Englisch-ostindische Civilisation

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Englisch-ostindische Civilisation
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 194–195
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[194]
Englisch-ostindische Civilisation.

Wer Zeitungen liest, begegnet jetzt alle Tage Ereignissen und Betrachtungen, die sich auf Ostindien beziehen. Perserkrieg, Bombardement Cantons, Eisenbahn in Kleinasien und Persien, Oberlandspost, Meetings und Petitionen in England, Anträge und Debatten und Abstimmungen, Interpellationen und schnöde Antworten im Parlamente, diplomatische Verhandlungen und Intriguen, geheime Beiträge und offene Unverträglichkeiten, nähere oder fernere Aussichten auf russisch-englischen Krieg in Asien und russisch-französische Alliance, Unbehagen und Arbeitslosigkeit in England bei verdoppelter Ausfuhr (seit 1849), Unsicherheit des Friedens, der Geschäfte und des Credits in Asien, Europa und Amerika dazu – Alles dies steht oft mit Ostindien in Verbindung, mit der fabelhaften Thatsache, daß etwa hundert Millionen Menschen Tausende von Meilen weit von ein Dutzend Kaufleuten in Leadenhallstreet zu London und deren Beamten, Söhnen der englischen Aristokratie und ihren Günstlingen, beherrscht, ausgebeutet und ruinirt werden, und England, der Staat und das Volk, nie zur Ruhe darüber kommen, nie genug kriegen und das Deficit desto mehr steigern, je mehr sie Land und Leute in Ostindien unterjochen und ausweiden. Es ist das seltsamste, schandbarste Verhältniß, das je zwischen Eroberern und Unterjochten in der Geschichte auftrat. Wir können’s hier nicht erschöpfen und geben blos zu den früher geschilderten häuslichen Lebensverhältnissen der Engländer in Ostindien noch einige Bilder und Scenen, welche zur Veranschaulichung dieses Verhältnisses beizutragen geeignet erscheinen.

Die Times sprach unlängst mit ungewöhnlicher Ehrlichkeit die Worte aus: „Wir (Engländer) haben bisher noch nicht einmal so gethan, als ob wir auch etwas zum Wohle der Indier zu thun Lust hätten.“ Nicht einmal den Schein, geschweige etwas von That. Man mache sich einmal, nicht die bodenlose Grausamkeit und Barbarei dieser Thatsache, sondern deren unbegreifliche, blinde Dummheit klar. Ganze Schaaren von englischen zweiten Lordssöhnen und Taugenichtsen strömen fortwährend als Beamte der Compagnie nach Ostindien und strömen fortwährend zurück mit Hunderten und Tausenden von Pfunden jährlicher Einkünfte, Früchte ihrer „Ersparnisse“ während ihres Satrapirens. Die Compagnie besteht durch Ostindien aus Millionären und macht jedes Jahr Millionen von Gewinn, besonders durch ihr Monopol auf Opium. Ostindien ist also die Reichthumsquelle für immer neue Heerden von Engländern, die so glücklich waren, vom Staate als Gouverneurs oder von der Compagnie als Steuereintreiber hingeschickt zu werden. Zudem sagt man, die Engländer seien ein praktisches, kaufmännisches Volk. Ist es praktisch oder kaufmännisch, die Quelle des Geschäfts, den Strom von Steuern und Einkünften auszutrocknen, und nicht einmal „so zu thun,“ als wolle man sich diese Quelle erhalten? Vor den Richterstuhl der Menschlichkeit dürfen wir diese Wirthschaft gar nicht schleppen. Die unglaubliche Grausamkeit und Dummheit, welche in der englischen Mißhandlung Ostindiens liegt, läßt sich nur durch das „après nous le déluge“ erklären. Jeder kratzt und raubt so viel zusammen, als er irgend kann, um mit den Früchten wieder heimzukehren. Um seinen Nachfolger bekümmert er sich nicht. So machten’s die römischen Gouverneure in den eroberten Provinzen, die persischen Satrapen in eroberten Ländern, so die Spanier in Amerika. Wie macht man’s denn aber eigentlich in Indien? Einige Thatsachen aus der neuesten Zeit können als Antwort dienen.

In Calcutta, der Hauptstadt des besten Theils vom englischen Indien, Bengalen, konnten’s neuerdings anständige und menschliche Engländer nicht mehr mit ansehen, wie die Indier behandelt wurden. Sie setzten also eine Petition an den General-Gouverneur auf, und baten ihn um Einsetzung einer Commission von unparteiischen Ehrenmännern, welche das Polizei- und Justizwesen, wie es gegen die Indier geübt wird, untersuchen sollten. Der General-Gouverneur wies sie rund ab. Die anständigen, menschlichen Engländer haben sich nun an’s Parlament in England gewandt, welches das Ding untersuchen und helfen soll, wie sich auch sechs indische, abgesetzte Fürsten, zum Theil seit Jahren persönlich (darunter der ganze Hof von Oude), an das Parlament gewandt haben, daß man ihnen Gerechtigkeit verschaffen möge. Man tröstet sie so lange, als sie noch Gold und Diamanten haben, und läßt sie dann laufen (zwei sind schon auf diese Weise an den Bettelstab getröstet worden). Das Parlament läßt das Polizei- und Justizwesen im besten Falle untersuchen, und entrüstet sich dann über die Ergebnisse, wie über die ebenfalls untersuchte Tortur beim Steuereintreiben (worüber wir früher in der Gartenlaube berichteten; aber nicht desto weniger wird das Geschäft der Steuereinnahme mit Tortur fortgesetzt. Die dreißig Millionen Indier in Bengalen gehören den Engländern seit hundert Jahren. Man hat auch hier während der Zeit nicht einmal nur so gethan, als ob man ihnen etwas Recht und Menschlichkeit für die ihnen abgemarterten Steuern geben wolle. Im Jahre 1835 veröffentlichte ein englischer Richter in Calcutta, F. J. Shore, „Bemerkungen über indische Zustände“ („Notes on Indian Affairs“), Zustände von Corruption, Grausamkeit, Tyrannei und Willkür, die Einem die Haare zu Berge treiben, lauter Thatsachen aus eigensten Erlebnissen und Erfahrungen in seinem Gerichtsbezirke Furruckhabad. Das Buch wirkte bis in das geheimnißvolle Ostindien-Haus, Leadenhallstreet, London. England und Indien waren in höchster Entrüstung über die enthüllten Grausamkeiten. Die Directoren erließen deshalb am 20. Januar 1836 einen Befehl an den ostindischen General-Gouverneur, das Polizeiwesen zu reformiren und zu reinigen und dabei keine Kosten zu scheuen.

Das sah ganz menschlich aus. Auch ließ der Gouverneur untersuchen und rapportiren und eine Commission darüber examiniren. Unter den vernommenen Zeugen war auch der damalige Secretair des Gouverneurs R. D. Mangles. Er widersetzte sich jeder Reform, weil sie zu viel kosten würde, obgleich die Directoren gesagt hatten, man solle keine Kosten scheuen, sie würden’s bezahlen. Es unterblieb auch auf Grund dieses Zeugen jede Art von Reform. Und dieser Zeuge ist jetzt Mitglied der Directoren der ostindischen Compagnie und Parlamentsmitglied. – Hatte er doch dem „Lande“ Geld erspart. – Mochten es doch die Directoren mit ihrem großmüthigen Ausspruche, keine Kosten zu scheuen, nicht ernstlich gemeint haben. Mochte doch Mr. Mangles nicht ermangelt haben, dies zu erfahren und zu beherzigen.

Polizei, Steuer- und Gerichtswesen blieb bis heute, wie es Shore vor mehr als zwanzig Jahren erlebt und geschildert hatte. Alle drei Functionen sind in einer Person vereinigt. Der Steuereintreiber ist Magistratsrichter und Polizeidirector. Einer dieser dreieinigen Beamten sagte vor der Commission 1837 ganz offen aus: „Das Steuerdepartement, die Einnahme, muß als erste Rücksicht gelten. Das Polizei- und Gerichtswesen ist dieser ersten Rücksicht immer untergeordnet.“ Man kann sich leicht denken, was das für Wirthschaft giebt, aber kaum, daß es so weit geht, wie neulich in einem Briefe aus Calcutta (vom 7. Januar 1857) geschildert ward, nämlich daß, wenn Indier dem Hauseinbrecher (Steuereinnehmer) bezahlt und schwärmende Legionen des sogenannten Rechts auf den Hals bekommen haben, sie diese Letzteren noch dafür, daß ihnen kein Recht gegen Rechtsverletzungen geschehe, schwer bezahlen. Ihre größte Angst, wenn ihnen Unrecht geschehen, wenn sie bestohlen, beraubt, geschimpft, geschlagen, torturirt wurden, besteht darin, daß dieses ihnen geschehene Unrecht bekannt werde. Wird’s bekannt, werden sie vor Gericht geschleppt, damit ihnen Recht werde. Um dies zu vermeiden, bezahlen sie lieber bis auf’s Herzblut, um das ihnen geschehene Unrecht zu behalten und geheim zu halten. Der Indier bekommt nämlich niemals Recht, wenn ihn ein Engländer bestahl, beraubte, torturirte u. s. w. Das Zeugniß seiner braunen Landsleute gilt dem weißen englischen gegenüber nicht. Er muß also furchtbar dafür büßen, wenn es bekannt wird, daß ihn ein Engländer bestahl oder sonst das Gesetz an ihm verletzte. Das nennt man „Verbreitung der westlichen Civilisation in Indien, der Wiege der Menschheit.“ Jeder Staat, auch der despotischste, gibt für die den Unterthanen abgenommenen Steuern, für gesetzliche Schranken und Unterdrückung mancher Freiheiten immer etwas als Entschädigung: Schutz der Person und des Eigenthums und wie die Geschenke des Staats sonst heißen mögen. Die Engländer nehmen den Indiern ihre „Gehalte“ mit Tausenden von Renten (wenn sie nach 10 bis 15 Jahren heimgekommen sind), ihre Pensionen, ihre Dividenden, die ungeheuern Kosten für Recht, Polizei [195] und Regierung, das Geld zum Bombardiren für die Interessen des Opiumschmuggels, zu geheimer Hauseinbrecherei in Persien u. s. w. ab; was geben sie dafür? Recht, für welches die Indier bezahlen, nur damit man es ihnen nicht gebe.

Schutz der Person und des Eigenthums? Folgende Thatsache corrigirt diese Vorstellung gründlich. In einer vor mir liegenden Zeitung von der Insel Ceylon heißt es: „Die Cholera wüthet in Indien immer ärger, als irgendwo. Jetzt hat sie die schönen Inseln Mauritius und Bourbon fast ganz entvölkert. Diese Inseln werden ungemein reichlich mit Schweinefleisch von Calcutta aus versorgt, auch von Patna. Hier aber wie in Calcutta sorgt die englische Regierung dafür, daß die Eingebornen nicht beerdigt, sondern in den heiligen(!) Ganges geworfen werden. Wenn man vom Gouvernements-Gebäude aus oder an den drei Canälen, welche Calcutta umgeben, früh spazieren geht, sieht man stets Heerden Schweine geschäftig, die über Nacht in’s Wasser geworfenen Leichname zu verzehren. Hier, wie bei Patna, sieht man Hunderte von Leichen am Ufer angeschwemmt, und Heerden von Schweinen sie grunzend durchwühlen und auffressen. Die Polizei begnügt sich damit, die übrig bleibenden Skelette und zerfressene Stücke den Tag über zu versenken. Aber die Schweine finden jeden Morgen dieselbe neue Nahrung. Diese so gemästeten Schweine werden nun geschlachtet, in Speck und Schinken und Pökelstücke zerschnitten, verpackt und auf den Markt gebracht. Der größte Markt für dieses von Leichen (und Choleraleichen) gewonnene Schweinefleisch ist Bourbon und Mauritius. Ein ganzes solches Schwein kostet in Calcutta nicht mehr als 3 bis 4 Schillinge (1 Thlr. bis 1 Thlr. 10 Sgr.), so daß man auch die von Indien nach England fahrenden Schiffe damit verproviantirt. So kommt es auch auf die Märkte von Europa und Amerika.

Solche Geschäfte blühen unter englischer Regierung. Dazu denke man an die Steuereinnehmertortur, an die absichtlich unterdrückte Polizeireform, an den Ueberfall in Persien, an die von Lord Palmerston 1849 (Blaubuch, Seite 137 wörtlich abgedruckte) erlassene Drohung, daß er die ganze Stadt Canton zerstören und kein Haus stehen lassen wolle, wenn man den monopolisirten Opiumschmuggel der ostindischen Compagnie noch ferner behindere, an den wirklich für diesen Opium geführten Krieg, an das wirklich bombardirte Canton – und man hat vorläufig genug zu der Vermuthung, daß die menschlicheren (wir wollen nicht sagen: christlichen) Staaten ein Recht haben würden, sich etwas mehr Constitutionalismus und Menschlichkeit von England auszubitten, als England sich gegen Neapel anmaßen zu wollen schien. In Neapel soll die Polzei schlimm sein, aber es ist noch lange keine Polizei von Calcutta. In Neapel begräbt man die Todten auch nicht sanft, aber man füttert doch auch nicht in constitutionell-westlich-civilisirter Weise die Schweine damit.