Eine muthige Frau

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Minna Cauer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine muthige Frau
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 104-106
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[104]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Eine muthige Frau

Es sind fast beängstigende Eindrücke, welche ein Blick auf das Getriebe der Gegenwart in uns hinterläßt. Ein unentwirrbar scheinender Knäuel großer und ernster Fragen harrt der Lösung, Altes, Ueberlebtes versinkt, Neues, Unerprobtes taucht empor, dem es doch an der rechten Weihe, der rechten Stetigkeit fehlt. Allüberall ein Ringen und Kämpfen, ein sich Stoßen und Befehden! Und sehnsüchtig blickt manches Auge umher, ob nicht ein hervorragender Geist erstehe, ein erlösendes Wort zu sprechen.

Und in diesem scheinbaren Wirrwarr unserer Gegenwart arbeiten, schaffen und forschen stille, freundliche, aufopfernde Naturen; jene leisen Kräfte im Menschenleben, welche vielleicht mehr zum Fortschritt in der Menschheit beitragen als die gewaltigen Gestalten, die so mächtig, aber auch oft so zerstörend einwirken.

Eine solche Erscheinung ist auch die Frau, mit der die folgenden Zeilen sich beschäftigen sollen, Miß Kate Marsden.

Wer ist Miß Marsden? Wenige wissen wohl von ihr.

Es giebt Frauengestalten, welche den Blick sofort auf sich ziehen, welche kein „Vorbeisehen“ gestatten. Jedermann fragt:

[105]

Genesung.
Nach einem Gemälde von A. Toulemouche.

[106] „Wer ist dies?“ und entscheidet sich dann sofort mit einem Für oder Wider.

Das erstere wird wohl gewöhnlich bei Miß Marsden der Fall sein. Schon allein ihre äußere Erscheinung ist eine Freude, gleichsam der Abglanz eines reichen Innenlebens.

Ernst freundliche Gesichtszüge, ein klarer Blick und entschlossener Ausdruck nehmen sofort günstig für sie ein. Man kann wohl verstehen, daß die Herzen der Jugend Miß Marsden immer zufliegen; denn die Jugend hat ein sicheres Gefühl für das Ideale. Ueberall, wo Miß Marsden die Hütten der Armen und Elenden betritt, da erscheint sie allen bald als ein Engel des Friedens und der Versöhnung.

Das ist Miß Marsdens Arbeitsfeld – diese Stätten der Armen, Verstoßenen und Verlassenen. Sie bringt dem sogenannten Abschaum der Menschheit hingebende Theilnahme entgegen, sie findet auch bei ihm noch die Spuren eines göttlichen Funkens und weiß ihn zu wecken.

Sehr früh schon nahm Miß Marsden ihre ernste Lebensrichtung. Unbewußt, schon als Kind, hielt sie sich fern von den Spielen der andern, oft deshalb verkannt und gescholten von ihren nächstem Angehörigen. Als die Tochter eines englischen Advokaten wuchs sie mit acht Geschwistern auf. Sie steht jetzt ungefähr im 35. Lebensjahr.

Im 15. Jahr schon begann sie ihre schwere Laufbahn. Sie verließ das Elternhaus und lernte im Hospital die Krankenpflege mit überraschender Schnelligkeit. Schon damals fiel es auf, wie sie die Aermsten und Unglücklichsten zu verstehen wußte.

Im Jahre 1878 machte sie den russisch-türkischen Krieg mit, und hier zum ersten Male trat ihr das grauenhafte Bild des Aussatzes entgegen, welches sie nie mehr vergessen konnte. Damals reifte in ihr der Entschluß, sich diesen Kranken besonders zu widmen und alles aufzubieten, ihnen Hilfe zu bringen. Wohl führte sie das Leben erst noch zu andern Stätten; aber jenem einen Ziel blieb sie treu und immer kam sie wieder darauf zurück.

Als sie nach England zurückgekehrt war, widmete sie sich in Liverpool, einer Stadt mit viel roher Bevölkerung und entsetzlicher Verbrecherwelt, dem Dienste der Krankenpflege; selbst da, wo die Polizisten sich nur zu zweien zu zeigen wagen, schritt sie sicher und ruhig dahin, sie trat an die Stätte des Verbrechens und in die Hütte der Armuth – unbehelligt, ja oftmals sogar beschützt von den zuchtlosesten Gesellen. Sie war Schwester des Rothen Kreuzes geworden, und dieses Kreuz und seine Trägerin müssen wohl selbst den Frechsten wie etwas Heiliges erschienen sein. Wir finden sie dann in Australien, wo sie Oberin eines Hospitals war, eine Gesellschaft zur Ausbildung von Pflegerinnen gründete und auf Bitten der Goldgräber in den Bergen zu ihnen hinauszog, um dort die Kranken unter ihnen zu pflegen. Mitten im Gebirge, ganz einsam, fern von allen Menschen unter dieser verlorenen Bande, lag sie wiedernm ihrem stillen edlen Wirken ob, verehrt von den rohen Gesellen, über die sie eine fast wunderbare Macht ausübte.

Da fiel ihr eine Zeitungsnotiz in die Hände, daß in Sibirien der Aussatz in entsetzlicher Weise wüthe und daß für die Kranken keine Rettung sei; und nun faßt sie den heldenmüthigen Entschluß, dorthin zu eilen, um ihren Vorsatz endlich auszuführen, den Aussatz genauer kennenzulernen und wenn irgend möglich Heilung für ihn zu finden. Wie ein Märchen klingt es wohl, daß sie von einer Pflanze hörte, die hoch im äußersten Norden von Sibirien wachsen sollte und der man die Kraft zuschrieb, die entsetzlichste aller Krankheiten zu bezwingen. Diese Pflanze zu suchen und mit ihr den Unglücklichen Hilfe zu bringen, das war der Plan, den sie nunmehr mit allem Eifer verfolgte.

Aber woher die Mittel nehmen?

Der Engländer hat ein Sprichwort: „Where is a will, there is a way“, „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.“ Das bewahrheitete sich auch hier wieder.

Miß Kate Marsden.

Der muthigen Frau öffneten sich überall die Thüren. Durch eine Empfehlung von Englands Herrscherin thaten sich sogar die sonst so fest verschlossenen Pforten des Palastes der Czarewna auf. Aus der Gunst der russischen Kaiserin erwuchs Miß Marsden eine mächtige Unterstützung, so daß sie im Geleite eines Polizisten 1890 den endlosen Weg nach Sibiriens Schnee- und Eissteppen unternehmen konnte. Eingehüllt in dreifache Pelze, eilte sie weiter und weiter, ohne Rast und Ruh, nur eine Strecke weit noch begleitet von einer Engländerin, Miß Field, welche des Russischen mächtig war, dann allein, ganz allein.

Hier und da wurde angehalten an den elenden Wohnstätten der Eingeborenen oder an jenen furchtbaren Höhlen, welche die Unglücklichsten der Unglücklichen beherbergen – Rußlands Verbannte. Und wo sie erschien, da scharten sich die Menschen um sie, und sie brachte ihnen Brot oder sonst etwas Nahrung und spendete ihnen Trost in ihren furchtbaren Leiden.

Wochen und Monate hörte man nichts mehr von der muthigen Wallfahrerin. Schon fürchteten ihre Freunde das Schlimmste. Da erschien sie wieder, freilich am Körper matt und müde, schwere Wunden von Frostbeulen an ihrem Körper, aber mit jener Heiterkeit und mit jenem erquickenden Gleichgewicht der Seele, das nur großen Naturen eigen ist, die nichts mehr kennen als warme hingebende Menschenliebe.

Was ist nun das Ergebniß all dieser unendlichen Arbeit und Gefahr, all dieses aufopfernden Mühens?

Es ist Miß Marsden gelungen, in der Nähe von Veluisk in Sibirien eine Kolonie zu gründen, wo sechs Krankenschwestern, griechisch-katholische Nonnen, ihren Aufenthalt nehmen sollen, um dort unter den Aussätzigen zu wirken. Der Kaiser von Rußland hat sich bereit erklärt, aus seiner Privatschatulle 5000 Rubel für die Reise dieser Schwestern zu geben; die griechische Kirche wird für ihren Unterhalt Sorge tragen. Vornehme russische Frauen haben sich mit großem Eifer dieser Sache angenommen, an der Spitze Gräfin Tolstoi und die Gemahlin des Generals Costende in Moskau. Mehrere Vereine unter Leitung von Frauen haben sich gebildet, um das edle Unternehmen weiter zu fördern. Miß Marsden hat in Rußland selbst auch Geld gesammelt und mehr als 20000 Rubel für ihren Zweck erhalten.

Sie war bei ihrer Durchreise nach England auch in Berlin. Wenn es ihr hier nicht in dem Maße, wie sie gehofft hatte, gelang, Theilnahme für ihre Sache zu gewinnen, so mag das in politischen und anderen Schwierigkeiten seinen Grund gehabt haben. Die deutsche Frauenwelt ist ja überhaupt nicht leicht für solche weit ausschauenden Kulturaufgaben zu begeistern, sie sucht sich das Ziel ihres gemeinnützigen Wirkens gerne auf näherliegendem Felde.

Die Rückkehr nach England war für Miß Marsden eine sehr ehrenvolle. Englands Königin zeichnete sie in hohem Grade aus, die „Royal Society of Nurses“ überreichte ihr einen Orden, und rasch bildeten sich auch hier Vereine, die sich die Unterstützung ihrer Sache zur Aufgabe machten.

Miß Marsden benutzte ihren Aufenthalt in England auch dazu, ihre Erfahrungen und Erlebnisse in Sibirien aufzuzeichnen. Das Buch, welches jetzt zur Ausgabe gelangt, soll einerseits dazu dienen, die Menschen für diese neue Kulturaufgabe zu erwärmen, und andrerseits dazu, neue Geldmittel aufzubringen.

Der nächste Schritt, den die edle Wohlthäterin vorhat, ist nun der, Amerika zu besuchen und dort durch Vorträge die reichen Amerikanerinnen zu gewinnen, denn Miß Marsden hat die Absicht, eine zweite Kolonie in Sibirien zu gründen. Hoffentlich wird ihr das Glück zu theil, jenseit des Oceans offene Herzen und Hände zu finden.

Ob Miß Marsden die Wunderpflanze gefunden, welche die Aussätzigen heilen soll, das weiß ich nicht; aber ein anderer, werthvollerer Gewinn ist ihr geworden: sie hat die Pflanze des Vertrauens und der Liebe in die Herzen der Unglücklichen und Verlassenen senken dürfen.
Minna Cauer.