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Einsegnungsunterricht 1917/1. Stunde

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Einsegnungsunterricht 1917
2. Stunde »
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1. Stunde
am Freitag, den 5. Oktober, vormittags 10 Uhr.
Lied 148. Psalm 25. Kollekte 225, 53[1].
Von der Kirche und ihrem ewigen Wesen.

Im Aufblick zu dem, zu dessen Ehre dieses ganze geringe Werk dienen soll, möchte ich diesen Unterricht hiermit beginnen. Möge Seine Kraft in unserer Schwachheit allewege mächtig sein! Möchte Sein Geist mir beistehen, daß ich etwas bieten könne, was den Seelen nützt und das innere Leben fördert! Möchte derselbe Geist Gottes auch in Ihnen wirken, daß diese Tage Ihnen etwas bringen für das Große, was vor Ihnen liegt. Was vor Ihnen liegt, das ist die Einsegnung.

Jedesmal zu Beginn des Einsegnungsunterrichts habe ich in irgend einer Weise und nach irgend einer Seite hin über die Einsegnung selbst etliche Worte vorangeschickt. Das möchte ich auch heute tun und möchte diesmal nach vier Gesichtspunkten über die Einsegnung zunächst etwas Weniges reden, nämlich über die Fragen: Wie weit läßt sich die Einsegnung aus der Schrift begründen? Wie hat es sich mit der Einsegnung in der Geschichte der christlichen Kirche verhalten? Wie hat sich die Einsegnung nach den Ordnungen unseres Hauses ausgestaltet? Wie will sie von Ihnen, die Sie ihr entgegengeführt werden, angesehen sein?

Wir dürfen sagen: Die Einsegnung durch Handauflegen ist biblisch. Schon im Alten Testament kommt sie vor, denn nach 5. Mos. 34 hat Mose unter Auflegung seiner Hände den Josua zu seinem Nachfolger geordnet. Merkwürdig, daß dieser Mann, der so bedeutend gewesen ist, menschlich geredet, als Staatsmann und als Feldherr, der nach dem Gesichtspunkt heiliger Geschichte Israel zur Ruhe bringen durfte im Lande der Verheißung, vorher der Diener des Mose genannt wird. Dadurch, daß er willig diente dem, den er für größer erkannte, als er selbst war, dadurch ist er tüchtig geworden| dem Volke Gottes etwas Großes zu werden. In einem andern Fall wurde allerdings im Alten Testament durch eine andere Geste, wenn wir so sagen dürfen, das Amt übertragen, als Elias den Elisa zu seinem Diener und Nachfolger berief. Nach Gottes Befehl warf er seinen Mantel über ihn zum Zeichen, daß er ihm diene, das, was zu seiner Ausrüstung gehört, ihm nachtrage, später aber diesen Mantel als Zeichen seines Prophetenstandes selbst überkommen werde. Im Neuen Testament findet sich die Handauflegung vom Herrn selbst geübt bei den Heilungen; er legte die Hände auf die Kranken, so wurde es besser mit ihnen und so hat er es auch den Seinen durch die Kraft seines Geistes verstattet. (Mark. 16, 18). Dann aber kommt die Handauflegung vor als Mitteilung des heiligen Geistes und seiner besonderen Gaben zum Dienst der Förderung des Reiches Gottes. So hören wir, daß bei den Samaritanern durch Handauflegung wunderbare Charismen, Geistesgaben, mitgeteilt wurden (Ap.-Gesch. 8). Späterhin tritt uns die Handauflegung entgegen als Einsetzung in das geistliche Amt. So mahnt Paulus den Timotheus, daß er niemand die Hand zu bald, zu früh auflegen solle (1. Tim. 5, 22); er erinnert ihn auch an die Gabe, die er selbst empfangen hat: wie es im ersten Brief (4, 14) heißt durch Handauflegung der Aeltesten und im zweiten (1, 6) durch Auflegung seiner, des Apostels Hand. Wir sehen, der Apostel und die Aeltesten zugleich haben ihm, da er in das Amt der Predigt und des Wortes berufen wurde, die Hände aufgelegt. Diese Uebertragung des Amtes durch Handauflegung schließt mehrfache Bedeutung in sich. Die Hand wird aufgelegt zunächst zum Zeugnis, daß Macht und Befugnis auf den Einzusetzenden übertragen werden; sie soll ferner bedeuten, daß die schützende Hand Gottes über denen walten wird, die in seinem Dienst im Berufe stehen und sie bedeutet im höchsten Sinn die Ueberschattung und Ausrüstung mit den Gaben des Geistes. Nun findet sich aber die Aussendung durch Handauflegung nicht nur beim Amt des Wortes selber; sie findet sich bei der Abordnung des Paulus zu seinem Missionswerk, denn unter Handauflegung der Aeltesten wurde er von Antiochia ausgesandt; aber sie findet sich auch bei solchen, die eine dienende Aufgabe in der Gemeinde hatten. Wir wissen es aus Ap. Gesch. 6, 6 von den 7 Almosenpflegern in der Gemeinde von Jerusalem. Es treten uns später die Diener oder Diakonen entgegen, die zunächst Gehilfen der Apostel und der Aeltesten in ihrem Berufe waren und dann auch äußere Dienste der Gemeinde zu leisten hatten. Diese Diener oder Diakonen werden zuerst im Philipperbrief 1, 1 genannt, dann 1. Timoth. 3, 8ff., wo nähere Anweisung gegeben wird über Aufstellung der Diener, wo auch die Anweisung steht, die für uns so wichtige, daß man sie zuerst versuchen, erproben soll, darnach lasse man sie dienen, setze sie ein in das förmliche Amt des Dienstes.| An derselben Stelle (V. 11) kommen auch nach meiner gewissen Ueberzeugung die Dienerinnen vor. Luther hat zwar so übersetzt, als ob von den Frauen der Diener die Rede wäre; „ihre Weiber“. Dieses „ihre“ steht aber nicht im Text. Es sind vielmehr die Weiber, die Frauen gemeint, die einen Dienst in der Gemeinde übernommen haben; denn erst nachher in V. 12 werden die Frauen der Diakonen ausdrücklich noch erwähnt. Ich brauche es hier nicht zu sagen, daß die Phöbe, die am Dienst der Gemeinde zu Kenchreä stand, als erste uns mit Namen bekannte Diakonisse durch Röm. 16, 1, 2 für alle Zeiten unvergessen ist. Ganz sicher sind auch diese Dienerinnen durch Handauflegen in ihr Amt eingesetzt worden. So ist es auch geblieben, solange es ein Amt der Diakonissen in der Gemeinde gab, was, wie Sie wissen, nicht allzulang der Fall war. – Späterhin hat die katholische Kirche wie vieles Andere, so auch die Einsetzung in das Amt durch Handauflegung übertrieben; sie hat ein Sakrament daraus gemacht, eine Erhebung in einen höheren Stand. Sie erteilt ihren Geistlichen nicht nur eine, sondern sieben Weihen, allerdings meist einige zugleich, die 4 niederen zusammen, die sich mehr auf den äußern Dienst beziehen, dann die 3 höheren Weihen des Subdiakons, des Diakons und schließlich des Priesters. Das ist eine falsche Ausgestaltung und Uebertreibung dessen, was wir in der apostolischen Kirche finden. Die Reformation hat gewiß wieder die richtige Auffassung von der Handauflegung gehabt; aber freilich den altkirchlichen Diakonissenberuf hat sie nicht erneuert. Das ist, wie Sie alle wissen, in der 1. Hälfte des vorigen Jahrhunderts (1836) durch Fliedner geschehen. Er wurde dazu geführt, zunächst durch seine Tätigkeit für die innere Mission, für die Rettung Verlorner, er hat zugleich auch zweifellos das Vorbild der katholischen barmherzigen Schwestern vor Augen gehabt; aber es bleibt doch merkwürdig und war eine göttliche Fügung, daß er auf die alte apostolische Kirche zurückging, den Namen Diakonissen wählte, dem durch das kirchliche Altertum innere Weihe und Würde eignete, und daß er zugleich auch bei der Einsegnung der Schwestern die Handauflegung gebrauchte. Wir fragen nun weiter: Wie verhält es sich unter uns mit der Ordnung der Einsegnung? Sie hat in unserm Hause eine Geschichte durchgemacht. Löhe ist groß durch die Fülle kirchlicher Gedanken, die in ihm waren, aber groß auch in der Fähigkeit seine Gedanken umzugestalten, wenn er sah, daß das zuerst Geplante zur Ausgestaltung sich nicht eignete. Wir wissen, was er anfangs wollte, nämlich eine Bildungs- und Uebungsstätte für solche Jungfrauen oder Witwen, die heiligem Dienst in der Gemeinde sich zu widmen gedachten. Er wollte sie zunächst nur ausbilden und einüben und dann wieder in ihre Gemeinden entlassen, ja er tat damals sogar den Ausspruch: „Je eher sie wieder hinausziehen| und unter uns fertig werden, desto besser ist es.“ Da sie entlassen wurden gab er ihnen lediglich eine Aussegnung mit auf den Weg. Doch erkannte er bald, daß für diese Gedanken die Zeit noch nicht reif sei. In einem Schreiben vom Jahr 1857, das für unser Werk bedeutsam ist und das auch eine Autorität, der Vorstand des Rauhen Hauses D. Hennig ausdrücklich als wichtige Urkunde für die Entwickelungsgeschichte des Diakonissenwesens bezeichnete, legt er seinen Schwestern dar, daß man das Ziel anders stecken müsse, daß es nicht ratsam sei, die ausgebildeten und eingeübten Kräfte alsbald wieder zu entlassen und selbständig ihr Amt üben zu lassen. Er sah, daß das Gemeindeleben noch zu schwach sei, die in die Gemeinde Entlassenen stünden noch ohne Schutz und Halt da. Er mußte beobachten, daß das Feuer der Begeisterung sehr bald wieder verglühte beim Alleinstehen und so schritt er zu dem Gedanken fort, eine Genossenschaft zu bilden, die ausgebildeten Schwestern in der Genossenschaft zu sammeln und zusammenzuhalten, sodaß ein Mutterhaus sie schütze und umschließe. Er betont es ausdrücklich: Verträge über die Uebernahme irgend welches Dienstes dürften von jetzt an nicht mehr die einzelnen schließen, sondern das Mutterhaus. Vorher hatte Löhe noch harmlos von einem Salär gesprochen, das den Schwestern zuteil werden würde, durch die Einrichtung des Mutterhauses fällt dieser Gedanke weg. Die Schwestern dienen nicht um Gehalt und Lohn; nur das was sie brauchen bietet ihnen ihr Mutterhaus. Daraus ergab sich, daß aus der Aussegnung eine Einsegnung für den Dienst innerhalb der Genossenschaft und die Zugehörigkeit zu ihr werden mußte. Er hat diese Einsegnung durchaus in kirchlichem Sinn gestaltet. Er ging auf die apostolischen Konstitutionen zurück, eine Sammlung von liturgischen Ordnungen, die aus dem 4. oder 5. Jahrhundert stammen werden, aber vielfach in ihren Bestandteilen bis ins 2. Jahrhundert zurückgehen. Das Einsegnungsgebet hat er wie bekannt diesen apostolischen Konstitutionen entnommen. Er brach auch nicht völlig ab mit der früheren Form der Aussegnung, sondern verknüpfte beides, Aussegnung und Einsegnung. Aussegnung durch die Vertreterinnen der Genossenschaft, welche damit die Schwestern gleichsam darstellen als solche, die würdig und tüchtig seien aufgenommen zu werden zum Beruf der Diakonissen, und Einsegnung durchs geistliche Amt als Ausrüstung mit Gaben des heiligen Geistes.
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Wie soll diese Einsegnung nun von Ihnen angesehen werden? Das werde ich kaum erst zu sagen brauchen: Ja nicht als eine bloße Form – ich denke dieser Gedanke liegt wohl allen fern –, aber auch nicht als eine Leistung, die Sie vollbringen. Wohl stellen Sie sich selbst aus freiem Entschluß kraft der Erkenntnis der göttlichen Lebensführung zu dem Beruf dar, aber nicht in dem| Sinn, daß Sie damit etwas Besonderes leisten wollten und sollten. Die Einsegnung und Ihr ganzer Beruf will von Ihnen angesehen werden als Gabe von oben. „Ich darf dienen – mein Lohn ist, daß ich darf,“ das ist Löhes so deutlich ausgesprochene Meinung gewesen. So ist die Einsegnung, der Sie entgegengehen, zunächst die feierliche Aufnahme in die Genossenschaft. Sie sind bisher der Genossenschaft, wie wir zu sagen pflegen, angegliedert gewesen; nun folgt die völlige Eingliederung in die Gemeinschaft der Diakonissen Neuendettelsau’s. Ferner will die Einsegnung von Ihnen angesehen sein als Annahme für den Dienst der Gemeinde Christi. Man könnte fragen, ob eine Privatanstalt, deren Pfarrer und Leiter wie wir alle kirchenrechtlich lediglich als Hausgeistliche behandelt werden, auch kirchlich angesehen das Recht besitzt für den Dienst der Gemeinde Christi Jungfrauen aufzunehmen? Ich sage, wir haben das Recht kraft höherer, geschichtlich gewordener Vollmacht. Aehnlich wie das Missionswerk, dieses höchste und wichtigste Werk, das so unmittelbar auf dem Befehl Christi an seine ganze Kirche ruht, auch von privaten Missionsvereinen durch die geschichtliche Führung Gottes ausgeübt wird, so auch dieses Werk für innern Ausbau und Förderung der Gemeinde Christi. Es ist weiter die Einsegnung die Zusicherung von Gaben des heiligen Geistes für den Beruf. Es kann gefragt werden, wie wir uns diese Zuwendung der göttlichen Geistesgaben zu denken haben. Sind es wunderbare Gaben, die den Menschen sozusagen mit Gewalt von seiner Naturseite her erfassen, wie etwa das Zungenreden in der ältesten apostolischen Kirche? Nein, wir sind auf einfachere, bescheidenere Wege gewiesen. Die Wirkung des Geistes, der in der Gemeinde Jesu Christi waltet, wird sich an Ihnen dadurch zeigen, daß die natürlichen Gaben in den Dienst höheren Berufes gestellt und dadurch geheiligt werden. Die geistlichen Gaben der Liebe, der Erbarmung, der Geduld werden Ihnen gewiß dadurch erneuert und gestärkt und es wird auch die vorhandene innere und geistliche Gabe sozusagen auf die äußere Betätigung miterstreckt durch des Geistes Leitung und dafür wirksam gemacht. So etwa aber werden wir uns die Geistesmitteilung zu denken haben. Wir wollen nicht zu wenig von der Einsegnung halten, aber auch nicht zu viel. Sie ist kein Sakrament, nicht eine Mitteilung bestimmter himmlischer Gaben durch sichtbares Zeichen, aber eine sakramentale Handlung darf die Einsegnung doch genannt werden, eine Zuwendung göttlicher Gaben durch’s Wort, nur setzt sie die Aneignung durch den Glauben voraus. Sie hat dadurch Aehnlichkeit mit der Einsetzung ins Predigtamt, auch einige Aehnlichkeit mit der Konfirmation, die zweifellos auch göttliche Gaben für den Christenwandel vermittelt unter der Voraussetzung, daß die Gesinnung vorhanden und das Herz für die Einwirkung des Geistes offen ist. Es hängt| also von Ihnen ab, ob die Geisteswirkungen, die Ihnen werden können, in Ihnen zu Bestand und Kraft kommen. Und deshalb ist auch die Bereitung auf die Einsegnung, die Rüstzeit, wie sie andere Diakonissenhäuser nennen, so wichtig.

Was wichtig ist für die Ausübung des Berufes, das wird Ihnen besonders dargelegt werden durch die Oberin dieses Hauses. Was ich Ihnen zu bieten habe, soll besonders Stärkung gewähren für die christliche und kirchliche Erkenntnis, Stärkung damit im Glaubensstand, aus welchem doch die Liebe zum Beruf und die Begeisterung für denselben allein in Wahrheit kommen kann. Vieles kann nach dieser Seite gesagt werden, die Themata des Unterrichts, wenn man so sagen will, sind unerschöpflich. – Dieses Mal, in diesem Jahr und in diesem Monat sonderlich wird der Gedanke des Reformationsjubiläums uns beherrschen und wir werden gewiß nicht unrecht tun, wenn wir dasselbe auch im diesmaligen Einsegnungsunterricht zur Geltung kommen lassen. So soll der Gegenstand der Verträge, die ich Ihnen bieten will, sein: Die Reformation der Kirche und die Kirche der Reformation.

Und heute will ich noch in Kürze reden:

Von der Kirche in ihrem ewigen Wesen.

Ich weise hin:

1. auf Gottes ewigen Ratschluß,
2. auf die Entstehung der Kirche in der Zeit,
3. auf die ihr dauernd innewohnende Einigkeit und Heiligkeit,
4. auf die auch in ihrem sichtbaren Bestand waltenden Ewigkeitskräfte.


I.
Wenn wir von der Reformation der Kirche reden, so tritt uns die Kirche damit vor Augen in ihrer Veränderlichkeit; denn wenn eine Reformation der Kirche notwendig ist, so muß eine Verschlechterung, eine Veränderung zum Verkehrten vorhanden gewesen sein. Wenn wir von der Kirche der Reformation reden, so werden wir dadurch daran erinnert, daß nicht die ganze Christenheit die Segnung der Reformation sich angeeignet hat und werden damit hingewiesen auf eine bedauerliche Folge der Reformation, daß es nämlich ohne ihre Schuld zu einer weiteren Spaltung in der Kirche kam. Die Kirche ist einmal unter Menschen begründet, wird von Menschen getragen, sie ist also auch fehlsam, sie bleibt, wie Luther einmal gesagt hat, ein Spital. Davon werden wir genug im folgenden zu reden haben. Aber darüber darf nicht vergessen werden die Kirche in ihrem ewigen Wesen festzuhalten. Sie erinnern sich wohl, daß in der Vesper am Sonntag das Tagesgebet der Kirche gilt und es wird Ihnen manchmal schon in den Gebeten, die da gesprochen| werden, die Wendung entgegen getreten sein: Wir danken dir, daß du eine ewige Kirche unter uns gegründet hast. Die Kirche ist ja zeitlich; sie hat ihren Anfang genommen mit der Ausgießung des heiligen Geistes, ja wohl schon mit der Erhöhung Christi zur Rechten des Vaters und ihre Zeit dauert bis Christus einst wiederkommt in der Herrlichkeit. Sie umfaßt also den bestimmt begrenzten Zeitraum, in welchem Christus, der Kirche Haupt, zur Rechten des Vaters thront und auf Erden sich ihm eine Gemeinde sammelt. Aber sie umfaßt dennoch mehr, sie reicht weiter zurück. Man kann die Kirche zunächst nennen: die neutestamentliche Gestaltung und Erscheinung des Reiches Gottes. Das Reich Gottes ist aber etwas viel Umfassenderes, kommt aus der Ewigkeit und reicht wieder in die Ewigkeit hinein. – Man könnte die Kirche ferner nennen: die gegenwärtige Form der Gemeinschaft mit Gott. Die Gemeinschaft mit Gott ist etwas Ewiges, sie ist ein ewiger Gottesgedanke und so sind wir veranlaßt zunächst zu reden von der ewigen Erwählung.
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Wenn von der ewigen Erwählung gesprochen wird, so werden wir lutherischen Christen leicht etwas mißtrauisch, weil wir dadurch uns erinnert sehen an die irrige Lehre von der Prädestination oder Gnadenwahl. Es ist Ihnen bekannt, daß besonders Calvin in schroffster Weise diese Gnadenwahl gelehrt hat. Ihn beherrscht lediglich der Gedanke, daß es sich um die Verherrlichung Gottes handelt bei all seinem Tun. Gott will seine Heiligkeit und Gerechtigkeit verherrlichen an denen die verdammt werden und seine Liebe an denen, die selig werden. Zu diesem Gedanken wird Calvin geführt, indem er von der Wirklichkeit zurückgeht auf den ursprünglich nach seiner Meinung zu Grunde liegenden Willen Gottes. Von der Tatsache aus, daß nur ein Teil der Menschen selig wird, während andere verloren gehen, schließt er auf den Willen Gottes, daß ein Teil der Menschen von vornherein zur Verdammnis und ein anderer zur Seligkeit bestimmt sei, und schreckt selbst vor der Konsequenz nicht zurück, daß Gott auch den Sündenfall gewollt habe. Diesen calvinischen Gedanken gegenüber genügt der Hinweis auf einige Schriftworte. Im Alten Testament (Hesekiel 18) sagt der Prophet wiederholt, daß Gott den Tod des Gottlosen nicht wolle. Im Neuen Testament heißt es 2. Petr. 3: der Herr will nicht, daß Jemand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre. Und 1. Tim. 2 heißt es: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Es gibt eine ewige Erwählung und im 11. Artikel unseres letzten abschließenden Bekenntnisses, der Konkordienformel, ist von Gottes ewiger Vorsehung und Wahl die Rede. Gott hat die Menschen zur Seligkeit bestimmt und zwar vor Grundlegung der Welt. Das sagt der Apostel, Ephes. 1, 11 ganz bestimmt und Paulus geht auch Röm. 8, 28–30 auf die ewige Vorsehung oder Wahl Gottes| zurück. Es gibt eine ewige Erwählung und so geht die Erwählung Gottes auch auf die Kirche Gottes. Gott hat eine Kirche, eine Menschheit Gottes gewollt zu seinem Eigentum. Das ist Anfang und Schluß der Bibel zugleich. Auf dem 1. Blatt der Bibel wird gesagt, daß Gott die Welt, die gegenwärtige Menschheit geschaffen hat und auf dem letzten Blatt wird die Neuschöpfung von Himmel und Erde verheißen, auf welcher eine Menschheit wohnt, die ganz Gott gehört und dient. Es kann nun freilich dagegen eingewendet werden, warum dann nicht alle Menschen selig werden. Wenn Gott die Seligkeit aller wollte, müßte doch Gottes Wille hinausgeführt werden und so wird man wenigstens auf die Meinung gebracht, daß doch Gott selbst eine Auswahl getroffen habe müsse in seinem verborgenen Rat, in den wir nicht hineinsehen können. So hat selbst Luther zeitweise gelehrt gegenüber Erasmus. Freilich durch seine Lehre von den Gnadenmitteln, durch deren objektive Kraft und Giltigkeit allen wirksam Gnade angeboten und Rettung oder Verlorengehen in ihre Hand gelegt wird, hat er die übeln Folgerungen dieser Lehre abgebrochen. Die Lösung wird auf dem Punkt liegen: Gott hat ganz gewiß die Seligkeit aller Menschen gewollt und will sie noch heute; aber er will sie nicht anders als in Christo und unter der Voraussetzung des Glaubens an ihn, den er ermöglicht durchs Evangelium. Die nicht glauben, die stellen sich selbst außerhalb des göttlichen Ratschlusses, außerhalb der göttlichen Erwählung. So sieht es auch der Apostel an in dem wichtigen Wort Röm. 8, 29. 30: „Welche er verordnet hat … herrlich gemacht.“ Er will mit dieser Reihe von Sätzen sagen, daß Gott, soweit es an ihm liegt, seinen Gnadenrat hinausführt, vorausgesetzt, daß wir seinen Gnadenwillen nicht hindern oder gar zu nichte machen. Und so bleibt es ein großer Trost für uns zu wissen: Gott hat uns schon vor Grundlegung der Welt zu seinen Kindern auserwählt und er will sein Werk an uns gewiß hinausführen. Es bleibt ein Trost hinsichtlich der Kirche, daß Gott eine ewige Kirche gewollt hat und er führt sein Werk herrlich hinaus.


II.
Im vorigen Jahr habe ich die Glaubenslehre hier dargelegt unter dem Gesichtspunkt der heiligen Liebe und da durften wir die Kirche erkennen und nennen – wie Löhe es so schön ausdrückt – als den schönsten Liebesgedanken Gottes. Gott hat eine Welt gewollt; aber er hat sie nicht auf einmal ins Dasein gerufen, sondern allmählich. Gott hat in der Welt Gottes eine Menschheit Gottes gewollt, die sein Eigentum sei; aber auch sie hat er stufenweise in allmählichem Werden entstehen lassen. Schon im Alten Testament nimmt die Menschheit Gottes ihren Anfang, damit, daß Gott in| väterlichem Verhältnis zu den Erstgeschaffenen stand und sie im Kindesverhältnis im steten Verkehr mit ihm. Aber auch nach dem Sündenfall wollte Gott sein Werk nicht lassen, sondern hat auch den gefallenen Menschen gegenüber sich bezeugt in Gnade und Gericht. So hat Gott auch wieder in der Patriarchenzeit so einfach und väterlich mit seinen Erwählten verkehrt und mit ihnen geredet. Es folgt die Zeit des Gesetzes als weitere Stufe der Entwickelung, wo alles gesetzlich geregelt ist in seinem auserwählten Volk, das er aus allen Völkern sich emporhob. Dann kommt die Zeit des theokratischen Königtums, wo der König in Israel herrschen sollte an Gottes Statt und als Gottes Erwählter. Hiernach die Auflösung des theokratischen Königtums, dessen Unvollkommenheit sich erweisen mußte um die Gedanken der Zukunft entgegen zu richten. Und dann kann erst von der Entstehung der Kirche in der Zeit die Rede sein. Wir haben schon gesagt, daß die Zeit der Kirche eine begrenzte ist; sie umfaßt die Zeit, da der Herr im Himmel thront und auf Erden sich eine Gemeinde sammelt. Wann die Kirche ihren Anfang genommen hat, dafür kann man verschiedene Ereignisse der Heilsgeschichte in Betracht ziehen.

Man kann sagen: Die Kirche begann schon mit der Erscheinung Christi auf Erden, denn gleich um die Krippe mußte eine Gemeinde sich sammeln und vorbilden, erst Gläubige aus Israel, die Hirten, und dann Gläubige aus den Heiden, die Weisen aus dem Morgenland. Man kann auch sagen: Als der Herr die Salbung des Geistes empfangen und sein Amt angetreten hatte bei seiner Taufe, sammelte er sofort Jünger um sich, die er in wiederholter Berufung mit erzieherischer Weisheit ihrem künftigen Amt entgegenführte, zunächst für Israel, aber so, daß auch schon Andeutungen vorhanden sind, daß die Heidenwelt nicht ausgeschlossen sei. Wie fein hat sich der Herr in die Ordnung gefügt, daß aus Israel das Heil hervorgehen sollte; er erachtete sich gesandt nur zu den verlornen Schafen aus dem Hause Israel, hat aber auch von andern Schafen schon gesprochen, die nicht aus diesem Stalle sind, nicht aus dieser engen Umzäunung stammten. Er hat dem heidnischen Hauptmann von Kapernaum seinen Wunsch erfüllt, hat das Flehen des kananäischen Weibes, auch einer Heidin, gehört. Er hat ferner die Griechen gerne zu sich kommen lassen und sich gefreut, sich hoch gefreut, als die Samaritaner zu ihm kamen dort am Jakobsbrunnen. Da sieht er schon im Geist die zukünftige Gemeinde entstehen, das Feld weiß werden zur Ernte. Es darf aber nicht übersehen werden, wie auch ein entsprechender Fortschritt in der Lehrtätigkeit des Herrn hervortritt.

Er hat seine Predigt begonnen mit dem Zeugnis vom Reiche Gottes, indem er an die im Volk Israel vorhandenen Gedanken und an die Erwählung eines Gottesvolkes anknüpft und darum| sein Evangelium mit der Botschaft vom Reich eröffnet in der Bergpredigt wie in den Gleichnissen. Dann schritt er fort und redete mehr von sich selbst, seiner göttlichen Sendung, seiner göttlichen Person. Einen wichtigen Abschnitt in seiner Lehrunterweisung bedeutet Matth. 18, wo er selbst eine Prüfung vornimmt mit seinen Jüngern, ob sie etwas gelernt haben im bisherigen Unterricht und dann fortschreitet einerseits, um fernerhin mehr von seinem Leiden und Sterben zu sagen, zugleich aber auch um fortan von der Kirche zu reden. Weil er von seinem Leiden und Sterben sprach, so mußte er auch von seiner Kirche und Gemeinde reden, die wenn er von der Erde geschieden sein würde, die Form und Gestalt seines Reiches werden sollte. Und so hat der Herr zweimal das Wort „Gemeinde“ oder „Kirche“ gebraucht, Matth. 16 und 18. In der Gestalt der Kirche soll das Reich Gottes fernerhin bestehen und die Kirche soll gewirkt werden durch den Geist, der die Kirche in alle Wahrheit leiten soll. Darum hat der Herr je länger je mehr zu den Jüngern vom heiligen Geist als seinen Stellvertreter geredet und endlich macht er den Abschluß mit dem großen Reichsbefehl, in dem der Gedanke ausgesprochen wird, wie nun das Reich Gottes bestehen soll auf Erden und der den Missionsbefehl, den Taufbefehl, den Lehrbefehl in sich schließt.
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Man kann also den Anfang verschieden benennen, mit der Erscheinung Christi auf Erden, mit dem Antritt des Amtes, mit seiner Auferstehung, da er als Haupt der neuen Menschheit hervorgeht aus dem Grab und der Welt ein neues Leben bringt, mit seiner Himmelfahrt, da er zur Rechten des Vaters sich setzt, wartend bis alle Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt werden und schließlich mit dem Tag der Pfingsten, da er seinen Geist sendet. Ja der Pfingsttag ist der eigentliche Geburtstag der Kirche Christi. Die bisherigen Jünger des Herrn werden durch den Empfang des Geistes von oben zusammengeschlossen zu einer Gemeinde Jesu Christi. Es waren zunächst die Zwölfe, die der Herr um sich hatte, in der Zeit zwischen Auferstehung und Himmelfahrt waren aber aus den Zwölfen schon 120 geworden, wie Apostelgeschichte 1 sagt, die sich zusammenhielten und warteten auf die Verheißung des Vaters. Am Pfingstfest wurden gleich Tausende hinzugetan, es wurden auch Priester dem Glauben gehorsam. Die Apostel sind eine Zeit lang hochgehalten gewesen vom Volk; aber sehr bald auch tritt uns der Fortgang zur Heidenwelt hin entgegen. Zunächst hören wir von Hellenisten, das sind Angehörige des Volkes Israel, aber aus fremdsprachlichen Ländern, die in der Fremde erzogen waren und das Griechische als Muttersprache redeten. Unter sie gehört Barnabas, der Levit aus Cypern. Dann hören wir auch von einem Proselyten, der der Gemeinde angehörte. Das sind solche Heiden, die sich an das Volk Israel gottesdienstlich angeschlossen hatten. Es wird unter den 7 Almosenpflegern als letzter Nikolaus der Proselyt von| Antiochien genannt. So bereitet sich der Uebergang zum Heidentum bald schon einigermaßen vor.

Die erste Stufe des Hinausschreitens des Reiches Christi über die engen Grenzen Israels bezeichnet die Bekehrung der Samaritaner. Wir wissen, daß die Verfolgung der Gemeinde dazu den Anlaß gab, daß die Gläubigen hinausgingen aus Jerusalem, auswärts predigten und Philippus auch unter den Samaritanern. Dann folgt der Kämmerer aus Aethiopien, ein Heide, der allerdings als Proselyt sich dem Volke Israel angeschlossen hatte, und dann Kornelius, der Zenturio aus Cäsarea, der noch völlig ein Heide war, zwar den Gott Israels kannte, aber den Schritt des Anschlusses an das Volk Israel nicht getan hatte. Der erste Heide, der der Gemeinde Christi hinzugetan wurde, ist ihr unmittelbar einverleibt worden ohne den Umweg durchs Judentum, wie denn an seiner Bekehrung die Gemeinde in Jerusalem erkannte, daß Gott auch den Heiden Buße gegeben hat zum Leben. Und dann folgt als Abschluß dieses Werdegangs die Entstehung der Gemeinde in Antiochien, einer Gemeinde auf heidnischem Boden, bestehend vorherrschend aus Heidenchristen. Von da zog der Heidenapostel Paulus aus zu seinen drei großen Missionsreisen.

Es liegt uns, wenn wir die Entstehung der Kirche in der Fülle der Zeit betrachten, die Frage nahe, warum es mit der Christenheit aus Israel so rasch abwärts ging. Anfangs hören wir in der Apostelgeschichte von Tausenden, die in Jerusalem gläubig geworden waren; noch als Paulus zurückkam von der 3. Missionsreise sagen ihm die Brüder in Jerusalem gar von Myriaden, d. h. Zehntausenden von Juden, die gläubig geworden seien. Wenn das auch ein Wort starker Ausprägung, die sogenannte Form der Hyperbel oder Uebertreibung ist, so muß doch die Zahl der gläubigen Israeliten sehr groß gewesen sein. Aber wie schnell ist die Gemeinde aus Israel völlig verschwunden! Wir sehen schon damals bei der Rückkehr des Paulus von der 3. Missionsreise, daß die Stimmung der Juden in Jerusalem eine viel feindseligere geworden war. Was war der Grund? Nichts anderes als die Entstehung der Heidenchristenheit. Das ist der Punkt, über den die Juden nicht hinwegkamen, daß auch die Völker alle teilhaben sollen am Heil und am Reich, ohne erst dem Volk Israel sich eingliedern zu müssen. So erklärt es sich, daß das Judentum in dem stolzen Anspruch allein und ausschließlich das Volk Gottes sein zu wollen die Christenheit die über die Heiden, über die Völkerwelt sich erstreckte, mehr und mehr ablehnte und so die Christenheit aus den Juden allmählich verschwand. Dagegen in der Völkerwelt wurde die Türe weit aufgetan, wie das der Herr schon vorausgesagt hatte: „Viele werden kommen vom Morgen und vom Abend, von Mitternacht und vom Mittage, die zu Tische sitzen werden im Reiche Gottes.“

| Man nimmt an, daß am Ende des 1. Jahrhundert schon etwa 100000 Christen im römischen Reich vorhanden waren. Und welcher gewaltige Fortschritt trat ein, als der römische Kaiser Konstantin selber von 312 an sich dem Christentum zuwandte. Nun kamen die Massen in die Kirche herein und sie nahm bald eine herrschende Stellung ein in der Welt. Es folgte einige Jahrhunderte später, früher schon vorbereitet, die Aufnahme der germanischen Völker in die Christenheit und wieder nach Jahrhunderten die mächtige Ausbreitung der Christenheit in den fremden neu entdeckten Weltteilen! Denken wir an die große Missionszeit vom Jahre 1795 ab, wo die protestantische Christenheit hauptsächlich in dies Werk eintrat mit so mächtigem Fortschritte, daß man freilich von etwas übereifriger Seite sich zum Ziel setzte noch zu dieser Zeit, in unserer Generation die Vollendung der Heidenpredigt in der Welt zu erleben.
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In diesem Fortgang der Gemeinde Christi hat sich das Gleichnis erfüllt, das der Herr sagte vom Senfkorn, das das kleinste ist unter allen Samen, wenn es aber erwächst, so ist es das größte unter dem Kohl und wird ein Baum, daß die Vögel des Himmels kommen und wohnen unter seinen Zweigen. Wir wissen, daß er damit ein anderes Gleichnis verband, das Gleichnis vom Sauerteig, um zu zeigen, daß sein Reich zugleich die Aufgabe hat von innen nach außen wirkend die große Masse des Volkslebens zu erneuen und zu durchdringen. Wir haben auf diese machtvollen Wirkungen des Reiches Gottes und der Kirche oftmals Anlaß hinzuweisen; wenn etwa die Wunderfrage besprochen und die Frage gestellt wird, warum jetzt keine Wunder mehr geschehen. Es kann darauf mit Recht gesagt werden: deshalb, weil auf andere Weise jedem, der es sehen will, entgegentreten kann, daß in dem Wort von Christo eine Gotteskraft liegt, das Leben der Völker zu durchdringen. Auch andere Religionen haben sich ausgebreitet, oftmals durch Gewalt der Waffen, aber sie haben alle einen gewissen Höhepunkt erstiegen, um alsdann wieder abzunehmen und nachzulassen. Das Christentum nur hat die Kraft der Erneuerung immer wieder in sich selbst gehabt und so darf gesagt werden: An dem einzelnen Christenmenschen muß sich die erneuernde Macht des Evangeliums zeigen und sie offenbart sich auch in dem Leben der Völker, weil dieselben in ihrem Lebensstand erneuert und verändert sind im Gegensatz zur Heidenwelt. Jetzt freilich müssen wir beschämt dastehen, wo der Weltkrieg leider zeigt, wie groß auch unter den christlichen Völkern die Macht des sündigen Wesens, des Hasses und der Eifersucht noch ist. Und dennoch wagen wir es zu sagen, es ist eine ewige Kirche vorhanden. Denn was ist die Kirche? Sie ist die Gemeinde der Heiligen, die Gesamtheit aller derer, die durch den Glauben in Verbindung stehen mit Christo, mit dem erhöhten Herrn. Sie ist, wie Melanchthon sagt, die Gemeinschaft des Glaubens und des heiligen Geistes in den| Herzen der Menschen. Wir glauben eine Kirche, die Kirche ist also zunächst eine unsichtbare und so reden wir weiter von der dauernd vorhandenen Einigkeit und Heiligkeit der Kirche.


III.
Im nizänischen Glaubensbekenntnis bekennen wir „eine heilige, allgemeine und apostolische Kirche“; im apostolischen Glaubensbekenntnis heißt es „eine heilige, christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen.“ Die Worte sind verschieden, der Sinn ist derselbe. Es sei dabei bemerkt, daß es im Apostolikum nach der lateinischen Form heißt: eine, heilige, katholische Kirche, wofür im deutschen Texte die Worte „eine, heilige, christliche Kirche“ gesetzt sind, christliche Kirche im Sinne von „Kirche Christi.“ Und doch dürfen wir sagen: die Kirche ist eine katholische, eine allgemeine; – sie ist bestimmt für alle und will alle umfassen im Gegensatz zum Alten Testament, in welchem Bund, Gesetz, Gottesdienst, Verheißung nur für das eine Volk Israel da waren. Und sie ist eine apostolische, d. h. sie ruht auf dem Zeugnis der Apostel; durch ihr Wort kennen wir Christum, durch ihr Wort sind wir an ihn gläubig geworden und ruhen deshalb allesamt auf dem Grunde der Apostel und Propheten. Aber hauptsächlich ist das eine zu betonen, daß sie ist eine. Das ist etwas Großes; sie ist eine, weil sie die Gesamtheit aller Gläubigen ist, darum umschließt sie alle, die im Glauben an Christum stehen aus verschiedenen Zungen und Völkern und umschließt die Gläubigen aller Zeiten; so ist in ihr ein ewig dauernder Charakter. Löhe hat so gerne die Kirche verglichen mit einer Prozession, einem Pilgerzug, auf dem Wege zu der heiligen Stadt. Viele sind schon zu den Toren der heiligen Stadt eingegangen, wir andern sind noch auf dem Wege; aber es ist eine Kirche: eins sind wir mit allen Gläubigen, auch mit denen droben im Himmel und so gibt es eine ewige Kirche. Und die Kirche ist nicht minder die heilige. Sie ist an sich etwas Heiliges, nicht durch Menschen hervorgebracht, nicht auf dem natürlichen Wege des Werdens zustande gekommen; vielmehr ist sie vom heiligen Geist begründet. Und sie ist auch eine Gemeinde von Heiligen. Wie sie selbst etwas Heiliges ist, so sind auch ihre Glieder heilig, sind geheiligt durch den Glauben, wie der Apostel alle Christen einfach als Heilige anredet und auch sagen kann: „Der Tempel Gottes ist heilig, welcher seid ihr“. Die Gläubigen sind heilig, weil sie Vergebung der Sünden erlangt haben durch den Glauben und bestrebt sind zum Dank dafür und zum Erweise dessen heilig zu werden. So dürfen wir denn sagen: es gibt eine heilige Kirche auf Erden. Die Kirche ist ihrem innersten Wesen nach nichts anderes als die unsichtbare Gemeinschaft und Gesamtheit der Gläubigen und Heiligen, aber deshalb muß freilich die Kirche auch in die Sichtbarkeit hereintreten und darum reden| wir noch von den auch in ihrem sichtbaren Bestand waltenden Ewigkeitskräften.


IV.
Hier treten uns die Unterschiede der Hauptkonfessionen deutlich entgegen. Die römische Kirche setzt die Sichtbarkeit der Kirche, ihrer Kirche, in die äußerliche Verfassung; diejenigen gehören zur Kirche, die unter dem Papst in Rom und den Bischöfen zusammengefaßt sind, so wie ein weltlicher Staat zusammengefaßt ist durch die Obrigkeit, die denselben lenkt. Das ist die übertriebene Sichtbarkeit der römischen Kirche durch die Verfassung und die äußeren Ordnungen. Und diese äußere Einheit und Sichtbarkeit der römischen Kirche geht so weit, daß selbst eine Sprache herrschen muß im Gottesdienst, weshalb die Messe nur in lateinischer Sprache gelesen werden darf. – Die reformierte Kirche betont, im Gegensatz dazu, zu stark die Unsichtbarkeit der Kirche. Sie will nur von der unsichtbaren Kirche etwas wissen und doch muß sie sagen können, wo die Kirche auf Erden sichtbar wird. Sie läßt dieselbe sichtbar werden im christlichen Staat und so berühren sich doch diese Extreme, die römische und die reformierte Kirche in dem Rückfall zur alttestamentlichen Stufe äußerer Gottesherrschaft. Die Reformierten lassen die Kirche in dem äußerlichen Gottesstaat zur Erscheinung kommen, wie durch Calvin in Genf oder auch durch Zwingli in Zürich der Versuch gemacht wurde, in gewissem Sinn auch in der englischen Hochkirche oder einst unter Knox in Schottland. Oder aber sie kommen zu dem mehr sektiererischen Gedanken, die Kirche da sichtbar sein zu lassen, wo wahre Gläubige sich erkennen und zusammenfinden. – Die lutherische Kirche nimmt die rechte Mitte ein. Sie erkennt, daß die Kirche ihrem Wesen nach die unsichtbare Gesamtheit aller Gläubigen ist, weiß aber auch wodurch sie in diesem ihrem inneren Wesen in die Sichtbarkeit treten kann und treten muß, nämlich durch die Gnadenmittel. Da wo die Gnadenmittel gebraucht werden, da ist der heilige Geist wirksam und da bringt er Gläubige mit dem erhöhten Herrn zusammen. Und so stehen diese beiden Seiten der Kirche, die Unsichtbarkeit und die Sichtbarkeit, nicht etwa nebeneinander, von einander geschieden, sondern sie liegen ineinander. Durch des heiligen Geistes Wirkung in Wort und Sakrament wird der Glaube in uns gewirkt und durch den Glauben stehen wir in Verbindung mit dem erhöhten Herrn und gehören seiner Gemeinde an. Wir werden noch öfter auf diese wichtige Erkenntnis der Kirche der Reformation hinweisen müssen, daß nämlich der heilige Geist nicht unmittelbar an die Herzen kommt, sondern nur durch die Gnadenmittel durch Wort und Sakrament. Wie wichtig ist das! Da kann niemand auftreten und sagen, der heilige Geist habe ihm etwas Neues eingegeben,| wie Schwärmer zu allen Zeiten zu sagen sich vermaßen. Es darf aber auch niemand behaupten, der heilige Geist habe ihm nicht genug Kraft gegeben, nicht genug an ihm gearbeitet. In Wort und Sakrament steht uns der Zugang zur Gnade allezeit offen, vor allem im Wort, in welchem der ganze Heilsrat gepredigt und bezeugt ist und aus welchem der Glaube kommt. Und die Sakramente sind neben dem Wort gegeben, damit wir der Gnade völlig gewiß werden können. Zugleich sind die Sakramente wichtig als das Einheitsband der Kirche. In der heiligen Taufe sind wir zu einem Geist geboren und damit zusammengehörig, im heiligen Abendmahl werden wir zu einem Leibe gespeist und getränkt. Diese Zusammengehörigkeit wird in den Sakramenten nicht nur dargestellt, sondern gekräftigt, ja innerlich vollzogen. Und warum will ich alles dies von der ewigen Kirche, die der Herr begründet hat, sagen gerade bei dieser Gelegenheit? Schwestern müssen wissen, was es um die Kirche ist. Wenn sie auch nicht unmittelbar im kirchlichen Dienste stehen, so arbeiten sie doch für die Kirche, wenn ihr Amt nicht ein eigentliches gemeindliches Amt ist, so arbeiten sie doch in der Gemeinde und für die Gemeinde und so müssen sie wissen, was die Kirche ist. Schwestern sehen in ihrem Beruf die Kirche so häufig nur nach der Seite ihrer Unvollkommenheit, besonders die Schwestern, die in großen Städten in der Gemeindearbeit stehen; sie bekommen oft einen furchtbaren Eindruck von der Verkommenheit und dem unchristlichen Sinn, der die weitesten Kreise solcher beherrscht, die doch äußerlich noch zur christlichen Kirche gehören. Da müssen sie den klaren Begriff der Kirche festhalten und dürfen nie vergessen, daß es dennoch eine heilige Kirche auf Erden gibt; Gott hat uns zu derselben berufen und hat auch die ihr einverleibt, die ihr noch innerlich ferne stehen. Um so mehr haben wir die ernste und heilige Pflicht an ihnen zu arbeiten, daß sie sich zurückfinden zum Gott ihrer Taufe, wieder zurückgeführt werden zur Herde dessen, der gekommen ist zu suchen und selig zu machen das Verlorene. Ja wir werden nun wissen, was es heißt, wenn wir im 3. Artikel bekennen: Ich glaube eine heilige christliche Kirche. Ich glaube, daß überall, wo Wort und Sakrament dargeboten werden, der heilige Geist an den Herzen wirksam ist und ich glaube, daß wo der heilige Geist durch Wort und Sakrament an den Herzen wirkt, daß da auch Gläubige sein müssen; denn der Herr hat seine Verheißung gegeben, daß seine Kirche bestehen soll; wie denn die Augsburger Konfession im 7. Artikel sagt: „Es wird auch gelehret, daß allezeit eine heilige christliche Kirche sein und bleiben müsse.“
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Und so gibt es eine heilige Kirche auf Erden; sie ist auf ewigem Grund gebaut, ewige Güter, Heiligkeit, Gerechtigkeit und Gnade bietet sie uns dar; der ewige Gottesgeist wirkt in ihr| und wir haben die Verheißung: „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.“
Amen
Ps. 28. Lied: 314, 2. 8. 9.



  1. Die Kollekten aus Löhe, Haus-, Schul- und Kirchenbuch, 2. Band.


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