Eine neue Erklärung der Marskanäle

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Titel: Eine neue Erklärung der Marskanäle
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 471–472
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Leo Brenner: Resultate aus den Mars-Beobachtungen an der Maora-Sternwarte., Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Bd. 13, 1898(22), S. 253–257, digital: biodiversitylibrary.org
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Eine neue Erklärung der Marskanäle.

Seit einer Reihe von Jahren hört und liest man auf unserer Erde recht viel von den Marsbewohnern. Die Astronomen haben zuerst auf der Oberfläche unseres Nachbarplaneten ein Netz von dunklen Linien entdeckt und diese Linien Kanäle genannt. Im Verlauf weiterer Beobachtungen sind einige Forscher zu der Ansicht gelangt, daß diese Kanäle nicht von der Natur geschaffen, sondern von vernünftigen Wesen angelegt worden seien. Die „Gartenlaube“ hat im Jahrgang 1896 (S. 492) die Hypothese des amerikanischen Astronomen Lowell ausführlich besprochen. Laut derselben haben wir uns Mars als einen Weltkörper vorzustellen, auf dem im Vergleich zur Erde nur wenig Wasser vorhanden ist. An den Polen sind noch große Schnee- und Eismassen angehäuft, aber die Meere des Mars sind auf das geringste Maß zusammengeschrumpft. Vernünftige Wesen haben, um die Festländer zu bewässern, nach allen Richtungen Kanäle gegraben. In der Regel sehen wir dieselben nicht. Wenn aber zur Zeit des Frühlings die Schnee- und Eismassen an den Polen schmelzen, füllen sich die Kanäle mit Wasser, die Feuchtigkeit ruft die Vegetation hervor, und dann werden uns die mit Pflanzen bestandenen Flecken als dunkle Flächen sichtbar. Die Kanäle, deren Breite 30 bis 100 km und deren Länge bis 600 km beträgt, sind somit grünende Thäler, und die rundlichen dunklen Flächen, die an den Knotenpunkten der Kanäle auftreten, Oasen auf den Festländern des Mars, die im übrigen trocken, öde und wüst sind gleich der Sahara.

Diese Hypothese, die der Rührigkeit und Leistungsfähigkeit der Marsbewohner ein so glänzendes Zeugnis ausstellt, hat jedoch nicht alle Forscher befriedigt. So hat neuerdings der Astronom Leo Brenner von der Manorasternwarte auf der Insel Lussin piccolo die Entstehung der Marskanäle auf eine andere Weise zu erklären versucht. Auch für ihn sind diese dunklen Linien nicht Naturgebilde, sondern Werke vernünftiger Wesen. Brenner geht von der Anschauung aus, daß Mars bedeutend älter ist als unsre Erde. Er zeigt also eine Beschaffenheit,, die unser Planet erst nach vielen Millionen von Jahren aufweisen wird.

Mars besitzt eine dünne Atmosphäre; die Gebirgszüge, die sich einst auf ihm erhoben, sind im Laufe der Zeiten verwittert, Berg und Thal sind ausgeglichen und seine Festländer sind zu flachen Niederungen geworden, deren Küsten das Meer unaufhörlich benagt und zu verschlingen droht. Wo keine Gebirge sind, ist die Anlage von gradlinigen Kanälen nicht besonders schwierig. Daraus läßt sich erklären, warum die Marsbewohner so schnurgerade ihre Wasserstraßen anlegen konnten und nicht, wie wir es jetzt thun müssen, sich den Schwierigkeiten des von der Natur gegebenen gebirgigen Terrains anzupassen brauchten. Erstaunlich bleibt es aber trotzdem, wie sie Kanäle von so ungeheurer Breite anzulegen imstande waren.

Dieses Rätsel versucht nun Leo Brenner durch folgende Annahme zu lösen, zu der er durch den Major z. D. Holtzhey in Erfurt angeregt wurde. Bei der flachen Beschaffenheit ihrer Länder sahen sich die Marsbewohner genötigt, an den Küsten denselben Kampf gegen das Meer aufzunehmen, den gegenwärtig die Anwohner der Nordsee führen. Um ihr Land zu sichern, legten sie Deiche an. „Sie haben zunächst ihre Küsten durch Dämme geschützt und dann darauf gesehen, den anprallenden Wogen eine weitere Ableitung durch Anlage von Kanälen zu geben. Diese Kanäle hatten dreifachen Zweck: sie sollten nicht nur das anprallende Meerwasser ableiten, sondern auch die Schiffahrt nach allen Richtungen ermöglichen und den wasserarmen Planeten bewässern. – Alle Kanäle sind zu beiden Seiten von Dämmen eingefaßt, die gar nicht [472] hoch zu sein brauchen; einige Meter für die größeren und noch weniger für die kleineren könnten vielleicht genügen. Dabei ist die Arbeit ganz dieselbe, ob die Dämme 5 m oder 300 km weit abstehen. Die Breite der Kanäle ist folglich auf die natürlichste Weise erklärt und ihre Herstellung kein Kunststück. Denn abgesehen davon, daß die Schwerkraft auf Mars nur 0,376 der Schwerkraft auf der Erde beträgt, also mit demselben Kraftaufwand dort nahezu dreimal mehr geleistet werden kann, darf man nicht vergessen, daß die Kanäle nicht ein Produkt von Jahrtausenden, sondern von Jahrmillionen sind.“

Laut dieser Erklärung wären also die dunklen mehr oder weniger breiten Linien, die wir auf der Marsoberfläche wahrnehmen, nicht mit grünendem Pflanzenwachstum bedeckte Thäler, sondern wirkliche Wasserkanäle; als solche müßten sie aber stets vorhanden sein und nicht erst zur Zeit der Frühlingsschmelze auftreten. In der That glaubt sich Brenner auf Grund eingehender, in den letzten Jahren gemachter Beobachtungen zu der Behauptung berechtigt, daß diese Kanäle stets auf dem Mars vorhanden sind; nur sind sie uns nicht immer sichtbar; sie werden zeitweilig von Unklarheiten in der Marsatmosphäre, Wolken, Nebeln u. dergl., verdeckt.

Veränderungen, die an den „Seen“ der Marsoberfläche wahrgenommen worden sind, erklären sich nach Brenners Hypothese zwanglos durch Deichdurchbrüche oder niedrigen Wasserstand. Wer sich eingehender für diese Fragen interessiert, den verweisen wir auf die Abhandlung Brenners, die in der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift“ (Jahrg. 1898, Nr. 22) erschienen ist. Diese neueste Hypothese über das Wesen der Marskanäle ist nicht minder bestechend wie die Lowellsche. Ob aber die eine oder andere wirklich der Wahrheit entspricht, darüber vermag die strenge Wissenschaft heute noch nicht zu entscheiden. Die „Werke der Marsbewohner“ werden noch lange als ein schwer zu lösendes Rätsel die irdischen Geister beschäftigen. *