrachten sie als glückbringend. Und am Johannistag suchen abergläubische Landleute auf feuchten Waldwiesen heimlich nach dem dort wachsenden „Gefleckten Knabenkraut“, auch „Ragwurz“ genannt (Orchis maculata L.). Seine fingergliedgroße Wurzelknolle ist handförmig gespalten. Die graben sie zur Mittagsstunde schweigend mit einem Messer aus und legen sie in ein leinenes Tuch, das zugenäht wird. Mit der Hand darf die Wurzel ja nicht berührt werden! Sie wird sodann im Hause aufbewahrt oder am Leibe getragen, mit Vorliebe im Geldbeutel – denn diesem soll sie, wie die Alraunwurzel, in erster Linie Vortheil bringen. Und es ist ja auch gar kein Zweifel, daß sich beide in Beziehung auf ihre Wirkung vollkommen gleichwerthig sind!

Eine Zauberhand giebt es freilich, die dem, der sie besitzt, mit Sicherheit Glück, Zufriedenheit und damit wahren Reichthum bringt: das ist die geschickte und arbeitsame Menschenhand! Und wer sie hat, der braucht damit nicht heimlich zu thun, sondern kann stolz darauf sein. Schon das ist ein Vorzug vor jener anderen – der Wurzelhand.



  1. Wir verdanken diese Abbildungen dem liebenswürdigen Entgegenkommen des Kustos der kaiserl. Hofbibliothek zu Wien, Herrn Hofrath Professor Dr. v. Hartel, sowie des Direktors der „k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien“, Herrn Dr. F. M. Eder, welcher die Güte hatte, die Aufnahmen selbst zu besorgen.