Eine religiöse Auction
Die Sonne war dem Untergange[WS 1] nahe, als wir, d. h. meine Frau, mein Freund und ich, von unserm Hotel Majolica aus eine Kahnfahrt auf dem Comer See machten. Auf den Höhen wie auf dem Wasser lagerte eine unbeschreibliche Ruhe, die ganze Natur, auf deren Augen nach des langen Tages Hitze schon während der letzten halben Stunde die Müdigkeit schwer gelastet hatte, war schlafen gegangen. Die Sonne sank tiefer, schon war es ziemlich finster geworden, als plötzlich unser Gefährte ausrief: „Eine Illumination!“ Ich sehe mich um, und richtig war das jenseitige Ufer weiter nach Süden zu von unzähligen kleinen Lampen erleuchtet, die wohl eine Viertelmeile lang unmittelbar am Wasser aufgestellt waren. „Das müssen wir sehen!“
Wenige Minuten angestrengten Ruderns brachten uns der Illumination gerade gegenüber. Wir hielten vor der Villa Carlotta. [062] Da sahen wir, daß außer der Reihe dichter am Ufer entlang etwas weiter zurückstehend ein großes Portal, wie etwa das einer Kirche, glänzend erleuchtet war mit hellen, farbigen Lampen, die sich alle im Wasser widerspiegelten. Die Wirkung war zauberisch schön und wurde noch erhöht durch den Contrast der Sycomoren- oder Platanenallee, die sich an unserem Ufer zu beiden Seiten der genannten Villa hinzieht und deren majestätische Bäume in der dunkeln Nacht wie rabenschwarze, gespenstische Gestalten drohend emporragten. Die Lichtchen am jenseitigen Ufer schienen bei jeder Bewegung des Bootes im Wasser zu tanzen und in graziösem Spiele die schwarzen Kobolde auf unserer Seite zu necken und lachend zu verspotten. Es wurde uns schwer, uns von dem reizenden Anblick loszureißen; aber es wurde kalt und die Klugheit mahnte zur Heimkehr, auf der wir uns in verschiedenen Muthmaßungen über die Bedeutung und Veranlassung der Illumination ergingen. Darüber waren wir einig, daß sie Theil einer kirchlichen Feier sein müsse, doch konnten wir uns nicht recht erklären, warum sie sich nur auf den einen Ort beschränke und warum nicht auch Bellaggio, oder Tremezzo, oder Cadenabbia und andere am See gelegene Dörfer ebenso illuminirt seien.
Im Hotel angelangt, erfuhren wir bald, daß am folgenden Tage ein Marienfest stattfinden würde, das jedes Jahr in dem erleuchteten Oertchen mit großen Feierlichkeiten begangen, dieses Jahr aber mit besonderen Kundgebungen der Freude gefeiert werde, weil der Graf Melzi, dessen schöne Villa, wie sich Jeder, der am Comer See gewesen, erinnern wird, südlich von Bellaggio gelegen ist, gerade in der Mitte zwischen Bellaggio und dem Dörfchen San Giovanni, in dem das Fest stattfindet, die Kirche dieses Oertchens mit einem neuen Marienbilde schmücken werde. Die Illumination am Vorabend sei der Anfang des Festes. Unsere gefällige Wirthin erzählte uns, daß gewisse, ganz eigenthümliche Gebräuche dabei beobachtet würden, die zu gleicher Zeit unterhaltend und interessant seien. Natürlich beschlossen wir sofort, am folgenden Tage der Feierlichkeit beizuwohnen.
Schon am Morgen gewährte der sonst so ruhige See einen ungewöhnlichen Anblick, und das rege Leben auf seinem Spiegel verkündete, daß etwas ganz Besonderes an seinen Ufern vorgehen würde. Die Dampfboote brachten vom Norden wie vom Süden Hunderte von Personen zu den benachbarten Stationen, und zahlreiche Barken fuhren in allen Richtungen hin, Gäste bringend und holend. Gegen zwei Uhr des Nachmittags stiegen wir in die Gondel des alten getreuen Andrea, dessen schüchterne Frage: „’na barca ’sta mattina, Signore?“ (Keine Barke diesen Morgen, mein Herr?) gewissenhaft jeden Morgen wiederholt, gewiß kein Besucher der Majolica vergessen hat. Das Boot war festlich bekränzt und das Tuch, welches zur Abhaltung der Sonnenstrahlen darübergespannt war, glänzend weiß. Von allen Seiten kamen die Nachen der Dorfbewohner im schönsten Schmuck, meist mit einer großen, roth, grün und weißen Fahne, die blendend weißen Barken der Edelleute mit ihren goldenen Verzierungen und bunten Fahnen mit dem Familienwappen, alle fuhren sie, große und kleine, reiche und arme, schnelle und langsame, nach dem festlichen Dörfchen hin, eine ansehnliche Flotte bunter Schiffchen. Das Wetter begünstigte die Feier. Die Sonne schien glänzend hell und der Tag war nicht zu heiß.
Der kleine Hafen, in dem man landete, ist unmittelbar an dem Platze vor der Kirche, dessen Portal wir den Abend vorher so schön erleuchtet gesehen hatten; zwei herrliche Kastanienbäume von großem Umfange, die dicht am Ufer standen, begrenzten ihn nach Nord und Süd; unter ihrem Schatten lagerten sich die Wenigen, die dem Schauspiel nur von ferne zusehen wollten. Alles drängte sich nach der Kirche, um die neue „goldene“ Madonna zu sehen. Die Menschenmasse war aber so groß und so dicht, daß wir es wenigstens vor der Hand aufgaben, dieses Meisterwerk in Augenschein zu nehmen. Zur Seite der Kirche steht ein anderes Gebäude, das wie eine kleine Kapelle oder wie ein Schulhaus aussieht. Vor diesem schien es lustig herzugehen. Eine Musikbande spielte heitre Melodieen, und eine große Anzahl Menschen stand um die Thüre herum versammelt. Dahin lenkten wir unsere Schritte. Ueber der Menge ragte ein Mann hervor, der eben einen großen Kuchen in die Höhe hielt und laut ausrief: „Dreißig! Vierzig! Fünfzig!“ u. s. f., gerade wie in einer Versteigerung. Als wir näher kamen, hörten wir auch Leute aus der Menge bieten und endlich, wie der Kuchen zu dem enormen Preise von einem Franken und fünfzig Centimen zugeschlagen und von dem glücklichen Ersteher in Empfang genommen wurde. Also eine wirkliche Auction! Der nächste Gegenstand, der von dem Manne, welcher, wie wir jetzt sehen konnten, auf einem Tische stand und einen langen Mantel, einem alten Schlafrock nicht unähnlich, an hatte, zum Verkauf ausgeboten wurde, war ein lebendiges Huhn, das er an den Beinen in die Höhe hielt und dessen fruchtlose, laute Demonstrationen gegen diese unziemliche Behandlung allgemeine Heiterkeit erregten; und auch dieses Huhn ward unverhältnißmäßig theuer bezahlt. Wir konnten uns diesen Theil des Festes gar nicht erklären. Wir hatten nur bemerkt, daß das Huhn aus dem Schulhaus herausgebracht wurde.
Um Aufschluß über die Bedeutung dieser Versteigerung zu erlangen, in der eine nicht wohlhabende Bevölkerung vergleichsweise hohe Summen für Artikel bezahlte, die sie doch selbst producirte, suchten wir in das Haus zu gelangen, in welchem die Scene vorging. Die Leute waren sehr gefällig und wichen sofort auseinander, um uns Platz zu machen; der Eintritt in dieses Heiligthum, der den Landleuten untersagt zu sein schien, ward uns als Fremden ohne Weiteres gestattet. In diesem Schul- oder Betsaale waren auf den an den Wänden ringsherum angebrachten Tischen allerhand Gegenstände aufgestellt, welche, einen nach dem andern, ein Kirchendiener, gleichfalls in verblichenem Kattunmantel, zur Versteigerung hinaustrug. Große Kuchen und Torten, Teller mit colossalen Pfirsichen, Körbchen mit prächtigen Trauben, Feigen und anderen Früchten, Flaschen Wein und Most, Lorbeerzweige mit kleinen todten Krammets- und andern Vögeln behangen, deren buntes Gefieder gar wunderbar gegen die grünen Blätter und rothen oder blauen Bänder, mit denen sie angebunden waren, abstachen, todte und lebendige Hühner, Gänse und Enten und allerlei andere Gegenstände der Art, aber Alles Naturproducte, zubereitet oder unzubereitet, Alles war nebeneinander aufgestellt, offenbar ohne bestimmte Ordnung, und wurde Stück um Stück von dem beschlafrockten Pedell zur Versteigerung hinausgetragen. An einem kleinen Tischchen in der Mitte des Saales saß ein Mann und notirte die Gegenstände sowie die Preise, die dafür gezahlt wurden. Ein junger Geistlicher, der sich auch die Sachen besah, erzählte mir auf mein Befragen, was es für eine Bewandtniß mit dieser Auction habe, Folgendes:
Nach einer allen Sitte bringen die Bewohner des Kirchsprengels alljährlich an einem bestimmten Marientage den Geistlichen der Kirche Früchte und andere Naturproducte zum Geschenk. Die Geistlichen können natürlich die Sachen nicht alle selbst verzehren und lassen sie daher, das Ding vom praktischen Gesichtspunkte auffassend, am Nachmittage des Festes versteigern. Diese Versteigerung ist der Mittelpunkt des Festes, und um ihr beizuwohnen, versammeln sich an dem Tage fast die Umwohner des ganzen Sees in dem Dörfchen. Die jungen Burschen sind die hauptsächlichsten Bieter und machen ihren Geliebten mit der erstandenen Waare, die sie ihnen im Triumph bringen, ein Geschenk. Je höher der Preis ist, den der Freier für die Liebesgabe zahlt, für desto größer wird seine Zuneigung gehalten. Auf diese Weise setzen die Geistlichen ihre Geschenke in klingende Münze um, und die Sitte, die sie auf alle Fälle keine Veranlassung haben zu unterdrücken, hat zur Erhöhung der Preise die mächtigste aller menschlichen Leidenschaften, die Liebe, in Bewegung gesetzt.
Der junge Geistliche führte uns sodann durch ein Hinterpförtchen in die Kirche, um uns das neue Madonnenbild zu zeigen, eine große, mit Flitter und Seide behangene Puppe: wir aber zogen es vor, sobald als möglich wieder zum Feste zurückzukehren. Hinter der Menschenmasse, die den Versteigerer umgab, war, was wir vorher gar nicht bemerkt hatten, ein großer Platz reservirt, auf welchem der Adel und die sonstigen reichen Besitzer der Umgegend mit ihren Familien und Gästen saßen. Unser Gondolier brachte uns Stühle, und ermüdet, wie wir vom langen Herumstehen und Gehen waren, nahmen wir Platz, um dem Volksfeste noch etwas zuzusehen und die Menschen zu betrachten. Und wirklich ein Volksfest war es, zu dem die Leute von nah und fern in ihrem besten Schmuck gekommen waren. Das Landvolk in dieser Gegend hat keine absonderliche Tracht; die Männer, meist sehr schöne, kräftige Gestalten, sind ungefähr so gekleidet, wie wohlhabende Bauern bei uns, und das Einzige, was die Frauen wesentlich von unseren Bäuerinnen unterscheidet, ist der große Kamm in Form einer Strahlensonne, den sie hinten in’s Haar stecken. Je nach [063] dem Reichthum der Besitzerin ist er von Horn, von Silber, ja von Gold, oder wenigstens vergoldet. Einige junge besser gekleidete Mädchen, wahrscheinlich Gäste von Como oder andern Städtchen des Sees, hatten einen schwarzen Schleier über ihrem Kopf hängen, der in Mailand und weiter südlich einen gewöhnlichen Ersatz des Frauenhutes bildet. Man kann die Frauen am Comer See im Allgemeinen nicht hübsch nennen, die Backenknochen stehen zu sehr hervor, nichts destoweniger geben ihre dunkeln Augen dem Gesicht einen großen Reiz, und man kann es wohl verstehen, daß ein junger Bursch mit Freuden einen ganzen Wochenlohn für ein Geschenk hingiebt, das ihm einen dankenden Liebesblick von den dunkeln Augen seiner Angebeteten einbringt.
Ungezwungen gaben sich Alle dem Vergüngen des Tages hin. Und wirklich, wenn man die zufriedene Heiterkeit dieser Menschen sieht, wie sie bereit sind, auf jeden Scherz einzugehen, wie geneigt, aus den geringfügigsten Veranlassungen Freude zu schöpfen: wenn man ihr herzliches, aber weder unmäßiges, noch tolles Lachen hört, wie z. B. die Gans, als sie versteigert wurde, gegen die gewaltsame Herrschaftsveränderung durch energisches Schnattern protestirte; wenn man die Ordnung sieht, die dabei herrscht, die Abwesenheit aller Rohheit, alles Trinkens, ohne dessen Excesse bei uns im Norden kein Volksfest gedacht werden kann – dann wird man unwillkürlich von dem Geiste dieser harmlosen Heiterkeit angesteckt und vergißt sogar, über die schlaue Erfindungskraft der Geistlichkeit zu speculiren, die gewiß einen großen Gewinn von diesem Feste zieht, einen Gewinn, zu dem Jeder der Beisteuernden mit Freude und Stolz beiträgt.
Sehr unterhaltend war es auch, die sogenannten Honoratioren zu beobachten. Die Frauen, die sehr elegant, reich und mit vielem Geschmack gekleidet waren, hatten in ihrer Toilette wie in ihrem ganzen Wesen etwas Ungekünsteltes und Selbstbewußtes, wodurch sie sehr vortheilhaft von den Herren abstachen, die in ihrem Aeußern wie in ihren Bewegungen etwas entschieden Unfreies hatten. Die älteren, geschniegelt und gebügelt, abgelebte Roués, wie man sie in der ältern Komödie zu finden gewöhnt ist, zum Theil mit sehr unangenehmem, niedrigem Ausdruck, waren ganz das Bild einer seit Jahrhunderten abgeschlossenen Aristokratie. Die Jüngeren, als ob sie das theilweise Lächerliche der alten Herren sähen, suchten sich freier zu kleiden, offenbar in Nachahmung des englischen Gentleman. Aber man bemerkte auf den ersten Blick, daß das ein ihnen fremdes Element war; daher gelang es Keinem so recht. Man sah die Absicht im Schnitt des Bartes, wie der Kleider, sich zu englisiren, während doch die Natürlichkeit und Absichtslosigkeit gerade das Hauptkennzeichen eines Gentleman ausmacht, im Benehmen, wie im Anzuge. Indessen störte die „Aristokratie des Sees“ das Vergnügen des Volkes in keiner Weise; im Gegentheile nahm sie wirklich Theil am Feste, sie lachte so herzlich, wie die Andern, wo es etwas zum Lachen gab, und wie sie zu den dargebrachten Früchten mit beigesteuert hatte, so half sie auch bei der Versteigerung. Das Volk bewegte sich so ungebunden, als ob sie gar nicht zugegen gewesen wäre.
Die Auction übte ihre Anziehungskraft ungeschwächt, bis alle Geschenke versteigen waren. Diejenigen, die sich nicht an ihr betheiligten oder die bereits ihre Einkäufe für ihre Geliebten gemacht hatten, schlenderten umher und begrüßten Freunde oder Bekannte von andern Gegenden des Sees, tauschten ein paar Worte aus mit Diesem und Jenem, scherzten und lachten, während die Kinder unter den mächtigen Kastanienbäumen zur rauschenden Musik tanzten und sprangen, oder sich an den schönen Weintrauben labten, die ein paar Hökerinnen zum Verkauf ausboten.
Auf diese Weise verging der Nachmittag in Heiterkeit und Frohsinn, und als die Sonne anfing, sich hinter den Bergen zu versenken, fuhren Alle in ihren Gondeln und Barken von dem kleinen Hafen nach Hause. Bald war der See wieder bedeckt von mehr als hundert Schiffen, die sich nach allen Richtungen hin zerstreuten und aus denen allen fröhliche Gesichter herausschauten.
So endete das Fest zur Zufriedenheit aller Besucher und, ich zweifle nicht, zur noch größern Zufriedenheit der Geistlichen des Kirchsprengels von San Giovanni.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Untergegange