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Enthüllungen zur Konitzer Mordaffaire/Chronik

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Die Konitzer Mordaffaire.

Des besseren Verständnisses halber wird es nöthig sein, die thatsächlichen Ereignisse noch einmal kurz zu rekapituliren.

Am Sonntag, den 11. März 1900 kurz nach dem Mittagessen verließ der Ober-Tertianer Ernst Winter, ein beinahe 19-jähriger, kräftig entwickelter Mensch von auffälig hübschem Aeußern, die Wohnung seines Pensionsvaters, des Bäckermeisters Lange in Konitz, um nicht wieder zurückzukehren. Er war, wie nachträglich festgestellt wurde, noch einen Augenblick in das in der Danzigerstraße unmittelbar am Markt gelegene, viel von Gymnasiasten frequentirte Zigarrengeschäft von Fischer eingetreten, hatte sich aber gleich wieder von dort entfernt und ist seit dieser Zeit von Niemand mehr gesehen worden. Die Aussagen verschiedener Zeugen, die ihn auch später noch gesehen haben wollen, müssen jedenfalls aus verschiedenen Gründen mit großer Vorsicht aufgenommen werden.

Zunächst wurde er übrigens garnicht vermißt, denn als er an jenem Sonntag Nachmittag weder zum Kaffee noch später zum Abendbrod nach Hause kam, vermutheten ihn die Lange´schen Eheleute in der Familie des mit seinen Eltern eng befreundeten Restaurateurs Klawonn, und erst als das Dienstmädchen Herrn Lange am andern Morgen meldete, daß der junge Winter die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen sei, und als er auch zu Beginn des Schulunterrichts nicht kam, um seine Bücher zu holen, wurden seine Pensionseltern unruhig. Sie schickten zu Klawonn und erfuhren nun zu ihrer grenzenlosen Bestürzung, daß Ernst Winter ganz gegen seine sonstige Gewohnheit an diesem Sonntag garnicht dort vorgesprochen hatte. Jetzt wurden sofort die Eltern von dem Verschwinden ihres Sohnes telegraphisch in Kenntniß gesetzt. Von einer Benachrichtigung der Behörden nahm man dagegen noch Abstand, weil man das Verschwinden des jungen Mannes zunächst noch auf irgend einen unüberlegten Jugendstreich zurückführte und ihn nicht voreilig unnöthig ins Gerede bringen wollte. Noch an demselben Abend trafen die Winter´schen Eheleute aus Prechlau in Konitz ein, und nach kurzer Berathung mit seinen dortigen Freunden erstattete nun der Bauunternehmer Winter der Polizei die Anzeige von dem Verschwinden seines Sohnes.

Natürlich konnte dieselbe vorerst so gut wie garnichts in der Sache thun, denn es war ja bisher nicht das kleinste Anzeichen |[6] dafür vohanden, daß der junge Winter irgend einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei. Es blieb den Eltern also vorläufig kein anderer Weg, als mit Hilfe ihrer dortigen Freunde und Bekannten auf eigne Faust Nachforschungen nach dem Verbleib des Verschwundenen anzustellen. Das geschah gleich am nächsten Tage. Während die Mutter in Begleitung des Fräuleins Klawonn bei allen Freunden und Bekannten ihres Sohnes nach dem Verbleib desselben forschte, begab sich der Vater mit dem Bäckermeister Lange nach dem Mönchsee, weil ihm bekannt war, daß sein Sohn ein leidenschaftlicher Schlittschuhläufer war, und man mit der Möglichkeit rechnete, daß derselbe vielleicht bei Ausübung dieses Sports auf dem Eise eingebrochen und hilflos ertrunken sei.

Unmittelbar am Ufer, an der sogenannten Spüle, sahen nun die beiden Männer in einer in das Eis gehauenen leicht überfrorenen Oeffnung ein Packet im Wasser liegen, welches sie ohne besonderen Arg - es konnte ja doch dem Umfange nach höchstens eine Kindesleiche enthalten – lediglich aus Neugier mit ihren Spazierstöcken herausfischten und öffneten. Man kann sich ihr Entsetzen denken, als sie die aus sogenannter brauner Lederpappe und grauer Packleinwand bestehende Umhüllung entfernten und nun auf den Rumpf eines ziemlich ausgewachsenen jungen Mannes stießen, in welchem der alte Winter wohl mehr aus instinktivem Angstgefühl als an irgend einem wirklichen äußeren Merkmal die gräßlich verstümmelte Leiche seines Sohnes erkannte. Beim sofortigen Weitersuchen an derselben Stelle wurden dann auch noch die beiden vom Rumpf getrennten Gesäßbacken unverhüllt aus dem Wasser gezogen.

Die sofort von dem schaurigen Funde verständigte Behörde ermittelte noch an demselben Tage, daß die Packleinwand, in welche der Rumpf gehüllt war, von dem Schneidermeister Otto Plath herrührte. Eine daraufhin bei dem Letzteren vorgenommene Haussuchung förderte aber nichts Belastendes zu Tage. Noch ergebnißloser verlief die Haussuchung bei dem Schlächtermeister Hoffmann. Dieser war in den Verdacht der Thäterschaft gerathen, weil er oder einer seiner Gesellen einmal den Ernst Winter wegen einer Liebelei desselben mit seiner Tochter bedroht haben sollte, weil sein Grundstück in nächster Nähe des Fundortes der Leichentheile lag und drittens, weil man damals allgemein den Thäter der kunstgerechten Zerstückelung der Leiche wegen, nur unter den Schlächtern suchte.

Zwei Tage nach Auffindung des Rumpfes, am Donnerstag, den 15. März, wurde dann in früher Morgenstunde von einem Bäckerjungen der rechte Arm des Ermordeten an einem wenig benuzten Nebeneingang des evangelischen Friedhofes gefunden, wo derselbe zweifellos erst kurz vorher von dem Mörder niedergelegt sein konnte. In der Nähe des Armes lag ein jedenfalls zum Transport desselben benuztes Stück Papier, auch fand sich in der |[7] Nähe der Fundstelle eine augenscheinlich von einem Frauenstiefel herrührende Fußspur, durch welche der schon ohnehin bestehende Verdacht, daß der Ermordete wahrscheinlich bei irgend einem galanten Abenteuer sein Ende gefunden hatte, begreiflicher Weise neue Nahrung erhielt. Nach weiteren acht Tagen, am 21. März, wurde dann ungefähr an derselben Stelle, wo seiner Zeit der Rumpf gefunden war, auch der rechte Oberschenkel aus dem Mönchsee gefischt. Dieser Fund führte zu einer erneuten Durchsuchung aller in der Nähe gelegenen Baulichkeiten, darunter auch der Synagoge, diese Bemühungen verliefen aber wiederum völlig ergebnißlos und gaben den Behörden nicht den gerinsten Fingerzeig im Bezug auf die Person des Thäters.

Diese fortdauernde Ergebnißlosigkeit der polizeilichen Anstrengungen, des Mörders habhaft zu werden, trägt wohl die Hauptschuld an der veränderten Beurtheilung der That und ihrer Beweggründe, die inzwischen in der Konitzer Bevölkerung Platz gegriffen hatte. Denn selbstverständlich hatte die Kunde von dem grausigen Leichenfund in der kleinen Stadt sofort die größte Aufregung hervorgerufen, und diese Anstrengung wurde noch gesteigert durch die offenbar von Seiten des Mörders bei der Verschleppung des Armes an den Tag gelegte Frechheit. Das Volksgemüth verlangte eine sofortige energische Sühne des scheußlichen Verbrechens, und als die mit der Untersuchung betrauten Beamten dieses Verlangen nicht so schnell, als es gefordert wurde, erfüllen konnten, da griff in der Bevölkerung allmählich immer mehr ein tiefes Mißtrauen erst gegen ihre Fähigkeiten, später aber geradezu gegen ihren guten Willen, den Mörder zur Rechenschaft zu ziehen, um sich. Der aus den wirthschaftlichen Verhältnissen jener Gegend heraus leicht zu erklärende, immer vorhandene, latente Judenhaß, die mißverständliche Deutung der ersten ziemlich oberflächlichen medizinschen Gutachten und die zweifellos vorhandene frappante Aehnlichkeit des Konitzer und des Skurzer Mordes besorgten dann wohl das Uebrige, um der schon ohnehin für jede Art der Mythenbildung empfänglichen erregten Stimmung der Konitzer Bevölkerung jene bedauerliche Richtung zu geben, welche der traurigen Affaire zu so weittragender Bedeutung verholfen hat.

Die Judenhetze war jedenfalls plötzich da. Die Ermordung des jungen Winters wurde von der antisemitischen Agitation zum Ritualmord gestempelt, und der über diese Glaubensthese ausbrechende Parteihaß und Parteihader legte sich als eine immer dichtere Nebelwand zwischen dem wirklichen Mörder und seine Verfolger. Weder die Entsendung besonders geschulter Kriminalisten - es war inzwischen auf Ersuchen der zuständigen Lokalbehörden von Berlin aus der Kriminalkommissar Wehn mit Beamten zur Aufklärung des Mordes nach Konitz entsandt worden - noch die von Seiten der Behörden für die Ermittelung der Thäter ausgelobte verhältnißmäßig |[8] horrende Belohnung, die in schnellen Sprüngen von anfänglichen 100 Mk. bis auf 27,600 Mk. stieg, waren im Stande, der Bevölkerung den traurigen Wahn zu rauben, daß die Behörden aus Rücksicht auf die Juden die Aufklärung der traurigen Affaire absichtlich unterdrückten. Kein Wunder, wenn unter solchen Umständen die Untersuchung nicht vom Fleck kam. In der Schlichtung der täglichen Unruhen und Tumulte, in dem mühevollen Herausschälen des vielleicht winzig kleinen Körnchens Wahrheit aus dem Phantasiegewebe der jetzt plötzlich massenhaft auftauchenden und sich meldenden Zeugen verpuffte und erlahmte wirkungslos die ganze Arbeitskraft der Behörden.

So waren bereits 5 Wochen seit dem Verschwinden des Ernst Winter vergangen, da fanden spielende Knaben am ersten Ostertage in der Nähe des Konitzer Stadtwäldchens den Kopf des Ermordeten. Er lag in einem Wassergraben, der mit dem Mönchsee in direkter Verbindung steht, es ist indessen nach Lage der Sache ganz ausgeschlossen, daß derselbe vielleicht auf natürlichem Wege d.h. durch die Strömung an seinen Fundort gelangt sein könnte. Er mußte unbedingt von den Mördern direkt dorthin verschleppt sein. In der Nähe des Kopfes fand man ein in vier, ziemlich gleiche Theile zerrissenes Damentaschentuch, eine Beilage der "Täglichen Rundschau" und einige Fetzen braunen Packpapiers. Der Kopf selbst war noch sehr gut erhalten und nur an den Schnitträndern am Halse etwas in Verwesung übergegangen. Ob das auf die bekannten konservirenden Eigenschaften des Moorwassers zurückzuführen ist, oder ob der Kopf wirklich, wie man in Konitz allgemein glaubte, von den Mördern sofort in ihrer Behausung auf Eis gelegt worden ist, wird sich wohl mit absoluter Sicherheit niemals feststellen lassen. Für die erstere Annahme spricht allerdings die größere Wahrscheinlichkeit, denn obgleich der Kopf sofort unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln auf Eis gelegt wurde, ging er doch sehr schnell in Verwesung über. Nach sachverständigem Urtheil ist das eine Folge der Einwirkung der athmosphärischen Luft, der der Kopf auf dem Transport zur Stadt kurze Zeit ungeschützt ausgesetzt war. Dieselbe Wirkung hätte dann aber auch zweifellos das Hinbringen des Kopfes haben müssen, so daß anzunehmen ist, daß der Kopf unmittelbar nach der That bereits dorthin verschleppt worden ist und bis zu seiner Auffindung am 15. April unberührt an seinem Versteck gelegen hat.

Die Auffindung des Kopfes führte nun zur ersten Verhaftung in der Angelegenheit. Es meldete sich nämlich unmittelbar nach Bekanntwerden des neuen Fundes der Botenmeister Fiedler, ein durchaus zuverlässiger und glaubwürdiger Zeuge, und bekundete, daß er am Charfreitag, also zwei Tage vor Auffinden des Kopfes, den früheren Abdecker Israelski, einen nicht gerade im besten Rufe stehenden Menschen, mit einem Sack, in welchem sich anscheinend |[9] ein runder Gegenstand von der Größe eines Kohlkopfes befunden habe, in der Richtung nach der Fundstelle aus der Stadt habe gehen sehen, und auch gesehen habe, wie derselbe nach angemessener Zeit mit leerem Sack und arg beschmutzten Stiefeln wieder zurückgekommen sei. Natürlich wurde Israelski auf diese ihn schwer belastende Aussage des Fiedler hin sofort in Haft genommen, später allerdings - um das hier gleich vorweg zu nehmen - von der Anklage der Begünstigung freigesprochen, obgleich er sich bei der Angabe seines Alibis an jenem kritischen Tage immerhin in einige Widersprüche verwickelt hatte.

Man hätte nun meinen sollen, daß durch die erfolgte Verhaftung des Israelski, der ja doch ein Jude war, das Vertrauen der Bevölkerung in die Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit der Behörden wiederkehren würde, aber davon war leider nicht das Mindeste zu spüren. Die Bevölkerung hatte sich bereits dermaßen in die fixe Idee verbissen, daß der junge Winter bei dem Schlächtermeister Levy von diesem unter Assistenz seiner Söhne und einiger anderer Glaubensgenossen ermordet worden sei, daß man Israelski von vornherein nur als einen höchst untergeordneten Helfershelfer der eigentlichen Schuldigen bezeichnete. Nun, die Thatsache, daß dem Israelski auch von den grimmigsten Antisemiten die That selbst keinen Augenblick lang zugetraut wurde, bildet vielleicht den besten Beweis dafür, daß dieser Mann faktisch an der Ermordung des jungen Winter in keiner Weise betheiligt war.

Die bisher gefundenen Leichentheile waren inzwischen, da Zweifel an der Richtigkeit und Zuverlässigkeit der ersten medizinischen Gutachten rege geworden waren, durch die Berliner Gerichtsärzte Dr. Mittenzweig und Störmer einer Nachobduktion unterzogen und dann den Eltern des Ermordeten zur Bestattung freigegeben worden. Die feierliche Beisetzung fand dann auch am 27. Mai unter kolossaler Betheiligung der Bevölkerung statt, und zur Ehre der Konitzer Bürgerschaft muß es gesagt werden, daß wenigstens die Ruhe an diesem Tage nicht sonderlich gestört wurde. Um so schlimmer brachen dann allerdings die Unruhen zwei Tage später aus.

Der inzwischen gleichfalls nach Konitz gesandte Kriminal-Inspektor Braun glaubte nämlich auf Grund verschiedener Verdachtsmomente die Verhaftng des Schlächtermeisters Hoffmann rechtfertigen zu können und schritt deshalb am 29. Mai zu seiner Verhaftung. Hoffmann und seine Tochter Anna wurden also in der Frühe dieses Tages nach dem Rathhause zitirt und dort einem stundenlangen Kreuzverhör unterworfen. Sie mußten allerdings beide, da dieses Verhör kein weiteres belastendes Moment gegen sie zu Tage förderte, noch am Nachmittag desselben Tages wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Die Kunde von ihrer Sistirung [1] war aber bereits wie ein Flugfeuer durch die Stadt gelaufen und hatte unter der Bevölkerung eine Aufregung hervorgerufen, wie sie bis |[10] dahin denn doch noch nicht zu bemerken war. Zum ersten Male seit dem Morde erwiesen sich die vorhandenen Polizei- und Gensdarmeriemannschaften außer Stande, die Ruhe aufrecht zu erhalten. Es mußte Militär requirirt werden, das dann auch noch am späten Abend eintraf und die Ordnung wieder herstellte.

Diese Tumultszenen waren übrigens noch das kleinere Uebel. Weit schlimmer war es, daß nunmehr auch in Folge des scharfen Vorgehens der Behörden gegen Hoffmann die von antisemitischer Seite inszenirte Hetze gegen den jüdischen Schlächter Levy noch weit gehässigere und leidenschaftlichere Formen annahm, als es leider vordem schon der Fall gewesen war. Ueber die Art und Weise, wie der junge Winter in dem Levy’schen Schlächterkeller sein schreckliches Ende gefunden haben sollte, liefen in der Stadt die tollsten und abenteuerlichsten Gerüchte um. Und als sich die Behörden durchaus nicht dazu verstehen wollten, auf diese unkontrollirbaren Flunkereien und Biertischreden hin gegen Levy und seine Familie in dem gewünschten Sinne vorzugeben, da fanden sich schließlich auch wirkliche Zeugen, die – zum theil unter Eid – Dinge bekundeten, die, wenn sie nur halbwegs der Wahrheit entsprachen vollständig hingereicht hätten, den Schlächtermeister Levy und seine Söhne ans Messer zu liefern. Am tollsten in dieser Beziehung trieb es der bekannte Arbeiter Maßloff, der sich geradezu als Augen- und Ohrenzeuge, der im Levy’schen Keller stattgefundenen Abschlachtung des jungen Winters aufspielte und diese angeblich gemachten, ungeheuerlichen Wahrnehmungen auch wiederholt beschwor.

Die Konitzer Behörden hatten sich ja nun allmählich daran gewöhnt, daß die Bevölkerung in Bezug auf diese Affaire ziemlich lästerlich mit dem Eide umging. Man hatte aber aus zwingenden Gründen - an eine Verurtheilung durch die Geschworenen wäre ja bei der nun einmal in Stadt und Land herrschenden Stimmung doch nicht zu denken gewesen - dazu regelmäßig beide Augen zudrücken müssen. Den Maßloff’schen Behauptungen gegenüber konnte man aber dieses Duldsamkeitsprinzip doch nicht mehr durchführen, denn der von diesem und seiner Sippe geleistete Meineid war zu ungeheuerlich und war zugleich so offenkundig, daß er auch von den verbissensten Antisemiten nicht geleugnet werden konnte. Der brave Maßloff und seine würdige Schwiegermutter wurden also wegen Meineid in Untersuchung genommen.

Von diesem Augenblick an wurde die eigenliche Morduntersuchung durch die immer stärker anschwellende Fluth der zahllosen Beleidigungs-, Landfriedensbruch- und Meineidsprozesse mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Es folgten in ziemlich rascher Aufeinanderfolge die Prozesse Israelski, Speisiger und Maßloff, bei denen, namentlich bei dem zuletzt genannten, die ganze Mordaffaire im weitesten Umfange vor der Oeffentlichkeit aufgerollt |[11] wurde, ohne daß dadurch neues Licht in die dunkle Affaire gebracht oder neue Spuren entdeckt worden wären. Nur in Bezug auf die sich bisher arg widersprechenden ärztlichen Gutachten ist dadurch einige Klarheit geschaffen worden. Während man Anfangs allgemein annahm, daß der Tod durch Verblutung eingetreten sei, neigt man jetzt zu der Ansicht, daß der junge Winter erst erstickt und dann zerstückelt worden ist und zwar muß der Tod noch im Laufe des Nachmittags bis spätestens 7 Uhr eingetreten sein.

Aber auch die aus diesem veränderten ärztlichen Gutachten sich ergebenden neuen Gesichtspunkte vermochten nicht, der Untersuchung nach irgend einer Seite hin eine entscheidende Wendung zu geben. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß gegen Ende des Jahres 1900 die eigentliche Morduntersuchung so gut wie völlig eingeschlafen war, denn weder die bis dato verhandelten Monstreprozesse noch der Wechsel in der Person der hauptsächlich mit der Untersuchung betrauten Beamten – der von antisemitischer Seite so schwer angegriffene bishereige erste Staatsanwalt Herr Settegast war durch Herrn Schweiger und die Berliner Kriminalbeamten Wehn, Braun und Klatt durch den von der „Staatsbürger-Zeitung“ besonders warm empfohlenen Herrn von Kracht ersetzt worden - waren im Stande gewesen, die Untersuchung auch nur einen Schritt weiter zu bringen. Der Hoffnung, der Thäter jetzt noch nach beinahe 10 Monaten habhaft zu werden, stand die Konitzer Bürgerschaft jedenfalls sehr skeptisch gegenüber.

Da übernahm es der Mörder selbst, das Interesse an der schon halb eingeschlafenen Affaire aufs Neue wieder wachzurufen.

Am 9. Januar fanden nämlich einige Spielleute des in Konitz der steten Unruhen wegen einquartierten Bataillons im Stadtwäldchen, in dessen Nähe bereits seiner Zeit der Kopf gefunden war, Jackett und Weste des Ermordeten. Dieselben konnten offenbar noch nicht lange an der betreffenden Stelle gelegen haben, mußten wohl überhaupt immer sehr sorgfältig aufbewahrt gewesen sein, denn sie waren noch so gut erhalten, als wären sie eben aus dem Spinde genommen worden. Es hat auch jedenfalls garnicht in der Absicht des Thäters gelegen, sie besonders sorgfältig zu verstecken, denn das Waldplätzchen, auf welchem sie lagen, war den meisten Konitzern als ländlich – schändliche Bedürfnißanstalt wohl bekannt. Die Sachen mußten also und sollten vermuthlich auch bald gefunden werden.

Natürlich rief die Kunde von diesen neuen Funden in der inzwischen schon etwas ruhiger gewordenen Bevölkerung wiederum die größte Aufregung hervor, und diese Aufregung steigerte sich ins Ungemessene als – ganz wie bei den ersten Leichenfunden vor 10 Monaten – kurz nacheinander zwei weitere wichtige Funde gemacht wurden. Am Morgen des 13. Januars fand man nämlich in dem in der Nähe des Fundortes des Rumpfes gelegenen Logengarten, |[12] und zwar dicht am Zaun die Beinkleider des Ermordeten und zwei Tage später in einem abgelegenen Winkel des Hofes der städtischen Mädchenschule seinen Ueberzieher. Beide Kleidungsstücke konnten nach Lage der Sache höchstens ein paar Stunden vorher von ihren bisherigen Besitzern dort hingeworfen sein.

Jetzt schritt man endlich zu den von der Bevölkerung von Anfang an so heiß ersehnten Massenhaussuchungen. Aus Danzig und Berlin wurden eine größere Anzahl Kriminalbeamte requirirt und von ihnen die in der Umgebung der beiden zuletzt gefundenen Kleidungsstücke belegenen Gebäude, der Reihe nach sorgfältig durchsucht. Aber auch diese Maßregel führte zu keinem Resultat. Die von Seiten der Bevölkerung angesichts der neuesten Funde gehegte Hoffnung, daß sich der Mörder schließlich durch seine eigene bodenlose Frechheit doch noch verrathen würde, erwies sich als irrig. Die Beamten reisten nach kurzer Zeit unverrichteter Sache wieder ab. Den Mörder hatte Niemand von ihnen entdeckt.

Die gefundenen Kleidungsstücke waren inzwischen sorgfältig untersucht worden, und es fanden sich dabei in den Achsellöchern von Weste und Jackett Blutspuren, allerdings so geringfügiger Art, daß es beinahe ausgeschlossen erscheint, daß sich dieselben bei der vorgenommenen Zerlegung der Leiche noch am Körper des Unglücklichen befunden haben sollen. Außerdem wurden an Beinkleid und Weste noch eine große Anzahl Sperma-Flecke festgestellt, welche die schon vorher vielfach laut gewordene Annahme, daß der junge Winter kurz vor seinem Ende noch in irgend einer Form dem Geschlechtsgenuß gefröhnt habe, zur Gewißheit erhoben. Denn diese Flecke waren derart auffällig, daß es ganz ausgeschlossen erscheint, daß der sehr penible und eitle Winter mit derart beschmutzten Beinkleidern schon von Hause fortgegangen sein sollte.

Es folgte dann noch in Februar 1901 der Meineidsprozeß gegen Moritz Levy, sowie endlich vom 30. September bis 11. Oktober der sensationelle Beleidigungsprozeß gegen die „Staatsbürger-Zeitung“. In allen beiden Prozessen wurden trotz des ausgebotenen riesigen Beweisapparates irgend welche neuen, die Frage der Thäterschaft berührenden Momente nicht zu Tage gefördert. Die Konitzer Bluttat scheint, wenn nicht alle Zeichen trügen, für immer ungesühnt bleiben zu sollen.
Das ist in kurzen knappen Zügen der bisherige äußere Verlauf der vielerörterten und vielumstrittenen Konitzer Mord-Affaire.

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Anmerkungen (Wikisource)

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  1. [Als Sistierung im juristischen Sinn bezeichnet man die vorläufige Einstellung eines Verfahrens. Wikipedia-Artikel: Sisitierung]
  Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.