Eine oberschwäbische Dorfgeschichte
[1]
Meine Heimat ist das katholische Pfarrdorf Ertingen in Oberschwaben, ein Flecken von etwa 2000 Seelen, der zu dem württembergischen Oberamt Riedlingen gehört. Hier wurde ich Mittwoch vor Michaeli den 26. September 1832 geboren.
Ich muß gestehen, daß es schönere Gegenden im Schwabenland giebt, als meine gute Heimat. Denn sie leidet an einem „Bresten“, der mir erst in späteren Jahren, als ich manch anderes Land durchfahren, zum Bewußtsein kam, nämlich an einer gewissen Steppenhaftigkeit, an auffallender Baum- und [2] Staudenarmut sowohl im weitgedehnten Thale der Donau selbst als an seinen Hängen und Halden. Aber meine Landsleute – und diese sind ja doch der am meisten interessierte Teil – behaupten, die „Geschmäcker“ der Menschen seien verschieden und ihnen selbst gefalle keine Gegend besser, als die ihrige. Hei, wie läßt sich da so mühelos und „kommlich“ gehen, fahren und ackern! Wie sieht man so herrlich weit ins Ried hinaus und kann vom oberen Laubenladen aus die Knechte und Mägde bei ihrer Arbeit beaufsichtigen! Denn was ein richtiger Ertinger ist, unterscheidet mit bloßem Auge die Ringe des Saturn, geschweige denn auf lumpige drei oder vier Kilometer den Eingesessenen des eigenen Dorfs auf der tellergleichen Ebene, wo kein Hindernis den Ausblick beeinträchtigt, nicht Buschwerk noch Obstbau. Letzterer ist an den Land- und Gemeindestraßen von dem gestrengen Herrn Oberamtmann befohlen, aber der pflugfreudige, pfiffige Bauer weiß sich zu helfen. Hat er einen möglichst billig gekauften Wildling auf den Ackerrain am Weg gesetzt, so hebt er ihn, wenn er pflügen will, hübsch heraus, legt ihn, bis die Arbeit gethan ist, bei Seite und setzt ihn hierauf wieder an die alte Stelle. So fristet der arme Tropf Jahre lang zwischen Leben und Sterben sein Dasein, bis einmal ein weidendes Stück [3] Vieh seinen Hals an dem morschen Baumpfahl scheuert und bei dieser Gelegenheit zugleich dem Baum den Garaus macht. Freilich ist, um auch etwas zur Entlastung dieser Schwerenöter zu sagen, der Boden für die Obstzucht wenig geeignet, weil die Kiesschichten der Molasse zu nahe unter der Bauerde liegen. Ist daher der hierauf verwendete Fleiß nur bei besonderer Umsicht und Sorgfalt erfolgversprechend, so ist er dabei noch in sofern undankbar, als unter den Hunderten, die keinen eigenen Baum besitzen, immer ihrer viele der Meinung sind, daß Obst zu stehlen nicht viel schlimmer sei als Haselnüsse und Schlehen am Waldtrauf abzupflücken; denn in diesen armen Schichten lebt das Zerrbild der Erinnerung an eine Zeit fort, wo Wald und Obst das Gemeingut sämmtlicher seßhaften Hofstätteninhaber waren.
Wie hierin, so hatten sich auch sonst bei uns uralte absonderliche Meinungen teilweise erhalten, darunter vorab der Glaube an allerlei Spuk und Verhexung, der aber doch schon angezweifelt wurde. Zu den Zweiflern gehörten auch meine guten Eltern. Kam da eines Morgens der Roßknecht in die Stube und meldete: „Bauer, unser Wälder ist schneeblühweiß vor lauter Schweiß, in Kreuz und Schwanz [4] trägt er geflochtene Zöpfe, das Schrättele[2] hat ihn geritten“. Der Augenschein lehrte, daß die beiden ersten Angaben richtig waren, die dritte nahm der Vater ruhig hin. Doch gar nicht lange stand es an, so war das Schrättele dingfest gemacht in Gestalt eben jenes Knechts, der in einem zwei Stunden entfernten Dorf eine Bekanntschaft hatte, nächtlicher Weile auf besagtem Rappen dorthin raste und, wenn der Hahn krähte, wieder heim galoppierte. Als der Ungetreue wieder den Rappen aus dem Stall ziehen wollte, faßte ihn eine derbe Faust an der Gurgel, und es sausten die Hiebe eines getrockneten Farrenschwanzes hageldicht auf seinen Rücken herab. Der Wälder wieherte freudig und lief in seinen Stand zurück. Das Schrättele aber war von Stund an nicht mehr zu verspüren.
Die Ertinger sind heute noch ein Geschlecht, das sich von den Umwohnern in vielen Dingen groß unterscheidet. In einigen Stücken sind sie gegen früher besser, in anderen schlimmer geworden. Besser hinsichtlich der Lümmelhaftigkeit der halbgewachsenen Jugend, welche früher das Anhalten durchfahrender Gefährte und bei ungenügenden Antworten der Insaßen windelweiches Durchklopfen derselben gleichsam [5] als Sport betrieb, auch mit der Jugend der ganzen Umgegend in beständigem Krieg lag. Ihre große Kraft und ihre Gewandtheit im Raufen machte sie übermütig. An Riedlinger Jahrmärkten pflegte irgend einer der Stärksten in eine Wirtschaft zu treten, wo die Unlinger, die Altheimer oder andere Nachbardörfler einzukehren pflegten. Erst neckte er die „Fremden“ mit spitzigen Reden, dann aber, wenn das Schlagen nicht vorangehen wollte, stand er auf und rief über die Gäste der ganzen Stube weg mit lauter Stimme: „Ihr Lettfeigen von N. N., keiner ist meiner[3]!“ Im Hausgang stand ein Trupp Kameraden, und sobald diese das Krachen von Stuhlbeinen hörten, drangen sie ein und räumten die Stube durch fröhliches Hinauswerfen von Mann, Weib und Kind, so viele aus dem feindlichen Dorfe da waren. Das ist jetzt alles vorbei und man verträgt sich mit den Umwohnern. Die alte Rauflust ist erloschen, weil ihr der Nährboden abhanden kam, nämlich die unfürdenkliche Rangordnung, welche sich auf die Proben von Kraft und Unerschrockenheit gründete. Diejenigen zwei „Ledigen“, welche alle übrigen jungen Leute des Fleckens im Ringkampf geworfen hatten, waren Führer oder „Platzmeister“ [6] auf der Tanzlaube beim Osterspiel, Pfingstreiten, St. Jörgenritt[4] und dergleichen Anlässen, die nun alle der Vergangenheit angehören. Auch das weibliche Geschlecht zeichnete sich durch Mut aus. Es denkt mir noch gut am Geißberg eine hinkende Frau, der von einem französischen Soldaten im Zweikampf ein Bein abgeschossen ward. Der Gegenstand des Streits war freilich die beste Kuh des Weibs. Als der Feind ihr diese entführen wollte, griff sie, damals noch Mädchen, zu einer Mistgabel und stach den Franzosen nieder, aber vom Boden aus schoß er sie noch ins Bein. Die besten Eigenschaften indessen darf ich nicht länger unerwähnt lassen. Es sind Treue, Redlichkeit, erstaunlicher Fleiß, unglaubliche Genügsamkeit in Nahrung und Kleidung. Das ist heute noch, wie ehedem. Freilich hat die Leichtlebigkeit unserer Zeit da und dort in diesen festen Zaun alter Sitte ein Loch gerissen. Aber er hält doch noch immer den Hauptschwall heutiger Genußsucht [7] und Faulpelzigkeit ab. Des weiteren sind meine Landsleute ein frommes Geschlecht, Männer wie Weiber, und ich habe mich oft und viel überzeugt, daß es kein Maulchristentum ist, was sie bekennen, sondern der steife, alte, biedere Glaube, der den Menschen in seinen Nöten aufrecht hält und ihn unsägliche Mühen und Entbehrungen mit Hiobsgeduld zu tragen befähigt, alles in dem festen Glauben auf jenseitige Wiedervergeltung.
Ueber dem Dorf mit seinen weiß getünchten neuen Häusern und den ziegelrot angestrichenen Balken der alten dehnt sich eine Hochebene aus, welche von den drei Fluren oder Eschen der Markung eingenommen wird. Hinter diesen liegt der fast 2000 Morgen große Gemeindewald, diese Goldgrube, die in allen Nöten herzuhalten hat, sei’s daß, wie anno 1836, der Blitz in Turm und Kirche schlägt, sei’s daß man Kriegsschulden zu tilgen, neue Kirchenglocken, ein neues Schul- und Rathaus, neue Lehrerwohnungen, Brücken und Stege, ein weiteres Armenhaus oder was immer sonst zu bezahlen hat. Dort ragen die Fichten und rauschen die Eichen unserer Alten, die, obschon von unfürdenklichen Zeiten her Eigentum der Gemeinde, mit Mühe gegen den annektierenden Staat Württemberg behauptet wurden. Ich gedenke noch wohl der Zeit, da man von 5000 [8] schlagbaren Eichen sprach und die armen Leute wochenlang Gnies[5] und Holzheu, Tannenzapfen und Stumpen unentgeltlich heimholen konnten, um den kleinen Viehstand durchzuretten, bis ein auf dem Schub befindliches „Allament“[6] von zwei, drei „Mammaten“[7] endlich dem „nötigen“ Mann zufiel und so die heulose Zeit für ihn ein Ende nahm. Wie viele Späne und Stöße hat dieser Wald, das „Holz“, wie man ihn heißt, oder der „Glashard“, wie er früher auch zubenannt wurde, im Laufe der Jahrhunderte herbeigeführt! Bald waren es die Töchterdörfer Erisdorf und Marbach oder die Orte Kanzach, Dürnau, Tissen, bald das Stift Buchau oder die Herrschaften Neufra und Scheer, welche die Rechtsansprüche bestritten, auf die sich Ertingen als Vorort der uralten Markgenossenschaft, des Vorläufers der späteren Hirtengenossenschaft, berief. Wie das Ried, so war auch der Wald zunächst der Weide halber wichtig. Denn der Ackerbau ist erst unter Joseph II. recht eigentlich zur Geltung gekommen. Damals gehörten wir zu Vorderösterreich. Kaiserliche Beamte forderten dazu auf, das Thal seines Baumschmuckes zu berauben und aus den Weidgängen [9] Felder zu machen. Auch ein Teil des Walds wurde entholzt und zum Esch geschlagen. Einst, da die Ertinger am Eisenbühl roden wollten, widersetzten sich die Marbacher, die hinter dem Truchseß von Scheer saßen, und klagten bei ihrem Herrn. Dieser schickte seinen Forstmeister auf den „spänigen“[8] Boden. „Hie Ertingen, hie Marbach!“ hieß es. Von beiden Seiten war ein großer „Augenschein“ nebst „Umstand“ erschienen. Der Ammann von Marbach hatte seine Leute dahin belehrt, daß, wenn er seinen Hut rücke, die Sache für Marbach schlecht stehe, dann sollen sie auf die von Ertingen einhauen. In der That hatten letztere eine bessere „Kundschaft“[9] für ihr Recht. Und so lüftete der Marbacher Ammann sein Hütlein und rief: „auf, ihr Marbacher, ihr seid noch nie die mindesten gewesen!“ Nun hieb und stach man herüber und hinüber. Allein die von Ertingen siegten ob und behielten das Ihre. Obwohl das Ereignis jetzt 200 Jahre her ist, weiß man doch noch wohl darum und neckt mit obigem Spruch die Marbacher bis heute. In meinem Gedächtnis haftet die Märznacht anno 1843, wo ein furchtbarer Sturm 90 Morgen teilweise turmhoher Tannen am Eisenbühl und im Seelachenhau niederwarf. [10] Man wollte am Mittag vorher das Scheuwiesenweiblein gesehen haben, wie es mit einer großen Krause[10] auf dem Kopf dem Hirschbrunnen zueilte und Wasser schöpfte. Am Morgen nach der Sturmnacht saß auf der Unglücksstätte ein Kägerist,[11] dem ein Fuß fehlte. Ob das ein natürlicher Vogel oder die Windsbraut oder eine Hexe aus dem Dorf gewesen sei, blieb streitig.
Wie lange meine Familie in dieser alten Mark seßhaft ist, kann ich nicht nachweisen. Aber seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sitzen die Buck zu Ertingen. Es giebt zwar in allen Orten des Donauthals von Sigmaringen bis Ehingen Leute dieses Namens. In Ertingen dürfte jeder vierte Mensch Buck heißen. Wo ein Name so verbreitet ist, da ist er auch alteinheimisch. Es sieht fast aus, als sei die eigentliche Heimat der Affagau, den die Donau vom Eritgau schied, d. h. das linke Hochufer der Donau, die Urheimat der alten alamannischen Herzoge, wo ihre Allodien lagen. Ich denke bei meinem Namen an die Burkardinge. Schon in uralter Zeit war es Sitte, Kindern den Namen des Landesfürsten zu geben. So haben herzogstreue Bauern ihre Söhne Bucko genannt, was eine Koseform für Burkhart [11] ist. Dann kam die Zeit, wo der beliebteste Hausname zum Familien-, zum Geschlechtsnamen ward, etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Mein Name deutet also an, daß seine Träger schon im 10. Jahrhundert in der Gegend saßen. Ich rechne demzufolge die Buck zu den ältesten Schwaben und bin der Meinung, daß sie, wenn alamannischer Herkunft, seit dem 4.-5. Jahrhundert an der Donau sitzen, wenn vordeutscher Herkunft, noch viel länger. Ich halte aber dafür, daß sie alamannischer Abkunft sind, da weitaus die meisten dem blonden Schlag angehören. Jch selbst gehöre dem schwarzhaarigen an, dem mein Vater von seiner Mutter her auch angehört hat, während mein Großvater und Urgroßvater dem blonden langknochigen Alamannenschlag angehört haben.
Die Familienüberlieferung besagt, meine Heimat habe vor dem „Schwedenkrieg“ im abgegangenen „Weiler“ gestanden, das Feindsvolk aber habe den Hof niedergebrannt und der Sicherheit wegen sei man ins Dorf hineingezogen. Das Ertinger Stammhaus wurde ursprünglich vom Dorfbach bespült, daher der Großvater meines Urgroßvaters Michel Buck am Bach hieß; später als der Bach vom Hause abgedämmt wurde, bekam es den Namen Michelisbauernhaus. Das Haus daneben, nach einem Johannes [12] Buck Buckenhänsis genannt, fiel 1739 durch Erbschaft gleichfalls meiner Familie zu. Mein Urgroßvater gab dasselbe seinem Erstgeborenen, meinem Großvater Michel Buck, doch mit dem Versprechen, daß er seinerzeit nach altem Herkommen die „Heimat“ bekommen solle. Allein der jüngere Sohn Daniel wußte dem Vater, als dieser „aufgab“, die Heimat abzuschmeicheln. Daraus entstand lange Zwietracht. Denn meine Großmutter, die 5000 bare Gulden, für jene Zeit ein bedeutendes Vermögen, mitbrachte, hatte den Großvater nur unter der Bedingung genommen, daß er Michelisbauer werde, und konnte die Nichterfüllung nie verschmerzen.
Mein Urgroßvater Ägidi Buck war ein herkulisch gebauter Mann, einst ein gefürchteter Raufer und bis in seine späteren Tage überaus lustig und kräftig. Seinem Ältesten, meinem Großvater, hielt er zum öfteren sein ruhiges Wesen vor: „solange du nicht“, erklärte er ihm, „jeden Burschen im Dorf geworfen hast, sage nur nicht, daß du mein Sohn bist“. Der Sohn wohl oder übel, mußte an den Tanz; er that des Vaters Willen, und zwar mit vollen Ehren. Doch blieben auch beim Urnähni die Heimsuchungen nicht aus. 1783 kam ein Viehsterben ins Dorf, der sog. gelbe Knopf, eine Schlundkrankheit, und raffte ihm 23 Stück Vieh hin. Von diesem Jahre besitze ich [13] noch eine Votivtafel, auf welcher der Urgroßvater und die Urgroßmutter vor einem wunderthätigen byzantinischen Kruzifix knieen. Ersterer trägt einen langen braunroten Rock mit gelben Metallknöpfen von oben bis unten, ein scharlachrotes Kamisol mit silbernen „Bollenknöpfen“, gelbe Kniehosen von Leder mit schwarzen Nesteln an den Knieen, weiße Strümpfe und an den Schuhen abermals große schwarze Nesteln; das Angesicht ist glatt rasiert, das lange blonde Haar einigt sich in einem über den Rücken hängenden Zopf; über der schwarzen Halsbinde schaut ein weißer Hemdkragen hervor; in den Händen hält er einen schwarzen Rosenkranz mit einem Messingmedaillon am unteren Ende. Die Urnahne trägt eine dunkelblaue Jacke und einen dunkelblauen Rock mit grüner Schürze, um den Kopf ein schwarzes Tuch, um den Hals ein dreireihiges Korallennuster, aus dem dunkelfarbigen Mieder schauen weiße Spitzen hervor, ebensolche bedecken die Handgelenke. Der Maler war vermutlich Matthias Bertler von Ertingen, welcher 1771 die Fassung der nun wieder entfernten Zopfaltäre in der Pfarrkirche besorgte.
Mein Großvater Michel Buck, nach dem ich genannt bin, hatte eine ernste Gemütsart; ich habe ihn nie lachen gesehen. Er galt bei manchen für einen Hexenmeister, wohl deßhalb, weil er für allerlei [14] einen Segen wußte und daheim und bei guten Bekannten gerne quacksalberte. Ich besitze noch einige Rezepte und einen Diebssegen d. h. ein Banngebet, welches macht, daß der Dieb stehen bleiben muß. Einst, erzählte man, da er mit vollem Geldranzen vom Saulgauer Markt heimkehrte, sei er im Schachen[12] oben von einem Räuber angefallen worden. Er habe ihn aber festgebannt, so daß derselbe mit dem Mordmesser in der Hand bis gegen Tagesanbruch habe stehen bleiben müssen; als dann der Großvater durch Rückwärtsbeten des Banngebets ihn losgelassen habe, sei der Mordgeselle bei dem ersten Strahl der Sonne, der ihn traf, unfehlbar in Asche zerfallen. Item so habe der alte Buckenhänsi, als er zum Sterben gekommen, alle seine Hexenbücher im Ofen verbrennen lassen. Da hätten diese aber explodiert und den Ofen zerrissen. Als Andenken seines Muts hat sich in der Familie ein 1796 einem französischen Soldaten entrissener Säbel vererbt, mit dem er seinen Eigentümer durchbläute, als derselbe ihm an seinen Stall gehen wollte. Die Kameraden des an den Unrechten Gekommenen wollten Rache nehmen, aber der beherzte Großvater erwehrte sich ihrer mit der Sense. Während dem wurde auf dem Kirchturm Sturm geschlagen, [15] die Ertinger stürzten bewaffnet auf die Straße und jagten die Feinde zum Dorf hinaus. Es waren Republikaner, nach den Zwillichsäcken, in denen sie ihren Raub forttrugen. Bündelesbuben genannt, viele nur mit Metzgerstecken bewaffnet. Man trieb sie Neufra zu. Der Nähni[13] war sehr fromm und gieng oft zu Fuß nach Einsiedeln wallfahren, in der Regel allein, da er wegen eines Leidens sehr regelmäßig leben mußte. Er nährte sich die acht Tage über, welche er zu dieser Reise brauchte, fast nur von Schwarzbrod und Schlottermilch[14]. Auch daheim betete er viel und ernstlich. Nach dem Tod der Nahne[15] 1833, als er in seinem Pfründhaus allein war, schliefen ich und mein Schwesterchen abwechselnd bei ihm, doch nicht gerne, denn er betete so lang und wir mußten laut mitbeten, wenn uns auch der Schlaf übermannte. Ein Puff und der Zuruf: „Michöl, bet!“ machten mich dann wieder munter. Ich erinnere mich noch wohl, wie sehnsüchtig ich auf seinen mit zitternder Stimme gesprochenen altmodischen Gebetsschluß „Heilge Marja, verlaß uns nit!“ wartete und wie er mir einmal tüchtig „das Dach umschlug“, als ich während des [16] Betens, indem ich den hereinscheinenden Mond betrachtete, plötzlich laut zu lachen anfieng, denn mir war, als schneide der Mond allerlei lustige Fratzengesichter gegen mich herunter. Trotz mancher Tracht Schläge, die ich von ihm, gewöhnlich mit der otterbrämenen Pelzkappe oder auch mit dem Fliegendätscher, erhielt, und trotz manchem „Du Hackermentskarnale[16] du!“ war ich bei ihm wohl gelitten, wurde auch wohl im Hemdlein von ihm in den Adler zu seinem Schöpplein mitgenommen und mit einem Halbbatzenwecken regaliert. Nur meinte er, daß mich die Mutter verzärtele, welche Ansicht von der Nahne kräftig unterstützt wurde. Die Nahne hatte dreierlei an der Mutter auszusetzen: erstens, daß sie ihr das Hausregiment abgenommen hatte, zweitens, daß sie zu jung und säuberlich war, drittens, daß sie aus einem fremden Ort herstammte. Es war eben auch zu Nähnis und Nahnes Zeiten noch manches anders. Wenn der Nähni aus einem kurzen sogenannten Galgennagel[17] rauchte, so besaß der Vater schon einen silberbeschlagenen Ulmerkopf mit silbernen Panzerketten, und gegen die kurze Brust,[17] die vielgefältelte Juppe über dem Wiflingrock[18] und die Stöcklesschuhe der Nahne stach die Mutter merklich ab, wenn sie am Festtag in der pfauenradförmigen Goldhaube, dem violettfarbigen sammtenen Goller und der mit Goldspitzen eingefaßten hochrot seidenen Schürze sich zeigte. An einem Herbsttag nach der Kirchweih sah ich den Nähni in den Sarg legen. Das besorgte der alte Schreinermartin. Die Arbeit war schon gethan und außer mir und dem Schreiner war niemand in der Stube. Da machte dieser den Deckel noch einmal auf, nahm dem Nähni die Pelzkappe vom Kopf, probierte sie und setzte, nachdem er befunden, daß sie ihm passe, dem Toten dafür die eigene auf. Dann nagelte er zu, und der gute Nähni mußte mit des Schreinermartins Pelzkappe ins Grab.
Es ist jetzt an der Zeit, daß ich mein elterliches Heim und das Haus, wo ich das Licht der Welt erblickte, beschreibe. Zunächst von letzterem einige Worte.
Dasselbe war Erblehen von der Gemeinde und gültpflichtig an die Frühmeß oder Kaplanei von Ertingen und befand sich unter Einem Dach mit einem durch eine Mauer geschiedenen zweiten von gleicher Größe, das von der Frühmeß zu Lehen ging [18] und dessen Bewohner darum der Frühmeßlehenbauer hieß. Jede der zwei Haushälften hatte einen besonderen Eingang. Links vom Eingang mit seinen zwei steinernen Tritten war bei uns die Kellerfalle, rechts der Hauptwohnraum, die Stube. Das Herkommen gebot, daß männiglich ohne anzuklopfen eintrat und als Gruß die Zeit gab. Der Fuß kam beim ersten Schritt auf ein absonderliches Stück Bodendecke zu stehen. Es waren zwei auf die Bretter genagelte schweinerne Hochrückenschwarten, die auf diese einfache Weise zu lederartiger Dichtigkeit gar gemacht und nachher zu Flegelhauptkappen verarbeitet wurden. An der Stelle, wo das Getäfer, von einem ehemaligen Anstrich oder vom Alter schwarzbraun gefärbt, etwas herabgesunken war, konnte ein größerer Mann nicht aufrecht stehen. Die Wände waren so dünn, daß, wenn ein tüchtiger Windstoß an sie prallte, das Licht abends auslöschte. Die zwei Fenster, nach der Landstraße oder gegen Süden gelegen, waren aus vielen kleinen Scheiben in Holzrahmen zusammengesetzt und hatten in der Mitte Schiebfensterchen oder Schälterlein, durch deren Öffnung man den Kopf nur mit „Vorteil“[19] hinausstrecken oder vielmehr wieder hereinbekommen konnte. Über den Fenstern waren Rähmchen, auf denen [19] Schmerbüchse, Öltigel, Schwefelhölzer, Stein und Stahl nebst Schwamm, „Grichter“[20] und „Strähle“[21], Salbenhäfelein , Dreikönigskreide, geweihtes Salz, Roßeisen, Nägel und dergleichen mehr ihren Ort hatten. Unter den Fenstern lief eine in ihrem Unterraum zum Aufbewahren des Werftighäses[22] benützte Sitzbank nach der heiligsten Stelle des Hauses, dem Tisch mit dem über ihm in der Ecke hängenden Kruzifix. Dorthin sieht man beim Gebet und dorthin zu sitzen hat nur ein „Eigenes“ das Recht. Eine zweite Bank lief der Ostseite entlang gegen eine Thüre, die zur Kammer der Knechte führte. Neben dieser Thüre, den Fenstern gegenüber, stand die Gautsche[23], welche unter einem weißen Leintuch einen Strohsack und einen Strohhäupfel und auf dem gelben Holzanstrich die Jahreszahl der Verehlichung 1829 und das Zeichen IHS enthielt; unter ihr befand sich der Winteraufenthalt der Hennen, das Hennengätter. Zwischen der Gautsche und dem großen grünen Kachelofen war der Ehrenplatz des Hausvaters, ein Hochsitz aus Backstein und Kacheln, die Ofenzidele. Der Ofen wurde von der hinter der [20] Stube liegenden Küche aus geheizt. Sein unterer Hohlraum diente als Staren- oder Wachtel- oder Turteltaubenkäfig, seine mittlere und obere Abteilung wurde durch ein Gesims, das Ofenkörle, auf welchem man Obst dörrte, getrennt, der Aufsatz enthielt das Röhrlein, in welchem die geleibten[24] Speisen warm gehalten wurden, in einem halsartigen Anbau zwischen Ofen und Wand, Hölle genannt, stack ein eriner[25] Hafen, der Höllhafen. Vor dem Ofen stand eine Schranne, welche die Mägde beim Essen für sich an den Tisch rückten. Denn Stühle gab es nur zwei, von ungleicher Bauart; der eine stammte von der Aussteuer des Vaters, den andern hatte die Mutter mitgebracht. An den Ofenstangen hingen Wäsche und Kleidungsstücke. Hinter dem Ofen war die mit einem Spreuersack bedeckte Bank, auf der die Knechte und Mägde oder auch wohl reifende Handwerksburschen sich niederließen; der Oberknecht hatte das Recht, sein Häß an einen Hirschhornzinken zu hängen, während die andern sich mit Bretternägeln begnügen mußten. Rechts von der Stubenthüre stand der Schenkkasten, der in drei Abteilungen, teilweise unter Verschluß, zuoberst Briefschafter, Kempter Kalender, Papier, Tinte, Petschaft, Steuerzettel, Gebetbücher,[21] in der Mitte die „Krausen“[26], steingutene und irdene, auch sogar ein Glas oder zwei, Zucker-, Salz- und Pfefferbüchslein, Bockseckel[27], Schnapsgläslein, das Kartenspiel der Knechte, Gift und „Boperment“[28] für Mäuse, Roßpulver, Geister zum Einreiben, endlich zu unterst Irdschüsseln, Holzteller und ähnliches enthielt. Auf dem Kasten lag unendliches Kleingerümpel; an seiner Seitenwand, zunächst dem Weihkrüglein am Stubenthürpfosten und dem Handkesselein mit der vor Zeiten an einer Rolle aufgewalzten Zwehle, hingen ein Pfannenknecht und der Hagenschwanz. In der Ecke ächzte im Uhrenhäuslein eine alte Schwarzwälderin; zu ihren Füßen angefesselt warteten der Hanzieher[29] und der Stiefelhund ihres Dienstes. Die Küche, mit Kieselsteinen bepflastert, erhielt durch einen Kreuzstock der Hinterwand des Hauses ihr zweifelhaftes Licht. Denn in Wirklichkeit verließ man sich auf die erhellende Kraft des Herdfeuers, dieses alteinheimischen Gastes, der nicht, wie das Wildfeuer, den Menschen haßt, woferne man nur seine Sprache versteht; geht sein Singen in ein lautes Knistern und Knallen über, [22] so ist es ein Zeichen, daß der Feuergeist seinen Anteil an der „Kochet“ verlangt und durch ein paar Löffel voll Mehl zu befriedigen ist. An die Küche grenzte ein unbeschreibliches Gemach und neben letzterem stieg man in die Milchkammer hinab, wo ein degradierter alter Schrank stand, der dieses Schicksal nicht verdiente, denn er stammte, wie auch die Himmelbettlade der Mägde, aus der besten Renaissancezeit und war einst schön eingelegt. Den obern Stock erreichte man auf einer Blockstiege mit Hilfe eines beerschwarzen, spiegelglatten Seils. Er bestand aus dem Läuble[30] und den Schlafkammern der Eltern, der Kinder und der Mägde. Unter dem Dach lagen die zwei Laubenen oder Kornbühnen. Eine russige Treppe führte zu der untern durch eine Fallthüre, die wir mit dem Rücken öffnen. Hier lagen respektable brusthohe Fruchthaufen, zwischen denen Maienzweige vom Fronleichnamstag aufgepflanzt waren, auch in einer besonderen Abteilung Wicken und Erbsen, letztere der Gegenstand meiner naschsüchtigen Begehrlichkeit. Denn rohe Erbsen, ob grün oder reif, galten schon als Leckerbissen, natürlich im höchsten Grade die blauen, roten, gelben, weißen Zucker- oder vielmehr Traganterbsen, die der Krämer einem gab, [23] wenn man Salz, Imber, Nägeleingewürz, für einen Kreuzer Bolongaro oder gar, freilich nur unter dem Schleier der Nacht, einen Vierling Kaffee und Zucker holte. Unter der halsbrecherischen Stiege, die in den obersten Raum des Hauses zum Kügele[31] hinanführte, war mancherlei Altertum aufgehäuft, Weberbäume, wurmstichige Joche, Weibersättel, wohl aus dem 17. Jahrhundert, und anderes. Da sollte mir denn oft der gute Vater Auskunft geben; aber was er auch antwortete, gebar immer wieder neue Fragen. Riß ihm die Geduld, so konnte er wohl sagen. „Hör, Bub, mit dir findet man kein Ende. Da mußte ja selbst dem Eisenspiegel[32] das Trumm ausgehen, und der hat sich doch bei den heikelsten Fragen immer hinauszuhelfen gewußt. Laß mich also in Ruh, das Zeug hat ja doch keinen Wert. Frag du lieber, wie man ackert, eggt und sät oder Roß und Rind zieht. Das wäre etwas für dich, denn du mußt einmal mein Oberknecht werden und mich im Alter unterstützen. Was du eben wissen willst und zum Teil schon kannst, Bub, das gehört alles unter die brotlosen Künste, und solche darf kein Bauer treiben, sonst haust er aus und kommt in die Bettelschmiede. Verstehst mich?“ Das that bei mir die Wirkung eines Kübels voll [24] Wassers über den Kopf. Ich ward traurig und schwieg. Aber wie die Schnecke, der man auf die Hörner tupft, sie bald wieder auszustrecken versucht, so fing ich das Fragen eben doch allemal wieder an. Die obere Laube barg nur Getreideschätze. Von ihrem Kreuzstock aus konnte man einen Teil des Dorfs übersehen. Das Dach war größtenteils mit alten Hohlziegeln belegt. Das Kamin stammte aus jüngerer Zeit, wie das überall angerußte Riegel- und Rafenwerk[33] deutlich erkennen ließ. In dem Moos auf der Hinterseite des Daches war ein junger Kriechelenbaum[34] emporgewachsen, vermutlich der Abkömmling eines im Gartenhag stehenden alten. Der kleine gewölbte Keller zog sich unter dem Hausgang und der Stube hin, und man konnte aus letzterer durch eine Falle die Erdäpfel hinunterrollen lassen. Seine unerwünschte Beigabe war eine Brunnader, die aber doch einst ihr Gutes hatte. Als die Franzosen in den neunziger Jahren einbrachen, hatte der Keller mehr als einen Schuh Wasser und die leere Krautgelte schwamm darin herum. Die Nahne nahm ihren größten Schatz, die Hennen, setzte sie in das sonderbare Schiff und schob dasselbe mit einer Stange in den Hintergrund. Aber die Hennen gackerten, die diebischen [25] Franzosen erlickerten den Schatz und wollten ihn sich aneignen. Als der vorderste und hitzigste hinunterstieg und unversehens in fußtiefes Wasser trat, schrack er, einen Brunnen vermutend, zurück und lief, unverständlich welschend, wieder davon. Das waren Königliche aus dem Corps des Prinzen Condé gewesen. Sie trieben es noch schlimmer als die Republikaner, und heute noch, wenn es recht lärmend zugeht, daß man meint, die Heiden haben abgesattelt, sagt man: „Kotz Kreuz nei, ma moint, ’s Prinz Gondes Corps sei da“. Vor und hinter dem Haus war ein Hof. Durch den hintern Hof gings nach der Pfründnerwohnung und den Stallungen und Scheuern, sowie in den Obst- und Grasgarten, durch den vordern zur Landstraße, jenseits welcher ein öffentlicher laufender Brunnen mit langem Trog, die Gemeindszuge, sich befand. Nach der Zuge hin lag gegenüber von uns das Haus des Söldners Ägidius Flur oder, wie er wegen seiner mangelhaften Aussprache des S genannt wurde, Tschegidi Tscheigott. Eine breite Einfahrt trennte dasselbe von einem zweiten, das aus mächtigen Eichen gezimmert war und zwischen seinen hohen Stockwerken eine als Geflairnis[35] dienende Hohlbühne hatte. In das Giebelende, das [26] aus einer kleinen der Wetterfahne beraubten Säule bestand, war ein Geist, das Schättenmättele, hineingebannt. Die leibhaftigen Bewohner des Hauses waren der schon genannte Schreinermartin mit seinem Weibe Kordel, die für eine Hexe zu gelten das Unglück hatte, oben unser Tagwerker, der unersättliche Esser und unendliche Lamech[36] Zilvester Jäckle, seines Zeichens ein Zimmermann, neben ihm in einem Stübchen ein altes Paar, Leander und Alea.
Ich komme nun an die Heirat von Vater und Mutter. Ursprünglich beabsichtigte mein Vater, eine Tochter des Freimaiers in Ertingen zu heiraten. Allein die Ausführung des Plans scheiterte an dem Umstand, daß die Ausersehene in kein so „wüstes“ altes Haus hineinheiraten wollte, wie mein Vater eines hatte. Da teilte ihm eines Tags ein Weber mit, er habe bei Gelegenheit der Ablieferung eines Lodens zu Attenhöfen bei Zwiefalten ein paar saubere und nicht unvermögliche heiratsfähige Bauerntöchter gesehen. Da wäre eine recht für ihn. Er solle einmal mit ihm gehen und sich die Mädchen ansehen. Das geschah. Die jüngere, meine Mutter, gefiel ihm und so nahm er mit dem Stiefvater des Mädchens Rücksprache. Man kam überein, daß die Attenhöfer zum „Besehen“ nach Ertingen heraufkommen, was [27] auch bald ausgeführt ward. Diejenigen, welche bei derlei Geschäften die Hauptstimme haben, waren mit allen Verhältnissen wohl zufrieden, aber diejenige, welche heiraten sollte, sagte nein, denn das Haus war auch ihr zu wüst. Aber die alten Bauern lassen sich durch solche „Lappalien“ nicht aus der Fassung bringen. Der Heiratstag[37] wurde gehalten, der Hochzeitstag festgesetzt. Die weinende Braut ließ sich in den Pfarrhof schleppen und rüstete zur Hochzeit. Als man sie abholte, ereignete sich ein böses Vorzeichen. Der Wälder, sonst ein frommes Pferd, ward scheu und konnte nur mit Mühe in Lauf gebracht werden. Der Weg führte über Neufra. Auf Wunsch der Braut kehrte man da ein. Als man aber wieder aufbrechen wollte, fehlte die Braut. Man sucht und sucht, endlich entdeckt man sie, wie sie ihrer Heimat zugeht. Ihr Bruder bringt sie wieder zurück. So kam die Ehe mit Not zusammen. Scherzend haben beide später davon gesprochen. Denn nachdem sie einander kennen gelernt hatten, lebten sie im besten Frieden und in aller Liebe freudig zusammen. Überdies war der Bau eines neuen stattlichen Hauses in Aussicht genommen, der auch, wie ich später erzählen werde, zur Ausführung kam.
Vater und Mutter also hausten wacker zusammen. [28] Daheim bei Weib und Kind sei ihm am wohlsten, pflegte der Vater zu sagen, ohne sich durch die Neckereien der alten Kameraden beirren zu lassen, die auch nach der Verheiratung das Wirtshaushocken fortsetzten und, während mein Vater in seinem schwarzen Zwilchkittel, dem „Schäken“, die Zipfelkappe auf dem Kopfe und den Stock in der Hand auf die Märkte ging, in neuen Chaisen mit plattierten Geschirren in die Stadt fuhren. Aber das Ende vom Lied war, daß, als mein Vater ein recht wohlhabender Mann war, die Freunde von ehedem als Bettler zu ihm kamen, die froh waren, wenn er diesem einen halben Laib Brot gab und jenem die Besen, die er feil bot, um den doppelten Preis ihres wirklichen Wertes abkaufte. Obgleich meine Mutter sehr gerne tanzte, ging der Vater nur ganz selten zu einer Tanzgelegenheit. Ich erinnere mich nur einmal Vater und Mutter auf dem Tanzboden gesehen zu haben, an der Hochzeit eines Vetters, wo er dessen Ehrengesell war. Da ging es recht heiter her. Meine Eltern tanzten den alten feierlich-lustigen Bauerntanz. Ich wunderte mich weniger über die zierlichen Bewegungen meiner Mutter als vielmehr über die nie gesehene Sprungfertigkeit meines Vaters, der im Takt aufs Knie fiel, wieder aufstand, die Mutter in die Höhe schwang, sich auf die Schenkel [29] klopfte, dann wieder sich um die eigene Achse drehte, und was da alles in diesem Tanze vorkommt. Allgemeines Händepatschen war sein Lohn. Ich aber errötete bis an die Fußsohlen und verkroch mich im Haufen der Zuschauer. Ich glaube, wenn ich meinen Vater einmal betrunken gesehen hätte, was nie der Fall war, ich hätte für seine Würde nicht größere Furcht haben können als an diesem Tag. Aber mit der genannten Leistung hatte dann das öffentliche Schauspiel und damit meine Sorge ein Ende. Ein großer Singkünstler war der Vater nicht, aber er begleitete doch oft meine Mutter, wenn sie abends bei Licht spann und sang. Sie hatte ein gutes Gehör und sang recht hübsch. Zuweilen sangen die Mägde mit der Mutter, während die Mannen ihren schauderbaren „schwarzen Reiter“ oder „Veilchenknaster“ rauchten und zuhorchten. Wir Kinder hockten dann auf der Gautsche oder standen in Vaters oder der Knechte „Höflein“ d. h. zwischen ihren Beinen. Mitunter ließ uns einer auf dem Schenkel reiten, oder es spielte einer auf der Schnore[38] oder der Mund- oder Ziehharmonika. Das geschah bei einem Öllämpchen, dessen Licht gerade ausreichte, daß man sich nicht gegenseitig in die Augen langte. Zwei [30] Lichter brannten nur in der Zeit, wo man für verstorbene Verwandte oder Nachbarn vier Wochen lang abends einen gemeinsamen Rosenkranz betete. Das der armen Seele des Verstorbenen gehörige Licht war meist ein Wachsrodel von gelber Farbe. Als ich lesen konnte, kam das Lesen der dem Rosenkranz folgenden Armenseelenlitanei an mich. Ich hatte dem Herrn Pfarrer oder „Kapellaun“ bald abgehorcht, mit welcher Würde, welchem Zeitmaß, welcher Tonlage und in welchen Tonabfällen das zu geschehen hat. Wenn ich gar zu gut nachahmte, stießen sich die an den langen Bänken knieenden Beter mit dem Ellenbogen und kicherten in ihre Kappen, die sie in der Regel über die gefalteten Hände gestülpt hatten. Nachher hieß es: „ja, der Michöl, der muß ein Hairle werden!“
Doch noch einmal zu den ersten Kinderjahren zurück, um meines verstorbenen lieben Schwesterchens zu gedenken. Es war zwei Jahre älter als ich und sah immer so bleich aus mit seinen dunklen Haaren und Augen. Wir spielten Mitte Februar 1836 vor dem Hause. Ich trug einen Tannenwipfel als Fahne um. Plötzlich bekommt er das Uebergewicht, fällt mir aus der Hand und wirft mein Schwesterchen um. Blutend hinkt es in die Stube. Da kommt das Kind [31] zu liegen und steht nicht mehr auf. Am 6. März war es bei den Engeln. Ich konnte gar nicht glauben, daß es tot sei, und setzte mich zu ihm auf die Gautsche. Alle Liebkosungen weckten die Gespielin nicht mehr auf. Der fatale Schreinermartin kam und brachte einen Sarg. Da haben sie es dann bald darnach hinter der Sakristei begraben. Das Herz thut mir heute noch weh, wenn ich daran denke, wie ich mit der Mutter weinte, bitterlich weinte. Ich war des Glaubens, den Tod des guten Kindes, das schon länger hustete und Schmerzen in den Gliedern hatte, mit dem Tannendolder verursacht zu haben, und man hatte lange Zeit an mir zu trösten. An dem vorhergehenden Weihnachtsabend saßen wir zwei Geschwister zusammen auf dem Tisch an dem Fenster gegen die Kirche zu. Es schneite ruhig in großen schönen Flocken. Wir richteten unsere Blicke gegen den Kirchturm; denn alle Augenblicke konnte das volle Glockengeläute erschallen, mit dem der hl. Christ eingeläutet ward. Da klingen die Glocken, das Schwesterchen sieht verklärt gen Himmel und ruft. „Mutter, Mutter, ich sehe das Christkindlein vom Himmel herabkommen!“ Ich schaue das Mägdlein verblüfft an, dann gen Himmel. Aber ich sah nichts denn fallenden Schnee und sagte: „Ei Mutter, ich sehe kein Christkindlein.“ „Das glaub ich wohl,“ [32] versetzte diese, die auf der Bank ihr Rädlein schnurren ließ, „so böse Buben, wie du bist, sehen freilich das liebe Christkindlein nicht.“ Das gute, stille, sanfte Magdalenele hat mich stets wie den Augapfel gehütet, mich an der Hand geführt, mir von allem, was sie Gutschmeckendes hatte, zugeschoben, für mich an der Bretterbeige vor dem Hause die weißen Steinchen, welche den Zucker im Kaufladen vorstellen sollten, aufgelesen, mit mir Ringenreihen und „Guzagallen, laß mer ebbes fallen“ gespielt und wenn meinen spannagelneuen Höslein etwas Menschliches passierte, bei der Mutter mich entschuldigt. Nun liegt seine irdische Hülle bald ein halbes Jahrhundert im kühlen Schoß der Erde. Requiescat in pace!
Es war Frühjahr 1839, als meiner Mutter Wunsch erfüllt und das alte Haus abgebrochen wurde, während welcher Zeit wir die ausgestorbene Pfründnerwohnung der Großeltern bezogen. Eines Abends nach dem Nachtessen erklärte der Vater feierlich: „So, ihr Leut, jetzt haben wir in diesem Hause zum letztenmal gegessen, morgen früh beginnt man mit dem Abbruch. Lasset uns noch ein Vaterunser beten für die Seelenruhe aller derer, die in diesem Hause gelebt und gestorben.“ Eine frohere Nachricht hätte mir nicht werden können. Denn ich war der Meinung, [33] daß alles kurz und klein geschlagen werde, und hiebei mitzuthun schien mir gar lustig. Weil ich aber fürchtete, daß ich in der Frühe zu spät erwachen und mich einer um den lohnendsten Teil der Arbeit bringen könnte, beschloß ich diesem Unbekannten zuvorzukommen, holte einen ordentlichen Reisprügel und fieng an, die Fenster draußen zusammenzuschlagen, die das schönste Abbruchgeräusch gaben. Aber eben dieses Geräusch machte auch meinem Vergnügen ein schnelles Ende, indem es die Mutter herbeizog, aus deren Sack der stets bereite mit drei Knoten versehene Seilstumpen huschte, um mich durch den Tanz, den er auf meinem Rücken aufführte, eines andern zu belehren. Am Ostermontag war das Dach schon abgehoben. Von dort aus sah ich dem Zuge der ledigen Leute zu, welche durchs Dorf und zur Kapellengasse hinaus zum Eierlesen zogen. Als die Riegelwände hinausgeschlagen waren, geriet ich, im Suchen nach einem Gegenstand, der sich zerstören ließe, leider an ein mit Jungen besetztes Schwalbennest. Dasselbe hing in der Schlafkammer über der Fußnet der Bettlade meiner Mutter, und ich sehe noch den Vater in seiner Scharlatinweste[39] mit der schneeweißen Schürze und in den Hemdärmeln, wie [34] er mich in die Höhe hob und zu den zwitschernden Vögeln hineinsehen ließ, und sehe noch die beiden Alten, wie sie durch eine ausgelöste Scheibe des Fensters aus- und einflogen. Dieses Nest habe ich jenesmal eigenhändig mit einer Stange vom Balken gestoßen, aber auch lange Zeit den Wurm der Reue über den Frevel in mir herumgetragen. Als ich etwa ein Jahr später aus Anlaß einer Erkrankung des linken Auges, das man verband, wahrnahm, daß ich auf dem rechten Auge schlecht sehe, fiel mir ein, daß mir beim Herabstoßen des Nests etwas Staub ins Auge gefallen war, und es schien mir unzweifelhaft, daß ich, wie Tobias, durch Schwalbenkot geschädigt worden sei. Ich hielt dies für eine Strafe des Himmels, und so oft wir in der Schule die Geschichte von Tobias lasen, dachte ich an meine Unthat und wischte mir die überschießenden Augen aus.
Der Neubau brachte mich den Sommer über viel mit den Handwerksleuten in Berührung, und es stiegen hiedurch in mir manche Blasen von Zukunftsplänen auf. Die Maurer zwar waren mir zuwider, weil mich an ihrem Geschäft der Schmutz verdroß, gegen den ich von jeher einen Ekel empfand. Wenn ich irgendwie mich beschmutzt hatte, lief ich spornstreichs heim, um die Unsauberkeit wegwaschen zu lassen, und als ich zu landwirtschaftlichen Arbeiten [35] verwandt wurde, gab es darob viel Thränen. „Ein rechter Bauer,“ hieß es dann, „darf den Dreck nicht scheuen. Da bleiben, Bürschlein, und fest in den Dreck gestanden!“ Um so lieber hielt ich mich bei den Schreinern auf, namentlich wegen des Anstreichens. Denn das Malen war lange meine Hauptpassion. Als ich aber einst am Boden knieend auf einer Bank den heiligen Ritter Jörg mit Roß und Drache malte und darüber das meiner Hut befohlene Brüderlein in eine Düngergrube fallen ließ, aus der es nur wie durch ein Wunder noch glücklich herausgefischt wurde, brach ein Strafgericht über mich herein, das mir die Mal-Lust gründlich benahm. Ein ander Mal wollte ich ein Gärtner werden, wozu ich durch den Anblick des Heudorfer Schloßgartens begeistert worden war. Aber hatte der Vater über das Malen gesagt: „Maler und Lumpen wachsen auf einem Stumpen,“ so sagte er jetzt. „Was, ein Gärtner? Also im Sommer ein Stangenschäler und im Winter ein Schneeschäufler? Das sind lauter Beschäftigungen, die nichts heißen wollen. Laß deine „Themen“[40] und besinne dich auf den Stand deiner Väter. Ein Ackermann, das ist dein Beruf. Es ist der führnehmste und älteste von allen und Gott selbst hat ihn eingesetzt. [36] Das bedenke, Bub, und bleib bei dem Beruf deiner Väter. Siehe, es ist kein Acker beim Hof, den sie nicht mit ihrem Schweiß gedüngt, keine Scholle, die ihre Füße nicht hundertmal zertreten, und kein Halm, dessen Samen und Vorsamen sie nicht mit ihrer fleißigen Hand vielhundertmal ausgestreut hätten!“ Auch diesmal wurde meinem Wunsche durch eine ähnliche Bewahrung das Licht ausgeblasen. Der Meister, bei dem ich mich als Gärtner auszubilden gedachte, war unser Nachbar Cajetan, ein gelernter Obstbaumzüchter. In dessen Garten war ich gelaufen, statt bei meinem Brüderlein zu bleiben, das auf der Straße im Staub wühlte. Es war gerade Guntram, der 28. März, ein prächtiger Frühlingstag, die Bienen summten um den Brunnen, das Wässerlein plätscherte so silberfadig über den Trog herunter, gelbe Huflattichblüten schienen so golden am Gartenrain. Da höre ich das Rasseln des Eilwagens und eile der Straße zu, aber zu spät. Die vier Pferde trippeln über das Kind weg, ein Augenblick, und der Wagen ist auch darüber weg - das Kind aber spielte nachher wie vorher, die Pferde hatten es nicht getreten und die Räder hatten es nicht berührt. Der Spitzer auf dem Wagen bellte, der Postknecht hielt an und schaute zurück, die Leute liefen zusammen und gottlobeten, die Hände zusammenschlagend [37] über dem glücklichen Ausgang. Aber auch in Buckenhänsis Hof hatte man den Lärm gehört und der nachläßige Hüter durfte für seinen Lohn nicht sorgen.
Frühzeitig nahm mich der Vater aufs Feld mit, um mich einzuleiten. „Michöl,“ hieß es, wenn die Zeit der Saat da war, „komm zum Menetreiben!“[41] Dann ging ich barfuß neben unserem alten Fuchsen her und hing im Stillen meinen Träumereien nach, aus denen ich aber einst unsanft erweckt wurde. Das schwere Roß trat mir mit dem Stollen auf den Nagel des großen Zehen, ich schreie Mordio vor Schmerz, dazwischen hinein: „Fuchs, heb an, heb an!“, allein dieser, obwohl er den Ruf vom Beschlagen her wohl kannte, trat immer härter auf, bis der Vater mit dem Pflugstecken kam und den Phlegmatikus auf die Seite trieb. Natürlich war der Nagel abgeschunden, aber so etwas nimmt man auf dem Land nicht schwer. Der Vater holt ein Blatt Wegerich, zerknirscht es und legt es auf, bindet dann sein Taschentuch um meinen Fuß und setzt mich auf das Roß, und ich mene weiter. Geschah es, daß man beim Eren[42] auf eine Härte stieß, wo der Pflug nicht angreifen wollte und in die Höhe sprang, so mußte ich aufliegen, d. h. [38] mich mit flachem Bauch unmittelbar vor dem Sech[43] auf den Pfluggrindel[44] als Beschwerer legen, was zwar nicht viel gebattet haben wird. Denn ich war, seit ich mit sechs Jahren die dumpfe überheizte Luft des Schulzimmers atmete, ein leichter Docht. Vorher aber, sagte die Mutter oft, sei ich ein dicker Bantle[45] gewesen mit schwarzbraunem Rollenkopf und vollen roten Backen. Mein Gehilfe im Ackern, Brüehts[46] schneiden, Kleemähen u. dergl. war unser Ochsenbub, Michel Jäkle, der bei uns dreißig Jahre lang ununterbrochen gedient hat und seiner Lebetag ein ehrlicher altdeutscher Bursche geblieben ist. Seine Anweisungen gerieten immer lang und ausführlich und das äußerste Maß von Ungeduld, wenn ich etwas ungeschickt angriff, war, daß er sagte: „O Kerle, sait der Sattler.“ Der Vater machte kürzeren Prozeß. Er hatte die Gewohnheit, jedes Jahr ein oder zwei Paar gleichfarbige Ochsen einzugewöhnen, und wenn sie ordentlich zusammengingen, sie auf dem Hayinger Markt an Unterländer zu verkaufen. So säte er denn einmal auf dem Kapellenacker und ich mußte mit zwei noch schlecht eingeführten Ochsen eggen. Es regnete und schneite durch einander, und wenn ich ackeraufwärts [39] fuhr, so sudelte uns das Wetter in die Augen und meine Ochsen sowohl als ich drückten die Augen zu, also daß es immer hin und her ging und der gerade Strich übel eingehalten wurde. Der Vater sah’s und wies mich zurecht. Als ich aber beim Hinauffahren am Rand „alle Häck“ gegen einen Grenzpfahl stieß und es plötzlich krachte und zwei Eggenzähne abrissen, wurde mir - es war mein Namenstag der 29. September - eine absonderliche „Würgete“[47] zu teil.
Doch auch allerlei Lust und Kurzweil liefen bei meinen bäuerlichen Vorübungen mitunter. Es war ein kalter Nachmittag, als mir der Vater Lein und Reps auf den Schubkarren lud, um sie in die Oelmühle zu führen. Ich war gegen Spott sehr empfindlich und sollte eine abgetragene altmodische Pelzkappe aufsetzen. Denn eine andere war nicht zur Verfügung und meine schwarze Zipfelkappe hatte mir im Lauf des Sommers ein Ochse, als ich ihn an die Krippe band, vom Kopf genommen und gefressen. Also setzte ich schließlich die urväterliche Hinterlassenschaft auf, zumal als mein Bruder Anton, der mich begleitete, eine zweite nicht minder ehrwürdige Bedeckung sich über den Kopf zog. Alles [40] lachte, als man uns daherkommen sah. Wir aber, aus der Not eine Tugend machend, gebärdeten uns als Faßnachtbutzen[48], stellten den Karren von Zeit zu Zeit hin, mein Anton, der sich wie eine Spindel drehen konnte, führte seine Sprünge und Fachsen auf, während ich mit einem Grichter[49], über den ich Fließpapier gezogen hatte, dazu aufspielte, und schließlich waren wir die, welche bewundert wurden. Wir mußten unsere „Gesten“ im Winter in allen Häusern wieder vormachen, wohin wir mit Kunkel und Spindel zur Kunkelstube kamen, und die Leute spannen uns oftmals einen Teil unseres Ziels, damit wir ihnen vorhanswurstelten. Denn im Winter hatten wir zu spinnen, namentlich Mittwoch und Samstag nachmittags, wo wir in der Schule frei hatten; ehe ein Mäusle[50] zu einem Schneller gesponnen war, durften wir nicht auf die Gasse, nicht spielen, schleifen, schneeballen und schlittenfahren. Es war das in meiner Kindheit eine Arbeit, an der sich das ganze Haus, Bäurin und Bauer, Magd und Knecht, alt und jung beteiligte. Denn der Flachsbau oder, wie man bei uns sagte, der Werg- oder Leinbau war dazumal noch ein Hauptzweig des Feldbaus, und [41] wenn es ans Liechen[51] und Bollen[52] ging, so that alles, was nur Hand und Fuß regen kannte, mit. Ein ander Mal war ich beim Dreschen. Da ging dem Stetterjörg sein Schnupftabak aus, und er sagte: „Hö, Michöl, gang zum Augustines und hol mer um en Kreuzer Bollagari[53].“ Ich empfing die Dose und eilte durch den Garten dem Bach zu, jenseits dessen der Krämer wohnte. Aber unterwegs fiel mir ein alter Felbenbaum[54] in die Augen, der in seiner Höhlung ein feines, feuchtes, braunes Holzmehl barg, das akkurat wie ein Bolongaro aussah. „Nun“, dachte ich, „kann ich doch einmal Pulver kaufen und meinen alten hohlen Schlüssel laden und losbrennen.“ Ich hole also um einen Kreuzer Schießpulver und fülle des Stetterjörgen Dose mit faulem Felbenholzmehl. Die Mannen tupfen gleich alle in die Dose, schnupfen wiederholt, bis einem die Geruchlosigkeit auffällt. Abends holt sich der Jörg selbst beim Krämer eine Prise und beklagt sich über die schlechte Sorte vom Morgen. Jetzt bin ich verraten. „Ja“, sagt der Krämer, „der Michel hat ja keinen Bolongaro, sondern Purvel geholt.“ Die Schlüsselbüchse wurde zwar abgeschossen, [42] ehe das Wetter losging, aber das schlechte Gewissen trübte die richtige Freude am Knall. Andern Morgens nimmt mich der Vater ins Verhör. Ich dachte: „es ist gescheiter, gleich die Wahrheit zu sagen,“ und erzähle die ganze Geschichte. Er aber faßt mich am Kragen und probiert den neuen Hagenschwanz, hei, wie der durch die Luft sauste! Später bekannte er mir, wie schwer es ihm geworden, bei dem Strafvollzug ernst zu bleiben. Aber er setzte bei: „Gestohlen ist gestohlen, und wer stiehlt, der lügt auch und ist für alle Laster reif. Ja, Stehlen ist das Gemeinste und Niederträchtigste, was es giebt. Alle Stehlhaken fangen klein an, aber bald stiehlt man mehr. Vor Zeiten zitterten sie doch noch, wenn sie an einem Hanfacker vorbeikamen; denn da hat man noch gehenkt. Heut darf man ihnen nicht einmal trockene Ueberschläge machen. Wenn aber Unsereiner von ungefähr nur einen Pfahl umfährt, giebt’s gleich eine Untersuchung, als ob Grenzverrückung und Mord und Brand dahinter steckten.“
Auch die Mutter hatte ich vielfältig zu unterstützen, teils in allerlei Diensten, deren meine kleinen Geschwister bedürftig waren, teils namentlich auch im Hüten der Gänse. Sobald die Erde äber[55] ward, [43] zog ich, der schweren rindsledernen Bossen[56] ledig, barfuß mit meiner Herde auf die Waide zu der Dorflinde unten am Bach. Gewöhnlich gab man mir ein Paar Geschwister mit, um diese auch zu hüten. Diesen suchte ich dann Bagengen[57], Veilen[58], Habermaucheten[59], Roßnägelein[60] zum Spielen und Zerzupfen oder ich spielte ihnen auf einer Meisenpfeife, Milchstocktute[61], Rohrschnättere[62] vor. Dazwischen stürmte ich die Hosen auf und watete im Bach nach Groppen und Grundeln, baute Weiher und dreckelte im Schlamm. Bisweilen kam eine Gabelweihe in Sicht. In der Regel merkten die alten Gänse den Raubvogel früher als wir. Sie äugten in die Höhe, sobald sie den Weihenschatten über die Wiesen oder Felder daherschweben sahen, und lockten die Jungen zusammen unter ihre Flügel. Wir Ganshirten – wir waren oft zu 10 bis 20 – schalten den Vogel:
Weihenvogel, Gänsleindieb,
Wenn dir ist dein Leben lieb,
Laß mein Gänslein laufen,
Kannst dir eine kaufen.
Und wenn du keine kaufen willst
Und nimmst mir eins von meinen mit,
so fällt a Klotz vom Himmel rab
Und schlägt dir grad den Kragen ab.
[44] Gleichwohl erwischte er hie und da ein Gänschen. Einmal tötete ich selbst von ungefähr eines, indem ich beim Schlagen eines Purzelbaums so unglücklich auf ein Tierchen fiel, daß ihm die Gedärme heraushingen. Schnell entschlossen schnitt ich mit meinem Groschenmesser den Kuttelsack ab und trug das tote Gänschen heim. Die Mutter sagte: „ei, ei, das Biberle ist ja ganz leer, was ist denn passiert?“ „Oh, oh,“ stotterte ich, „die Alte hat’s halt so fest getreten.“ „Nein,“ riefen zwei Kameraden durch die halbgeöffnete Thüre herein, „er hat’s beim Purzeln erdrückt!“ „Ja, das glaube ich,“ sagte die Mutter, griff in die Tasche nach dem mir wohlbekannten Stumpen und maß mir in zwei Abteilungen auf. Nach der ersten sagte sie: „das ist für das Lügen,“ nach der zweiten: „und das ist für das schlechte Hüten.“ So hat mir meine erste Operation ein gar übles Honorar eingetragen.
Um die Zeit, da die Felder geleert wurden, pflegten die Gänse zu schränken d. h. die Flügelspitzen über einander im Andreaskreuz zu tragen, mit anderen Worten, sie waren ausgewachsen und völlig flügg. Dann trieb man auf das Geweisch[63], wo sie von den abgefallenen Aehren und [45] Körnern rasch schwer wurden. So hütete ich auch einmal auf dem Ringenlaihberg gegen die Bollenseelache zu. Einige Hirtenbuben verstanden die Kunst, die weitzerstreuten Gänse mit dem Rufe Hupp zusammenzubringen. Dabei mußte sich der Junge niederkauern, den Kopf zwischen die Kniee stecken und in die hohlgehaltenen Hände Hupp, Hupp! schreien. Sofort liefen die Gänse schnatternd herbei und stellten sich, das Meerwunder betrachtend, im Kreise herum auf. Während eines solchen Experiments fing meine Herde plötzlich an, gegen den Bergrand nach dem Dorfe hin zu laufen und davon zu fliegen. Unter Geschrei gings über die Häuser weg, indes ich weinend hinten nachlief. Ich wußte wohl, wie ungeschickt die Gänse fliegen und wie sie manchmal in vollem Flug gegen einen Giebel schießen und tot herabfallen. Als ich aber daheim ankam, lief mir die Herde vollzählig mit fröhlichem Schnattern entgegen, und mir war wieder wohl. Die Gänse haben ein gutes Gedächtnis. Als ich nach dem ersten Semester meiner Studienlaufbahn, von der ich bald erzählen werde, wieder heimkam, erkannten mich meine Pfleglinge sogleich. Sie liefen mir, wo ich ging und stand, leise schnatternd nach. Erst als ein anderes Geschlecht herangewachsen war, packte man den Heimkehrenden an den Rockschößen und fauchte [46] mir feindlich entgegen. Auch von ihrer Pfiffigkeit soll noch etwas gesagt werden, was ich in den Ferien einmal beobachtete. In aller Frühe, ehe der Gänsehirt hörbar war, schlenderten unsere Gänse im Hof und, wenn sie dazu kommen konnten, im Grasgarten herum, wo es ihnen behaglicher war als im engen Gansgarten oder auf der Gansweide. Sobald sie nun den Ganshirten im Innendorf tuten hörten, liefen sie eilig den Wagenschuppen oder Viehställen zu, um sich dort zu verstecken. Blies der Hirt in unsern Hof herein, so war weit und breit von einer Gans nichts zu sehen und zu hören. War dann der Hirt eine halbe Stunde fort, so kam eine vorsichtig an die Stall- oder Schuppenthüre und schaute sich nach allen Seiten um, namentlich aber der Straße zu. Kam ihr alles unverdächtig vor, so schnatterte sie etwas für sich hin, als redete sie mit sich selbst, schritt hierauf in den Versteck zurück und machte hier mit einem leisen Geschnatter anderer Art den Ihrigen Mitteilung, worauf alle hervorkrochen und vergnügt im Hof herumwatschelten. So „schwänzen“ die Gänse das Ausfahren.
Zu Zeiten, wo die Feldgeschäfte weniger streng giengen und keine häusliche Verrichtung meiner wartete, holte ich ein Buch aus der Hausbibliothek. Diese aber bestand nur aus Schriften, wie Pater [47] Kochems Leben und Leiden Christi. Die Bilder in diesem Buch waren teilweise entsetzlich. Die Verdammten wurden gespießt, gerädert, gevierteilt, zersägt, geschunden, gesotten, und aus Mitleid mit den Armen hab’ ich da manchem Teufel den Arm und die Augen ausgekratzt. Besonders zogen mich die zwei ersten Teile des Buchs an, worin eine mit allerlei Legenden ausgestattete Beschreibung des gelobten Lands und eine phantastische Schilderung des Paradieses und des Himmels enthalten waren. Aber was bedeuteten die unter dem Text angebrachten fremdartigen Buchstaben und Wörter? Meine Neugier wurde einigermaßen befriedigt, als eines Tags der Schneiderrichard zu uns auf die Stör[64] kam. Dieser, der neben dem Schneidern auch die übernatürliche Heilkunst und das Bibelauslegen trieb, that mir unter geheimnisvollen Umschweifen zu wissen, daß das Hinweise auf gelehrte lateinische Werke seien. Von dieser Stunde an entbrannte in mir die Sehnsucht, lateinisch zu lernen. Wir hatten eine Art Predigtbuch, betitelt „der feurige Schmelzofen“, worin eine Menge lateinischer Citate mit deutscher Uebersetzung vorkam. Ich dachte nun, durch aufmerksame Vergleichung könnte ich den lateinischen [48] Wörtern ihren Sinn ablauschen. Aber ich kam nicht viel über Deus Gott und Dominus Herr hinaus und das Latein des Schneiders gieng auch nicht weiter. In der Fastenzeit war es Brauch, abends dem Ingesinde das zutreffende Evangelium des Tags vorzulesen. Dies besorgte ich, sobald ich lesen konnte. In der Frühmesse, wo dasselbe Evangelium vom Geistlichen verlesen ward, paßte ich gewaltig auf, um abends alles nach dem Vortrag in der Kirche genau wiedergeben zu können. Hiedurch und durch die Sehnsucht, Latein zu lernen, ward ich ermuntert, meinen Eltern zu erklären, ich wolle ein Pfarrer werden. Dem Vater war das gar nicht lieb. Erstlich wollte er mich zu seiner Unterstützung heranziehen, zum anderen rechnete er mit den Unkosten des Studierens, zum dritten hatte er an Beispielen in unserem Dorf gesehen, daß Studenten umsatteln oder auch versticken konnten. Ich war neun Jahre alt, als ich ernsthaft ans Studieren dachte. Aber ich mußte zwei volle Jahre bitten und meiner Mutter alles, was ich ihr nur an den Augen ansah, thun, bis ich sie zur Fürsprecherin gewann. Als einmal ein Reutlinger Buchhausierer zu uns kam, hätte ich gerne eines seiner Büchlein von Genofeva oder von Kaiser Oktavianus oder von dem gehörnten Siegfried gehabt. Aber obgleich der Preis nur sechs [49] Kreuzer war, kaufte man mir doch keines; denn es hieß, was darinnen stehe, sei ja doch nur erdichtet, also erlogen. Nach langem Harren hatte ich mir vom Erlös meines Gespinnstes etwa zwölf Kreuzer erhaust. Diese brachte ich, als Jahrmarkt war, dem Bücher- und Helglen[65]-Mann, und da derselbe auch Glasscheiben und Fensterblei annahm, so suchte ich auf der Bühne derlei zusammen und verschaffte mir hiedurch die Möglichkeit zu einem Ankauf. Meine Wahl fiel auf eine Weltbeschreibung in welcher man zwar noch Wundermenschen mit Hundsköpfen oder einem so breiten Fuß, daß er beim Ausruhen im Gras als Sonnenschirm sich benützen ließ, doch aber auch manches Nützliche fand. Als nun einst in der Schule die Aufgabe gestellt wurde, es solle jeder sechs Städtenamen auf die Tafel schreiben, so brachten meine Kameraden vielleicht Saulgau, Riedlingen, Buchau, Biberach, Ehingen, Ulm fertig, während ich mit einem ganzen Haufen von Städten aus Italien und China und Amerika aufwartete. Der Lehrer schaute mich ganz verblüfft an. Auswendig hätte er selbst nicht so viele Namen gewußt. Woher ich das alles wisse, fragte er. Ich bekannte und war nun Hahn im Korb, was mich antrieb, auch in [50] den anderen Lerngegenständen allen Fleiß zu verwenden und die Süßigkeit des ersten Platzes dauernd zu verschmecken.
Es war im Herbst 1842, als unsere Markung von ungewöhnlichem Mäusefraß heimgesucht wurde. Ich zog täglich mit Fallen und Locheisen aufs Feld. Aber alles battete nicht. Man verteilte Giftpaste und legte Phosphorpillen – die Raben starben aus, aber die Mäuse nahmen nicht ab. Jetzt erinnerte man sich des St. Magnusstabs in Schussenried; der sollte geholt und in feierlicher Prozession durch den Esch getragen werden. Aber da hörte man, daß der echte St. Magnusstab sich weit weg zu Füßen im Bayerland befinde. Man trat daher eine große Wallfahrt zur schmerzhaften Mutter Gottes auf den Bussen an. Die Riesenschlange des Zugs, das Flattern der Kirchenfahnen, das Beten der Waller, das Echo am Waldtrauf hinab, der Appetit nach der Ankunft und die Wecken und das Weißbier, die Aussicht von der Höhe des einsamen Bergs auf die zahllosen Dörfer, Weiler und Höfe und die weißschimmernde Fläche des Federsees – all das ist mir unvergeßlich geblieben, auch daß mir auf die Frage, ob der See wirklich aus Federn bestehe, mit einem schallenden Gelächter geantwortet wurde. Für mich hatte dieser Gedanke nichts Auffälliges, da mein ohnehin [51] schon starker Wunderglaube durch besagte Weltbeschreibung neue Nahrung erhalten hatte. Einmal that ich freilich eine Rede, die einem zukünftigen Pfarrer fast nicht zu verzeihen war. Die Mutter wies uns Kinder über einer Unart zurecht und sagte, indem sie auf das im Tischwinkel hängende Kruzifix zeigte: „Sehet dort den Himmeldatte, unser liebes Herrgöttle, das sieht alles und wird euch strafen, wenn ihr der Mutter nicht folgt.“ Ich schaute mit heruntergezogenen Augenbrauen hinauf und sagte: „Mutter, der Herrgott im Tischeck kann uns nichts thun, er ist nur von Holz“. Worauf die Mutter mir zuerst das Gewöhnliche, diesmal mit dem Kehrwisch, verabreichte, dann aber auch die nötige Belehrung erteilte.
Im Sommer 1843 sagte mir der Sohn unseres Nachbars Storrer, der ein Jahr älter als ich war, daß ihm der Mesner Lateinstunde gebe, und schlug mir vor, auch die Stunde zu besuchen. Ich hatte nichts auf dem Leib als ein Hemd und eine blaugefärbte Zwillichhose. Der Mesner, der beständig seinen „Herzog Christof“ rauchte, schaute mich mit seinen schwarzen Augen unter den buschigen grauen Brauen verwundert an. „Nun, was willst denn du da?“ „Ich möcht halt auch lateinisch lernen.“ „So?“ antwortete er, „was sagt denn dein Vater [52] dazu?“ „Ho, ho, ho, er weiß es nicht,“ erwiderte ich verlegen. Der Mesner fuhr lächelnd mit der Hand über den Mund, netzte seinen rechten Zeigfinger an der Zunge und schlug den Bröder[66] auf. „Da, komm einmal her, daß ich sehe, ob du lateinische Buchstaben lesen kannst.“ Es gieng. „Gut“, sagte er. „Jetzt merke den Spruch: aurora musis amica, Morgenstund hat Gold im Mund. Was du da bei mir lernst, mußt du hübsch früh am Tag wieder durchgehen und dazu die neue Aufgabe lernen. Hier hast du einen alten Bröder. Jeden Tag um 1 Uhr ist Stunde. Um 2 Uhr muß ich die große Glocke läuten, dann ist unsere Stunde aus.“ Ich nickte mit siedend heißem Gesichte. Fortan besuchte ich mit großem Eifer die Stunde. Als ich der Mutter den kühnen Schritt bekannte, war sie zwar nicht ganz zufrieden damit und that, als ob sie es dem Vater vorerst nicht zu sagen sich getraue. Aber er wußte bald darum und hatte auch ohne mein Wissen bereits mit dem Mesner gesprochen und von diesem vernommen, daß ich das nötige Talent und den nötigen Eifer habe. Eines Mittags, es war ein Montag, kam ich mit dem im Hemd an der Brust verborgenen Bröder heim. Mein Vater aß zu Mittag, da er eben [53] erst vom Riedlinger Wochenmarkt heimgekommen war. Wie ich in die Stube trete, sagt er: „Michöl, komm daher! Was hast du für einen Stumpen im Hemd?“ Ich werde feuerrot, lange zögernd das Buch aus dem Busen und gebe es ihm. Er schaut nach dem Titelblatt und blättert. „So, das ist also eine lateinische Grammatik. Nun denn, in Gottes Namen, wenn du’s durchaus nicht anders willst, so laß ich dich studieren. Lern fleißig und mach Vater und Mutter Freud, bete fleißig zum hl. Geist, daß er dich erleuchte, und bedenke stets, welch schweren Beruf du erwählt hast.“ Da kam auch die Mutter herein und die Ermahnungen wurden nun beiderseits fortgesetzt. Daß die Sache so glimpflich ablaufe, hatte ich nicht erwartet, vielmehr schon, das Schlimmste fürchtend, nach dem Hagenschwanz am Kasten hingeschielt. O, wie glücklich war ich! Sobald ich über die Anfangsgründe hinaus sei, wurde mir gesagt, schicke man mich „in d Studi“ nach Biberach, wo ein Landsmann und Altersgenosse meines Vaters Präzeptor war. Zur Anfertigung eines honorigen und zugleich dauerhaften Anzugs versprach der Schneiderrichard sein Bestes zu thun.
Am 16. Oktober: 1843 nahm ich unter strömendem Regen bei allen Verwandten Abschied. Man gab mir sechs, auch wohl zwölf Kreuzer zur Steuer, [54] ja eine alte Base, die den Spitznamen „der Hut“ hatte, sogar einen Sechsbäzner, jedoch mit der Bedingung: „Weisch, Bub, bis die erste heilige Meß an dich kommt, bin ich wohl nimmer am Leben, aber vergiß nicht, mir für die sechs Bazen eine Seelenmesse zu lesen“. Ich versprach ihrem Wunsche nachzukommen. Das Weib wurde steinalt und lebte noch, als ich in Hohentengen mich als Arzt niedergelassen hatte. Ich nahm sie von dort aus einmal in Behandlung. Als sie wieder genesen war, sagte sie: „Jetz, Vetter, machet nur den Lohn, ich will nicht umsonst kuriert sein“. Sag’ ich: „Base, der ist längst ausbezahlt, wenn Ihr den Sechsbäzner gelten lasset, den Ihr mir vor Zeiten für eine Seelenmesse gegeben habt.“ „Ei, ei“, erwiderte sie, „ja das wisset Ihr noch? Nun, wenn Ihr damit fürlieb nehmt, so soll mir’s auch recht sein. Die Seelenmeß wird halt wohl ’s hiesig Hairle lesen müssen.“ Am 17. Oktober vor Tagesanbruch sagte ich der Heimat, meiner Mutter und den Geschwistern Lebewohl. Mein Vater fuhr mit mir auf dem unangestrichenen Bernerwägele gen Biberach. Es hatte einen starken Nebel, welcher den ganzen Tag anhielt. Wie wir still nebeneinander sitzend die Barre[67] [55] hinausfuhren, merkte ich, daß der Vater hin und wieder die Augen wischte. Als wir in den Wald einlenkten, kamen wir in den tiefen Geleisen nur langsam vorwärts. Der alte Wälder that, was in seinen Kräften stand. Ich blickte wehmütig an den alten Stämmen hinauf. Wie manches Mal hatte ich hier Moos und Tannenzapfen holen helfen, wie schön war’s unter den rauschenden Wipfeln, in dem balsamisch harzigen Odem, in den dichten Fichtenräuhenen[68], an den binsenreichen Lachen mit den weißen und gelben Seerosen, in den Himbeerbüschen gewesen! So kamen wir nach Kanzach, dann an der Wallfahrtskapelle zur Ruh vorbei, in der ich manchen Gebetzettel gezogen und manches Stündlein die Weihgeschenke betrachtet hatte. Dort drüben mußte der Federsee sein, aber vor Nebel sahen wir ihn nicht. Nun folgten Kappel, Buchau, Oggelshausen, Stafflangen, Oberndorf, Mittelbiberach. In Oberndorf, wo wir den Stich[69] im Ort zu Fuß hinaufschritten, mein Vater in einen blauen Mantel, ich in einen alten weißen österreichischen Reitermantel mit kurzem Kragen gehüllt, war eben die Schule aus und die Buben liefen uns nach. „Oha“, riefen sie einander zu, „da schauet her, da geht der jung Mausche mit [56] dem alten Mausche neben dem Gäulich her.“ Sie hielten uns für Buchauer Juden, die auf den Biberacher Wochenmarkt fahren, und Fuhrwerk und Gewandung sahen allerdings danach aus. Vor Mittelbiberach draußen reißt mir ein nötiger Knopf. Ich steige ab, breche einen Schwarzdorn ab, stecke den Hosenträger durch den vierspännigen Hosenladen und den Dorn durch sein Oehr. Als wir vor das obere Thor von Biberach gelangten, wollte der Wälder durchaus wieder umkehren. Endlich passierten wir die Pforte und kamen in unserer Herberge zum Strauß neben dem Gymnasium an. Am anderen Tag war Aufnahmeprüfung. O, wie übel ergieng es mir da! All mein Latein hatte ich in der Angst vor so vielen fremden Herrengesichtern vergessen und in das deutsche Diktat machte ich nicht weniger als 40 Fehler. Anstatt in die dritte Klasse setzte man mich bärig[70] in die erste oder unterste und da war ich lange Primus von hinten herein. Welche Enttäuschung! Und nicht die einzige! Der Landsmann hatte für mich bei einem verganteten Wirt Herberge bestellt, der Keßler hieß und in einem alten zerlumpten Haus in der Ranzengasse neben der Kronapotheke zwei Stiegen hoch wohnte. Als ich in die [57] Kammer, wo ich mit drei anderen Kostgängern schlafen sollte, und das trübe Licht, das sie aus Häuserwinkeln erhielt, den Kopf hineinstreckte, wär’ ich am liebsten wieder zurückgegangen. Weinend sah ich dem Vater nach, wie ihn der Wälder über das holperige Pflaster weg durch das Riedlinger Thor hinaus mir entführte.
Tags darauf morgens 8 Uhr ging ich zur Schule. Die Gänge waren leer, in den Zimmern hörte ich lehren, und da ich nur dasjenige kannte, in welchem ich geprüft worden war, so trat ich auf Geratewohl mit klopfendem Herzen in dieses ein. „Büble, was willst du?“ fragte mich der Lehrer, ein angehender Sechziger mit einer fadenumwickelten silbernen Brille auf der roten Nase und einer großen Glatze, über welche von hinten her lange Trauerweiden gestrichen waren, indem er seine Rockschöße auf den dicken Bauch legte. „Ho,“ antwortete ich, „i hau nu in d Schual wölla.“ „So,“ sagte er, „dann setze dich nur dort in die leere Bank.“ Er sah meinen rübelmanchesternen[71] Hosen und meinem Lender[72] mit den gelben Knöpfen wie auch meinem altmodischen Haarschnitt, dem Bockhaar[73], den Ankömmling vom Lande wohl an. Doch [58] bald merkte ich, daß ich in das unrechte Zimmer geraten war, und dachte: „wenn ich nur schon wieder draußen wäre!“ So rutsche ich denn heimlich an das Ende der Bank und suche, während der Lehrer mir den Rücken bietet, die Thüre zu gewinnen. Allein meine nagelneuen Stiefel, die aufs Wachsen gemacht waren, klapperten zu laut. Er schaute sich um. „Hm brr, Büble, wo willst du hin?“ „Oh, i hau nu a kleins Geschäft, drum will i gauh gauhn!“ Die ganze Klasse brach in ein schallendes Gelächter aus. Auch der Lehrer lachte. „Nun ja, so geh nur und verrichte deine Geschäfte, hm brr.“ Binnen Jahresfrist war ich vom letzten Platz zum zweiten vorgeschritten und man gestattete mir, die zweite Klasse zu überspringen, worauf es den geweisten Weg mit mir vorwärts ging. Aber unsäglich litt ich unter der ärmlichen Verpflegung und Beherbergung. Von den Heimatlichen Speisen, geschmälztem Habermus, Speck, Kraut und Knöpflen, sah ich nur noch im Traum etwas und die kalte Kammer zog mir ein hartnäckiges Ohrenweh zu. Noch übler war ich daran, als unser Kostherr starb und ich bei einem Bortenwirker Leonhard im Kappenzipfel untergebracht wurde. Hier mußte ich das Nachtquartier mit Zimmerputzergesellen teilen und eine wahre Hungerkur prästieren. Einst an einem Sonntag sah ich zufällig zum Fenster hinaus. [59] Da saßen am Eckstein gegenüber drei Knaben mit einem Zwerchsack. Es waren mein Bruder Anton, ein Vetter Johannes und ein dritter mit Namen Felix Zoll. Ich eile hinunter. Sie sagen: „jetzt warten wir schon eine gute halbe Stunde und sehen immer an den Fenstern hinauf.“ „Ja warum seid ihr denn nicht heraufgekommen?“ „O wir hatten das Kuraschi nicht.“ Sie erzählten, wie sie schon morgens 4 Uhr daheim fortgegangen seien und abwechselnd den Zwerchsack getragen haben. Ich nahm sie mit hinauf. Hier aber war ihnen nicht wohl. So gingen wir vor die Stadt hinaus in ein Wirtshäuslein, tranken Weißbier und zehrten von dem Inhalt des Zwerchsacks, der in Weißbrot und Speck bestand, für mich ein Leckerbissen! Die armen Tropfen gingen noch am gleichen Tag wieder heim; es war hin und her ein Marsch von zwölf Stunden. Bisweilen geschah es, daß ein Ertinger Viehhändler, der nach Biberach reiste, mir einen Laib Brot mit Speck brachte. Zu meinem Entzücken war mehrmals in der Mitte des Laibs ein Kronenthaler, den die Mutter mit einem tiefen Messerstich hineingeschoben hatte. Einmal kam auch mein Vater mit dem schon erwähnten Krämer Augustinus, bei dem er Abendgänger[74] war, nach Biberach. Der Krämer sah mich [60] und sagte: „der Bub sieht schlecht aus und wächst unter sich wie ein Kuhschwanz. Wir wollen doch sehen, was er für ein Mittagessen bekommt.“ Wie wir am Essen sitzen, kommen die beiden und sind über unsere Spatzenbrühe wenig erbaut. Jetzt blieb ich zwar bei Meister Leonhard wohnen, der auch, als ich 1846 gefirmt wurde, mein Firmpate war und mir ein Paar Hosenträger verehrte, die Kost aber erhielt ich fortan im roten Ochsen, wo täglich zweimal Fleisch genug auf den Tisch kam. Die alte Ochsenwirtin und ihre Aushelferin, die Küferin Geis, steckten mir überdies oft noch eine Wurst oder einen Wecken in den Ranzen, so daß ich sichtlich wieder zunahm.
An die Küferin machte mich noch ein besonderer Vorfall anhänglich. Ich hatte daheim oft mit Grausen in eine eingemachte Brunnenstube durch die Bretterklumsen[75] geschaut und die Stimmen ertrunkener Kinder in der Tiefe zu hören geglaubt. Beinahe hätte sich dieses Schreckbild an mir verwirklicht. Es fiel mir eines Mittwochs nach Tisch ein, bei den drei Fallen allein zu baden. Im Begriff, über die Riß hinüberzuschwimmen, verwickelte ich die Füße in Unkraut und sank. Jetzt dachte ich noch an Vater und Mutter, [61] machte das Kreuz, fing ein Vaterunser zu beten an und preßte die Hände fest an Mund und Nase. Es braust mir in den Ohren, Funken stieben aus den Augen, noch ein Atemzug, und ich weiß nichts mehr. Wie ich wieder erwachte, lag ich auf der Wiese und vernahm von den Umstehenden, wie mir geschehen war. Der Sohn meiner Wohlthäterin Geis hatte, wie er zum Heuumwenden mit einer Gabel auf dem Rücken am Fluß hinging, eine Hand über das Wasser gucken und wieder verschwinden gesehen, war hineingesprungen, hatte mich herausgezogen und am Ufer auf den Kopf gestellt, worauf ich mich erbrach und wieder zu mir kam. Das war um halb zwei Uhr. Um drei Uhr war ich schon wieder in der Singstunde und sang aus Leibeskräften.
So kam das Jahr 1848 heran, aus dem mir hauptsächlich ein Erlebnis, der Franzosensamstag, Mariä Verkündigung, der 25. März, geblieben ist. Wir waren eben in der Pfarrkirche, Kaplan Weingart predigte. Da bemerkten wir ein auffälliges Kommen und Gehen, ein Flüstern und Zusammenstrecken der Köpfe, bis lauter und lauter der Ruf sich Bahn brach: „die Franzosen kommen!“ Nun lief, ehe noch die Predigt zu Ende war, alles weg. Draußen hörte man trommeln. Auf dem Marktplatz wimmelte es von Menschen. Durch die Thore sprengten [62] Stafetten, die Franzosen – verkündigte eine nach der andern – seien über den Rhein gebrochen, Freiburg, Lahr, Offenburg brennen schon, die Rothosen schonen das Kind in Mutterleib nicht. Jetzt wurde jeder zum Vaterlandsverteidiger. Die Metzger kamen mit ihren Schlachtmessern und Beilen, die Stadtknechte mit uralten Hellebarden und Morgensternen aus dem Stadtarsenal, die Schützen mit ihren Stutzen und Standbüchsen, die Bauern mit Sensen und Dreschflegeln. Ein herkulischer Wagner, den ich vom Ochsen her kannte, wo er seine Kraft im Leeren von Maßkrügen übte, zeigte sich mit einer Mordaxt und zwei Pistolen im Gürtel, was einen bedeutenden Eindruck auf mich machte. Die Stadtmauer hatte zwei Lücken, eine da, wo früher das Waldseeer Thor stand, die andere beim Gymnasium. Diese Lücken sollten mit eichenen Schwellen ausgefüllt werden. Uns Studenten entbot man ins Gymnasium. Der Rektor Krafft eröffnete uns, daß alle Auswärtige heimeilen sollen, ausgenommen die, welche in den Oberämtern Riedlingen und Saulgau zu Haus seien, denn diese liefen den Franzosen gerade in die Hände. Das focht uns Riedlinger aber nicht an, sondern wir beschlossen, gleichfalls heimzugehen und, wenn die Franzosen in Sicht wären, durch die Wälder uns zu flüchten, nötigenfalls aber als Trommler mitzuziehen und [63] bei Gelegenheit durchzubrennen. Der Hausherr Leonhard war im Besitz eines längst eingerosteten Stadtsäbels, den er bei ausbrechender Feuersbrunst als Ordner zu tragen hatte. „Buben“, sagte er zu uns, „stemmt euch mit den Füßen gegen die Stubenthürschwelle, haltet die Scheide fest und ziehet, speit aber vorher in die Hände. Ich will mich nach der anderen Seite stemmen und am Säbel ziehen.“ Wir zogen, ruhten aus, zogen noch einmal, ein Ruck, und der Hausherr lag mit dem ausgezogenen Säbel am Boden. Welche Freude, der Säbel ist heraußen! Hurtig eilte der Hausherr in die Schleifmühle und ließ ihn schärfen. Nun kam er mit der Mordwaffe zurück. „Buben“, sagte er, „stehet dort in die Kammer hinein, daß ich euch zeige, wie man die Franzosen zusammensäbelt.“ Gesagt, gethan. Er streckte den Säbel aus und fuhr auf dem Absatz herum – „so macht man’s!“ Mittlerweile kam die Nachricht, Rottweil, Mößkirch, Sigmaringen, Mengen stehen in Flammen. Da stellte sich bei dem Guten sein altes Bauchweh ein. „Hanne, ich weiß nicht, mein Krümmen kommt scheints wieder. Mach mir einen Pfeffermünzthee, ich muß schwitzen. Oder schick zum Doktor.“ Anderen Tags wanderten wir Buben fröhlich zum Thor hinaus. Im Burrenwald begegneten uns Biberacher, die als Kundschafter nach Riedlingen geschickt [64] worden waren. „Wohin?“ sagten sie. „Heim,“ war unsere Antwort. „Kehrt nur wieder um, der Krieg ist aus, 40 000 Schwarzwälder Bauern haben die Franzosen aufs Haupt geschlagen. Doch so leicht ließen wir die Vakanz nicht fahren und zogen weiter. In Uttenweiler stand eine Wache von vier Männern, die streckten uns ihre Sensen entgegen und riefen: „Halt, werrr da?“ „Gut Freund,“ sagten wir. Denn so viel hatten wir in der kurzen Kriegszeit schon gelernt. Darauf schulterten die Sensenmänner und sagten: „ja, Buaba, wo wand er denn na?“ „Heim,“ sagten wir, „wir sind Studenten.“ In Riedlingen war ein gewaltiger Lebtag. Auf dem Marktbrunnen stand einer und ließ die 40 000 tapferen Schwarzwälder leben. Als ich nach Haus kam, sagte meine Mutter. „Gott Lob, daß du da bist. Was hab ich für Angst um dich ausgestanden! Denk dir nur, man hat uns sechsunddreißig Mann ins Quartier angesagt, jetzt haben wir für sechsunddreißig Mäuler grünes[76] Fleisch und geschnittene Nudeln gerüstet. Kommen sie nicht, so müssen wir die ganze Woche Kirchweih halten. Da bist du eben recht gekommen.“ Der Vater lachte dazu. Er war der einzige im Rat gewesen, der den Lärm eine Komödie [65] genannt hatte, sintemalen die Franzosen nicht fliegen können. Als ein paar Kerle, die sich auf das Plündern freuten, zu ihm kamen und sagten: „Bauer, hast auch noch viel Frucht auf der Laube? Wir kommen jetzt nächstens zum Fassen!“ erwiderte er: „wenn ihr die Hälse brechen wollt, könnt ihr’s ja probieren!“
Es war dies der zweite Franzosenschrecken, den ich erlebte. Den ersten hatten wir im Jahre 40 gehabt. Es war ein Sonntag Nachmittag. Ich balancierte eben auf einem langen Stück Bauholz bei der Bettelschmiede. Kommt der Lumpenpauli und sagt: „jetzt kommen sie bald.“ „Wer denn?“ hieß es. „Nun,“ war die Antwort, „wißt ihr’s denn noch nicht, die Franzosen!“ Die böse Mär verursachte allgemeines Gejammer. Man erzählte sich die Erlebnisse der napoleonischen Kriegsjahre, wie einmal drei Tage lang die Russen durch das Dorf marschiert seien, so viele neben einander, als nur die Straße verschlucken konnte, und wie nicht bloß die Fremden, sondern auch die Oesterreicher, vorab die Rotmäntel, um kein Haar besser gehaust haben als seiner Zeit der Schwed. „Ja, ja,“ sagte die Gebhardin, „so wird’s wieder kommen, denn das Ende der Welt naht und der Antichrist und seine Soldaten werden alles martern und umbringen, was nicht an ihn glauben will. Das habe ich von meiner Nahne gehört, die sehr alt geworden [66] ist, und deren ihre Nahne ist auch sehr alt geworden, die hat ihr noch vom Schwedenkrieg erzählt, und was für eine Bewandtnis es mit dem Rauhenlehberg hat, das weiß man ja!“ Den besagten Berg – so viel war mir kund geworden – sollten die Schweden zusammengetragen haben, um darunter ihren toten Oberst zu begraben. Aber die Gebhardin wußte offenbar noch ein Mehreres von ihm und es ließ mir keine Ruhe, dieses Wissens auch teilhaftig zu werden. „Michöl,“ offenbarte mir da die Quelle, wo ich oftmals meinen Wissensdurst löschte, nämlich ein alter Nachbar, der als Kindsmagd gebraucht wurde und bei dieser Dienstleistung gerne mit sich und mir redete, „wenn dich der Fürwitz sticht, an einem Märzenfreitag um Mitternacht auf die Riedstraße hinauszugehen, so wirst du einen feurigen Wagen herabrollen sehen, in dem Spielleute aufmachen[77]. Dieser Wagen fährt in den Rauhenlehberg hinein, und die drin sitzen, nennt man Muotisheer.“
Hier endet leider die Aufzeichnung, welche unser verewigter Freund über sein Leben hinterlassen hat. Aber wir müßten uns sehr täuschen, wenn seine Gedichte nicht eine Fortsetzung und Ergänzung des [67] Mitgeteilten, nicht er selbst, wie er leibte und lebte, wuchs und verharrte, wären. In dieser Unmittelbarkeit liegt der Wert, den sie für diejenigen haben, welche mit dem Trefflichen in näherer Verbindung zu stehen das Glück hatten, hierin aber auch ihr sprachlicher und poetischer Wert. Der Dichter spricht nicht ein Mischmaschschwäbisch, sondern die rauhe aber unverfälschte Sprache seines geliebten Dorfs, deren Eigenart in Ton und Klang, Wort und Bild ihm in Fleisch und Blut sitzt und aus allen Poren quillt. Und was Julius Klaiber von der schönen Bussenschrift[78] urteilte, sie habe ihn angemutet wie ein Ruch aus der frisch geöffneten Ackerscholle, das wird auch von den Gedichten in ihrem seltenen Zusammenklang von Inhalt und Form gelten.
Frühzeitig und gleichzeitig entwickelten sich in ihm der Heimatforscher und der Heimatdichter. Er war noch Zögling des Ehinger Konvikts, als er sich in den Altertumsverein zu Riedlingen aufnehmen ließ und demselben seine Sammlung volkstümlicher Sagen, Sprüche, Formeln und Gebräuche zur Verfügung stellte, und schon auch versuchte er seine Kindheitserinnerungen zu einer Geschichte im Tone des [68] Simplicissimus zu gestalten. Dann folgten Sturm- und Drangjahre, wo es in dem Jüngling wuselte wie in einem frischaufgescharrten Klemmerhaufen, wo es ihn hinaustrieb unter den gestirnten Himmel und hinein in die Tiefen des denkenden Menschengeistes. Er brach mit der Theologie, bezog die Tübinger Universität als Mediziner, schwamm mit tausend Masten im Ozean der Wissenschaften, machte, der fröhlichsten einer in der Landsmannschaft der Ulmer, gelegentlich die Bekanntschaft mit dem Hohenasperg, riß vor den Brotstudiumsmahnungen der Seinigen nach München aus, erwarb dort den Doktorgrad und lebte von des Tages Harm in der Künstlerrunde zum Krokodil auf, und schon hatte er sich als Arzt auf dem Postschiff Nelson verdingt, um in der neuen Welt sein Glück zu gründen und „die ewigen finanziellen Katzbalgereien“ sich vom Halse zu schaffen, als jemand ein Entweder - Oder sprach, das die Abenteuerfahrt wie einen schweren Traum von ihm abschüttelte.
Dieser jemand war eine holde, ihn so innig als verständnisvoll liebende Braut Crescentia, die Tochter des Mohrenwirts in Bach und späteren Posthalters in Zwiefalten, Lazarus Brandegger, für unseren Freund „der unvergleichliche Regulator“ seiner erregbaren jähschlüssigen Natur. „Seinen [69] Neigungen, seiner Heimat, seiner Poesie, seinem innersten Wesen wie neugeschenkt“ bestand er unverweilt die erste und ein Jahr später nach mehrmonatlichem Aufenthalt in Wien die zweite Staatsprüfung, zwischen die Vorbereitung hinein Holländisch und Flämisch treibend, durch Keller und Birlinger bei Uhland eingeführt, mit den Herzbrüdern Binder und Holland lustig im alten Sagenschachte weiter hämmernd und pochend und daneben der Ilge am Bach mit minniglichem Sange wartend: „wohl mir und meinem Kinde, ich fings in alle Winde, ich bin unmaßen reich.“
Auf die Einladung seines altvertrauten Sturmgenossen Schmid, des jetzigen Staatsministers, ließ sich Buck zunächst in der Heimat des Freundes, in Munderkingen, nieder, bis er im Dezember 1858 eine Berufung nach Königseggwald erhielt. Dorthin führte er an einem Maitag 1859 die Vielgetreue heim. Martini 1860 siedelte das glückliche Paar nach Hohentengen über. 1865 bis 1874 wurde in Aulendorf Freud und Leid geteilt. Die letzte Station war Ehingen, nach kurzer Lust an dem lieblichen Heim, das er sich im Grünen außerhalb der alten Stadtmauer erbaut hatte, durch ein schmerzvolles Nierenleiden eine wahre Leidensstation, aber auch eine Zeit fruchtbarsten Schaffens und inneren Reifens. Der Austausch mit alten und [70] neuen Freunden und Fachgenossen, den Münchnern, den Ulmern, mit Bacmeister, Hartmann und zuletzt namentlich mit Ludwig Baumann, die sich mehrende Anerkennung, welche den bedeutsamen Ergebnissen seines rastlos auch im Krankenstuhle fortgesetzten Forschens weit über die Grenzen des Vaterlands hinaus zu teil wurde, die Verbindung seines einzig ihm verbliebenen Kindes Oda mit einem Manne nach ihrem und der Eltern Herzen, Archivrat Aloys Schulte, waren die Lichtblicke der letzten Jahre des ergebenen Dulders. „So viel,“ hatte er einst geschrieben, „schwebt mir vor, daß ich in etwas sattelfest werden muß, wenn ich mit mir zufrieden werden will.“ Rühmlichst hatte er dieses Ziel erreicht, sich zuletzt noch in der Fehde, die um sein oberdeutsches Flurnamenbuch entbrannte, als überlegenen Kämpen, als gründlichsten und feinfühligsten Kenner der Heimat erwiesen. Da am 15. September 1888 gieng er in die ewige Heimat ein.
Wenn Buck von seiner wissenschaftlichen Thätigkeit sagen konnte, es möge ein voller Tropfen adamitischen Bluts – dessen, der allen einen Namen gab – in seinen Adern kreisen, daß sein Gehirn fort und fort in den Gedankenlauf eines Namenforschers hineintreibe, so scherzte er über sein Dichten als „eine Art Ausschlag seines Geistes“: „mich juckt [71] es wieder zu reimen“, „mir fahren so kunterbunte Gedanken durch den Schädel, als ob eine Kolonie von Erdmännlein ihren Sitz darin aufgeschlagen hätte“, Bilder, die für das Naive seiner Gedichte, wie für ihr Bodengefährt – wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck vom Weine zu entlehnen, nicht bezeichnender sein könnten.
Eine Anzahl der in unserer Sammlung enthaltenen Stücke mag dem Leser bereits aus dem schwäbischen Dichterbuch von Eduard Paulus und Karl Weitbrecht (Stuttgart 1883) und aus R. Weitbrechts und G. Seuffers Schwobaland (Ulm 1885) oder auch aus Birlingers Alemannia II bekannt sein. Einige Textabweichungen rühren von dem Vorhandensein mehrerer Vorlagen in verschiedener Fassung her.
In der Schreibweise wurden im wesentlichen die von Karl und Richard Weitbrecht[79] aufgestellten Grundsätze zur Anwendung gebracht. Das erforderlichen Falls angebrachte Häckchen hinter einem Vokal oder Diphthong deutet den Nasenlaut, das Dach über o den Mittellaut zwischen a und o an. Für st im In- und Auslaut wurde der schwäbischen Aussprache gemäß scht geschrieben. Die gleiche Rücksicht glaubten wir in allen denjenigen Fällen üben zu sollen, wo die schwäbische Wortform, beziehungsweise [72] die heimatliche des Dichters, zu charakteristisch tönt, um den Ersatz durch die dem Auge gefälligere schriftdeutsche ohne Einbuße zu ertragen. Wir behielten also z. B. für zählen zälla, für Haus Hous, für Aepfel Oepfel bei, schrieben aber nicht Vatter sondern Vater, nicht onder sondern unter, nicht send sondern sind, nicht brever sondern bräver u. s. w. Die Unmöglichkeit, hiebei nach einer strengen Regel zu verfahren, war nicht eine Erleichterung sondern eine Erschwerung der dem Herausgeber obliegenden Aufgabe. Wechselformen der Mundart, wie Muatar und Muater, Büabli und Büable, die, dia und de, wurden selbstverständlich nicht verwaschen.
Ungerne fügten wir Worterklärungen bei. Allein sie ließen sich kaum umgehen, wenn nicht die Deutlichkeit leiden sollte. Und so galt es, aus der Not eine Tugend zu machen. Möge nicht des Guten hier zu viel dort zu wenig geschehen sein!
Heilbronn, Weihnachten 1891.
Friedrich Pressel.
Anmerkungen der Vorlage
- ↑ Nach einer Aufzeichnung des Dichters aus dem Anfang der achtziger Jahre, welche die Aufschrift „Meinem lieben Kinde Oda“ trägt, mit Benützung einer älteren Fassung und des übrigen Nachlasses.
- ↑ Poltergeist.
- ↑ Entweder = mir über oder = mehr als Ihr.
- ↑ Am 23. April zu St. Jörgenkapelle vor dem Dorf an der Riedlinger Straße. Ein Ertinger Bürger als St. Jörg gekleidet mit der St. Jörgenfahne in den österreichischen Farben Weiß und Rot ritt auf einem Schimmel dem Zug voran. In der Kapelle wurde ein Hochamt gehalten mit Einsegnung der Pferde. Hierauf Umritt um den Esch. Der Pfarrherr ritt, das Allerheiligste vor der Brust mit. Kloster Heiligkreuztal und der Patron hatten das Vorrecht auf Schimmeln zu reiten.
- ↑ Moos.
- ↑ Allmandteil.
- ↑ Mannsmahden.
- ↑ Streitig.
- ↑ Bezeugung.
- ↑ Krug.
- ↑ Elster.
- ↑ Gehölz.
- ↑ Großvater.
- ↑ Saurer Milch.
- ↑ Großmutter.
- ↑ In der Aufregung schlägt man in Oberschwaben nachdrückliche Wörter mit H an. Ackerment Glimpfform, Karnale = Canaille.
- ↑ Nach der rechtwinkligen Form der Pfeife.
- ↑ Aus leinenem und wollenem Zeug.
- ↑ List.
- ↑ Weiter Haarkamm.
- ↑ Enger Haarkamm.
- ↑ Werktagskleidung.
- ↑ Faulbett.
- ↑ Übriggebliebenen.
- ↑ Eherner.
- ↑ Krüge.
- ↑ Bockbeutelartige Branntweinflasche.
- ↑ Opernment, Arsenik und Schwefel.
- ↑ Schuhlöffel.
- ↑ Kleine Flur.
- ↑ First.
- ↑ Eulenspiegel.
- ↑ Rahmenwerk.
- ↑ Pflaumenbaum.
- ↑ Raum zur Bergung vor dem Feind.
- ↑ Langsamer Mensch.
- ↑ Verlobungstag.
- ↑ Maultrommel.
- ↑ Scharlachrot.
- ↑ Phantasien.
- ↑ Gespann.
- ↑ Felgen.
- ↑ Voreisen.
- ↑ Pflugbaum.
- ↑ Kerle.
- ↑ Häckerling.
- ↑ Geburtstagsbegrüßung.
- ↑ Narren.
- ↑ Kamm.
- ↑ 500 Fäden.
- ↑ Hanfausraufen.
- ↑ Samenkapselntrocknen.
- ↑ Bolongaro, Schnupftabakgattung.
- ↑ Weidenbaum.
- ↑ schneefrei.
- ↑ Halbstiefel.
- ↑ Schlüsselblumen.
- ↑ Veigelen, Veilchen.
- ↑ Bocksbart, auch Habermark, Gukkigauch genannt.
- ↑ Wilde Nelken.
- ↑ Löwenzahn.
- ↑ Rohr, dem ein zitternder Ton entlockt wird.
- ↑ Stoppelfeld.
- ↑ Das Schneidern in den Häusern für Taglohn.
- ↑ Heiligenbilder.
- ↑ Name einer alten lateinischen Schulgrammatik.
- ↑ Gewandname.
- ↑ Jungholz.
- ↑ Kurze Steige.
- ↑ Kaum.
- ↑ Halbsammet.
- ↑ Jacke.
- ↑ Kurz geschorener Kopf mit langem Nackenhaar.
- ↑ Mit dem er abends zum Plaudern zusammenkam.
- ↑ Spalten.
- ↑ Frisches.
- ↑ Aufspielen.
- ↑ Württ. Neujahrsblätter her. v. Prof. Dr J. Hartmann, Heft 3. Auf dem Bussen. Eine kulturgesch. Rundschau v. Michel Richard Buck. Stuttg. 1886.
- ↑ Nohmôl Schwôbagschichta. Stuttgart. W. Kohlhammer. 1882. VI ff.