Erinnerungen aus dem französischen Militärleben
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1. Der Eintritt.
Bevor ich mit der Erzählung meiner Erlebnisse beginne, möchte ich dem geehrten Leser Einiges mittheilen über die Art und Weise, nach welcher die Anwerbung zum Militärdienste noch bis zur jüngsten Zeit in Frankreich gehandhabt wurde.
Das Contingent, welches jährlich zur Fahne berufen werden sollte, wurde durch Beschluß des gesetzgebenden Körpers festgestellt. Dasselbe betrug ungefähr die Hälfte der Militärpflichtigen von einer Altersklasse. Zu diesem Behufe fand jährlich, im Frühjahr, für die dienstpflichtigen Mannschaften eine Ziehung von Nummern statt, was man im Elsaß schlechthin „das Spielen“ nannte. Hohe Nummern befreiten vom Militärdienst, und wer eine solche aus dem Korbe zog, schätzte sich glücklich; jedoch erst die Musterung, bei welcher auch die Untauglichen ausfielen, gab dem Werthe der gezogenen Nummern den Ausschlag. Jeder Jüngling sehnte sich indeß nach einer hohen Nummer. Sieben Jahre Militärdienst sind keine Kleinigkeit, besonders wenn sie Söhne der ärmeren Klasse treffen; dieses war unter der französischen Verwaltung häufig der Fall; denn mit Geld konnte man sich loskaufen, und wer keines hatte, der mußte unbedingt an die sieben Jahre glauben, sofern er nicht eine günstige Nummer gezogen hatte. Das unmittelbare Ergebniß der Ziehung war denn auch stets für die Einen ein Anlaß zur ausgelassensten Freude und für die Anderen ein Grund zur wehmüthigsten Herzzerreißung und zu den bittersten Thränen. Die siebenjährige Dienstzeit raubte dem Ackerbau eine Arbeitskraft und der Familie eine Stütze. Das Gesetz hatte wohl vorgesehen, daß wenigstens der Erstgeborene einer Wittwe und der nachgeborene Bruder eines bei der Armee stehenden Sohnes vom Militärdienst verschont blieben, aber dessen ungeachtet mußte doch die arbeitende Klasse beinahe die ganze Last desselben tragen, weil sie sich nicht ums Geld davon befreien konnte. Die jungen Leute, welche sich ums Geld anwerben ließen, waren hauptsächlich solche, die sich frei gezogen hatten, und gehörten meist zu der nicht besitzenden Klasse. Manche derselben suchten mit der Einstandssumme ihrer Familie in der edelsten Weise aufzuhelfen oder für ihren eigenen späteren Haushalt eine sichere Grundlage zu schaffen, oft jedoch bekamen die Regimenter durch sie alljährlich einen Zuschuß von Söldlingen und feilen Menschen.
Ich war Hilfslehrer in einem kleinen Städtchen des Unter-Elsasses, und 115 Knaben unter dem Alter von zehn Jahren waren meiner Fürsorge anvertraut. Aber im Sommer 1866 bekam ich Grund mit meiner Existenz unzufrieden zu sein; denn nebst dem kaum ausreichenden Gehalte, welcher damals den Hilfslehrern zugemessen war, fing meine Brust an, die untergrabende Wirkung des Schulstaubes zu fühlen, und die Sehnsucht nach frischer Luft und freiem Leben wurde in mir wach. Ich entschloß mich, der Schule für immer Lebewohl zu sagen. Unter meinen nächsten Verwandten fand mein Entschluß günstige Aufnahme. Das freie Leben des Soldaten hatte mich schon früher bezaubert, und nun war ich gerade im Alter, um mich demselben widmen zu können. Am 14. Oktober 1866 kam ich demzufolge nach Straßburg, um als Freiwilliger in die französische Armee zu treten. Die nöthigen Papiere und Ausweise hatte ich schon früher anfertigen lassen. Bei der Musterung wurde ich tauglich befunden, und die Wahl zwischen zwei Linienregimentern, dem 11. und 45., stand mir frei. Da mir der Garnisonsort von keinem der beiden Regimenter bekannt war, entschied ich mich für das 11. Linienregiment. Es lag, wie ich gleich nachher erfuhr, in Besançon. Mein Reisebefehl wurde für letzteren Ort ausgestellt, und ich hatte mich am 15. Oktober, Abends vor 8 Uhr, beim Major des Regiments zu melden. So bin ich denn am 15. Morgens mit der Eisenbahn nach meinem Bestimmungsort abgefahren. Bis nach Mülhausen, im Ober-Elsaß, blieb ich einziger Insasse eines Wagens, und hatte also Weile genug, um sowohl über das Leben, von dem ich schied, wie über das, welches ich anzutreten im Begriffe stand, ernste Betrachtungen anzustellen. Wegen meines Lebens als Hilfslehrer hatte ich mir keine Vorwürfe zu machen, und das innere Militärleben war mir ziemlich unbekannt; [70] mein Entschluß hatte aber Bedeutung genug, daß ich ihn nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. So sehr ich auch für die Freiheit schwärmte, welche mir das Militärleben verhieß, drückte mich dennoch die Besorgniß, daß ich wenigstens für die erste Zeit mich Menschen unterwerfen mußte, vor denen ich im Civilleben wenig Achtung haben konnte. Dieser Gedanke war mir peinlich und beschäftigte mich sehr; aber was kann ein Jüngling von 20 Jahren nicht alles von seinem Muthe und Eifer erwarten? Während ich mich diesen und ähnlichen Gedanken überließ, war der Zug mit mir eine weite Strecke in der Ebene dahingerollt. Auf einmal hörte ich „Ebersheim! Ebersheim!“ rufen. An der Station Ebersheim war ich vor sechs Jahren im Oktober abgestiegen… Das Kloster, in welchem ich drei Jahre zugebracht und welches nicht weit von da liegt, trat wieder in seiner für mich schmerzlichen Gestalt vor mein Gedächtniß, aber schnell war der Zug vorüber, der mich unaufhaltsam davon trug, so sehr ich auch gewünscht hätte, die mir durch meine frühen Leiden liebgewordene Gegend länger zu betrachten und wenigstens, vielleicht zum letzten Male, an Ort und Stelle die alten Eindrücke zu erneuern. Fort nach Frankreich, fort nach Frankreich! rief eine Stimme in meinem Innern. Fort aus Wagniß zum neuen Glücke! Für mich wie für jeden Elsässer lag Frankreich jenseits der Berge. Die Sprache hat beide Völker diesseits und jenseits der Vogesen von jeher getrennt, und die Grenze war dadurch vorgezeichnet. In Belfort kam ich zum ersten Male in Berührung mit den sogenannten Welschen. Wenn ich auch nur vorbeigefahren bin, so habe ich doch dort zum ersten Male Stockfranzosen sprechen hören und ihr Benehmen von dem der mitreisenden Elsässer genau unterschieden. Ich muß hier einige charakteristische Bemerkungen einfügen, welche sich mir damals aufdrängten.
Der weniger gebildete Elsässer spricht im Verhältniß zum Franzosen ungemein langsam und bedient sich gern der Hände, um durch deren Mitwirkung seinen Gedanken einen möglichst scharfen Ausdruck zu geben. Der Daumen, der Zeigefinger, ja sogar oft die Faust, müssen seinen Ausdrücken entweder mit achtunggebietenden oder bittenden Zeichen nachhelfen. Der Franzose hingegen spricht ungemein rasch und sein Kopf ist so unruhig wie seine Zunge; auch sucht er durch lebhafte Veränderungen der Gesichtszüge auf die mit ihm sprechende Person zu wirken, und darin spielen die Augen die größte Rolle; die Hände kann er dabei ganz ruhig in der Tasche behalten.
Der Elsässer nimmt sich sehr viele Zeit, um das zurechtzulegen, was er sagen will; der Franzose denkt sehr wenig und spricht sehr viel, besitzt aber im gesellschaftlichen Umgang einen sehr schätzenswerthen Unterhaltungsgeist. Darin ist der Franzose nicht nur dem Elsässer, sondern den Anngehörigen aller übrigen Nationen Europa′s überlegen. Dagegen urtheilt der Franzose oft falsch, weil er eben ohne Ueberlegung spricht. Ob richtig oder unrichtig, ist ihm oft gleichgültig, er will ja nur unterhalten, und wenn man ihn über eine Unrichtigkeit zur Rede stellt, weiß er sich schon mit einem guten Witze aus der Klemme zu helfen.
Die Eisenbahn brachte mich dann unter dem unaufhörlichen näselnden Geplauder meiner stockwelschen Reisegefährten nach der Hauptstadt der freien Grafschaft – nach Besançon. Es war 4 Uhr Nachmittags, als ich daselbst abstieg, und unverzüglich auf das nächste Thor, welches vom Bahnhof aus sichtbar ist, zuging. Das Erste, was einem hier ins Auge fällt, sind die bedeutenden Außenforts, welche rings auf kegelförmigen Bergen die Stadt und die Gegend beherrschen. Besançon ist einer der wichtigsten Waffenplätze Frankreich’s und zugleich ein nicht unbedeutender Handelsort in Kleinwaaren. Sofort beim Eintritt in die engen, geräuschvollen Straßen, habe ich bemerkt, daß der Arbeiter und Handwerker daselbst zu Hause ist. Da gehen keine müßigen Herren in den Straßen spazieren, da bewegt sich eine Bevölkerung, welche wenig Ansprüche ans Leben macht, dabei aber fröhlich und guten Muthes ist. Rechts und links deuten Schilde auf die caboulots (Weinkneipen), wo Wein, Branntwein, Absynth und tausend andere Liqueurs nach dem Glase verkauft werden. Handwerksleute und caboulots, – caboulots und Handwerksleute, das ist Besançon. Es ist eine alte, uralte Stadt, deren jetzige unansehnliche Gebäude wohl größtentheils auf mehreren Ablagerungen älterer Häuser ruhen. Die Straßenregulirung hat auch hier ihren erneuernden Einfluß ausgeübt; die Straßen aus der Römerzeit liegen längst sammt vielen Alterthümern unter neuen Stadtvierteln begraben.
Mein Erstes war, mein Regiment aufzusuchen. Ich fand es theils zu St. Peter und theils zu St. Paul, Kasernen, benannt von ehemaligen Klöstern, deren Bauplätze sie jetzt einnehmen. Ich ging nach St. Peter, um mich nach der Adresse des Majors zu erkundigen. Es war aber nicht leicht in das Quartier einzudringen. Der sergent de planton (Beobachtungsschildwache), der unter dem Thore stand, verweigerte mir ganz entschieden den Eintritt. Ich wies meine Papiere vor; es half nichts. Ich hatte mich schon entfernt, als der Unteroffizier mich wieder zurückrief. „Vous pouvez entrer“, sagte er, „mais vous payerez un litre, hein?“ (Sie können eintreten, aber Sie bezahlen einen Liter Wein, Ja?). Bewilligen und Eintreten war eins. Ich wurde von einem Soldaten zu einem Sergeant-Major gewiesen, welcher mir die gewünschte Adresse schriftlich übergab und mich zugleich bat, beim Major für seine Kompagnie zu optiren. Als ich das Quartier verließ, fand ich den sergent de planton in großer Aufregung. Er brummte heftig und schäumte vor Zorn. Ich fragte einen der umherstehenden Soldaten, was vorgefallen, und bekam zur Antwort: „Le sergent de planton a eu 8 jours de salle de police pour avoir laissé entrer un pékin[1] au quartier.“ [71] (Der Sergeant der Wache ist mit 8 Tagen Arrest bestraft worden, weil er einen Civilisten ins Quartier eintreten ließ,) „Un pékin?“ wiederholte ich fragend. Der Soldat zuckte mit den Schultern und lachte. Ich entfernte mich. Beim Major wurde ich sehr gut aufgenommen. Der menschenfreundliche Herr erbot sich, für meine spätere Beförderung zu sorgen und sich für meine Anstellung als Hilfslehrer beiden Truppenkindern in nächster Zeit zu verwenden. Außerdem trug er mir noch einen 8tägigen Urlaub an, den ich jedoch ablehnte, damit meine Einübung in den Waffen nicht in den Winter hinausgeschoben würde. Ich war von der Freundlichkeit des Herrn Majors entzückt und voll Begeisterung ging ich am Abend noch in die Kaserne, um das Nachtquartier in meiner Kompagnie zu nehmen.
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2. Das Kasernenleben.
Ich will mich nicht über die einzelnen Umstände meiner Aufnahme in die Kompagnie verbreiten. Der Franzose bleibt auch im Kasernenleben ein liebenswürdiger Mensch. Die Kompagnie ist wie eine Familie, in welcher die jüngeren Soldaten von den vieilles moustaches (alte Schnurrbärte) wie Kinder aufgenommen werden; natürlich ist diese Zuvorkommenheit stets auf einen guten Trunk berechnet, den ich wegen der großen Freundlichkeit auch nicht abschlagen konnte. Der alte Soldat hat immer einen unermeßlichen Durst, der meist auf Kosten der jüngeren gelöscht wird. Besonders die Unteroffiziere, welche in ihrer zweiten oder dritten Stellvertretung standen, thaten sich in dieser Weise viel zu Gute.
In das Kasernenleben ward ich bald eingeweiht. Jedoch in der ersten Zeit, als ich täglich während 4 Stunden zu der Uebung in den Waffen angehalten wurde, beneidete ich die alten Soldaten um ihre behagliche Ruhe, welche nur der Wachtdienst etwa alle 8 Tage unterbrach. So hatte ich mir das Militärleben nicht vorgestellt. Der Reveil wurde im Sommer um 6 Uhr, im Winter um 7 Uhr geblasen. Dann konnte der Soldat aufstehen, aber nicht selten blieb er bis 9 und 10 Uhr in seinem vorzüglichen Bette liegen, namentlich wenn die schlechte Witterung einen Vormittagsspaziergang nicht erlaubte. Diese Ruhe hatte der Soldat nicht etwa, weil das Reglement zu gelind gewesen wäre, oder weil die Befehlshaber des Regiments dem Soldaten diese Ruhe gegönnt hätten, sondern lediglich weil die höheren Befehle von den Offizieren selbst entweder nicht befolgt oder umgangen wurden. Die Soldaten gingen dann spazieren, knüpften Liebschaften an, tranken Wein und sangen dabei Lieder von Béranger und Anderen.
Appelle wurden um 11 Uhr Vormittags und um 8 Uhr Abends täglich mit Ausnahme des Sonntags abgehalten. Bei dem Appell um 11 Uhr mußten die Offiziere in der Kaserne erscheinen; zu dem des Abends kam abwechselnd einer der Lieutenants; sonst ließen sich Offiziere selten in der Kaserne blicken, und Sergeant-Majors und Sergeanten schalteten und walteten nach Belieben. Wenn der Offizier nicht gerade zum Dienst kommandirt war, trug er sich gewöhnlich in Civil, ging ins Caffee, spielte Billard, trank Liqueurs, las Zeitungen, und wenn von Krieg die Rede war, sprach er begeistert von der großen Ueberlegenheit des französischen Heeres und seiner Waffen über alle Heere und Waffen der Welt, steckte sich eine Cigarette an und blies mit selbstgefälligem Behagen den blauen Tabaksrauch nach der Zimmerdecke. Die Offiziere, meist alte Soldaten, waren vom pioupiou[2] oder soldat d′un sou [3] aufgestiegen und hatten die Erfahrungsschule aller dazwischen liegenden Chargen durchgemacht. Außer der theoretischen und praktischen Waffenlehre besaßen die Meisten nur wenig andere bildende Kenntnisse, und in der Sprache blieben sie fast alle auf das Französische beschränkt. Diejenigen Offiziere, welche jährlich als Lieutenants aus der Ecole Saint-Cyr (Militärschule in Saint-Cyr) in die Regimenter beordert wurden, brachten eine vorzügliche theoretische Schulbildung mit, aber im Praktischen hatten sie wenig Erfahrung. Diese Schüler aus Saint-Cyr waren gewöhnlich in der ersten Zeit ihres Dienstes des Soldaten unversöhnlichste Plagegeister, welche täglich Musterungen über Gamaschenknöpfe und Nadelbüchse hielten, bis sie sich endlich auch das behagliche Leben der älteren Offiziere angewöhnt hatten und das Caffeehaus der Kaserne vorzogen. Es gab auch alte Offiziere, welche neben ihrem Dienst noch ein Gewerbe betrieben, ob durchweg zur Kurzweil, will ich nicht entscheiden. So arbeitete z.B. der Premierlieutenant meiner Kompagnie als Schreiner. Alte Hauptleute gingen zur Sommerzeit fischen, während andere sich mit Gartenarbeiten beschäftigten. Solche Hauptleute waren bei den Soldaten beliebt und erhielten von denselben den Zunamen père oder Papa. Sie übersahen dem Soldaten sehr viel und ermahnten lieber, als daß sie kommandirt hätten. Der Soldat that sich was zu Gute darauf, und wenn in der Kompagnie eine Flasche Wein getrunken wurde, galt der erste Trinkspruch immer dem Wohle des Kapitäns.
Als ich die Uebung in den Waffen beendet hatte und, wie man sagte „ins Bataillon aufgenommen“ war, dachte ich ernstlich daran, mich um die mir angebotene Hilfslehrerstelle zu bewerben. Auf ein von mir an den Major gerichtetes diesbezügliches Schreiben verwendete sich derselbe sofort beim colonel (Obrist) für mich, und meine Anstellung wurde genehmigt.
Die Mittheilung von meiner Ernennung erhielt ich auf dem Wachtposten zu Contre-Escarpe (Gegen-Böschung) am 25. Dezember. Da ich nun von Contre-Escarpe spreche, möchte ich dem geehrten Leser etwas Näheres von dieser Escarpe mittheilen. Ich war zum ersten Male nach diesem Posten kommandirt worden. Meine Kameraden hatten mich bereits auf die Bedeutung dieses Wachtpostens und den damit verbundenen schweren Dienst aufmerksam gemacht. Gleich am Abend, als ich einsam unter dem düstern Gewölbe, welches in die Citadelle einführt, auf- und abging, um frische Luft zu schöpfen, vernahm ich rechts und links unter den kalten triefenden Mauern Töne, gleichwie die Stimmen von Wehklagenden und Seufzenden, manchmal von schwerem Husten unterbrochen. Meine Aufmerksamkeit wurde immer größer; ich lehnte mich an die Mauer, um besser zu hören, als plötzlich ein garde-chiourme (Gefangenen-Wärter) auf mich zu kam und mir gebot, mich von der Stelle zu entfernen. Ich ließ es mir nicht zweimal sagen und ging von dannen. Um Mitternacht kam derselbe garde-chiourme auf den Wachtposten und begehrte einen Soldaten mit Gewehr als Begleitung bei seiner nächtlichen Runde. Die Reihe war an mir und so fand ich Gelegenheit, in der Stunde, in welcher [80] die ganze Menschheit sich über die Geburt des Erlösers freute und von allen Kirchen der Stadt die Glocken das Gedächtniß daran verkündeten, die gräulichsten Bilder menschlichen Elends anzublicken. Der garde-chiourme hatte mir die Laterne übergeben, und indem ich hinter ihm herging, kamen wir an eine kleine, mit schwerem Eisen beschlagene Thüre, welche zu den unterirdischen Gemächern führte, aus welchen die am Abend vernommenen Töne gestiegen waren. Diese Gemächer selbst waren mit gleich festen Thüren verschlossen und ich zählte deren fünf, welche nach einander von dem garde-chiourme geöffnet wurden. Im Innern der Gemächer herrschte die tiefste Finsterniß. Sie waren kaum einen Meter breit und ungefähr 3 Meter lang. Bei der Thüre, welche sich nach außen öffnete, stand ein Wasserkrug; ein langes Brett, welches am unteren Ende den Boden berührte und am oberen auf einem Steine lag, trug in seiner schrägen Stellung etwas in eine graue Decke Gehülltes. Auf die Frage des garde-chiourme: „Rien de nouveau?“ (Nichts Neues?) sah ich die graue Masse sich langsam bewegen und ein „Rien“ (Nichts), von einem tiefen Seufzer begleitet, war die Antwort des Mannes, der in diesem Kerker schmachtete. Contre-Escarpe ist ein Militärgefängniß, in welchem damals ungefähr 200 Sträflinge untergebracht waren. Kurze Zeit bevor ich dahin zur Wache kommandirt wurde, war unter den Sträflingen ein Aufruhr ausgebrochen, und die Haupträdelsführer mußten jetzt in den ebenbeschriebenen Kerkern ihr verbrecherisches Unternehmen abbüßen.
Meine Anstellung bei den Truppenkindern befreite mich von jedem inneren und äußeren Dienste. Ich hatte täglich während 4 Stunden 10 der ältesten Knaben Unterricht zu ertheilen. Die übrige Zeit benutzte ich zum Besuchen der Museen, Bibliotheken und anderer Merkwürdigkeiten der Stadt, und die ersten Tage des Vorfrühlings lockten mich hinaus auf die nahe gelegenen Felsengebirge, welche auf beiden Seiten den Doubs einfassen und viele romantische Gegensätze bilden.
Interessant ist es vielleicht für den Leser etwas über die Truppenkinder zu erfahren. Diese waren Söhne von Gensdarmen und im Dienst stehenden Unteroffizieren und zwar die erstgeborenen, welche von der Militärverwaltung im Alter von 8 Jahren ihren Eltern entzogen wurden und unter Bewachung eines Sergeanten zum Kriegsdienste herangebildet werden sollten. Sie erhielten ihren Kräften angemessene Waffen, in welchen sie geübt wurden. Sie mußten sich an die rauhe Nahrung und das Kasernenleben früh gewöhnen. Nebenbei besuchten sie die Schule, welche jedoch bei so unbändigen Kindern von geringem Nutzen war. Die Anstalt hatte den Zweck, tüchtige Unteroffiziere heranzubilden, was aber bei der großen Mehrzahl dieser Kinder nicht erreicht wurde.
Die Waffenübungen derselben waren das reinste militärische Puppenspiel, das stets eine große Anzahl von Zuschauern ergötzte, umsomehr da die Kinder stets in militärischer Uniform auftraten.
Meine Anstellung sollte nicht von langer Dauer sein. Am 14. April kam plötzlich und unerwartet an das Regiment der Befehl zum Aufbruch nach Metz, und 8 Tage später zog es dahin ab. Ich blieb noch einen Monat in meiner Stellung und wurde dann auch mit einem Nachschub nach Metz gesandt. Kriegerische Gerüchte waren sehr verbreitet. Man las in den Zeitungen viel von einer Luxemburger Frage, aus welcher die Klügsten nicht recht klug werden konnten. Es hieß, daß der König von Holland seine Rechtsansprüche auf Luxemburg feilgeboten und der Kaiser der Franzosen dieselben erhandelt habe. Genug, als ich am 21. Mai mit einem Transport Soldaten nach Metz kam, fand ich da viele Truppen versammelt und die Bevölkerung war wegen der Kriegsgerüchte sehr aufgeregt. Die hier zusammengezogenen Regimenter wurden mit dem Aufbau von neuen Wällen, Erhöhung der alten und Errichtung neuer Außenforts sehr beschäftigt. Die Forts von Saint-Julien und Saint-Quentin wuchsen allmählich aus dem Boden.
Es herrschte ein wahres Befestigungsfieber. Man wollte auch schon überall preußische Spione erblicken, und mancher arme Kerl, den die Neugierde auf den Schauplatz der Arbeiten geführt hatte, wurde als verdächtig aufgegriffen, an das Platzkommando geschleppt und verhört. Da die Kasernen nicht mehr alle Truppen fassen konnten, wurden Abtheilungen derselben bei den Bürgern einquartiert; auch ich hatte das Glück zu einer solchen Abtheilung zu zählen und während dreier Wochen in der rue du Jardin (Gartenstraße) ein hübsches Dachkämmerchen zu bewohnen, von wo aus ich mit Hilfe eines Fernglases rings umher das rege Treiben der Kriegsrüstungen ruhig beobachten konnte. Indeß kamen noch immer mehr Truppen in die Festung. Die Reserven von 1864 und 1865 waren aufgerufen worden, um damit die aktiven Regimenter auf den Kriegsfuß zu stellen. Zufälliger Weise wurde das 11. Linienregiment mit 500 Elsässern vervollständigt, welche auch gleich nach ihrer Einübung an den Erdarbeiten Theil nehmen mußten. Von den französischen Soldaten wurden dieselben ihrer Sprache wegen als Prussiens titulirt und vom Regimentsoberst das Verbot, deutsch zu sprechen erlassen, was in jeder Kompagnie verlesen und für die Elsässer verdolmetscht wurde.
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3. Die Etappen.
Die Luxemburger Frage hatte, wie wir schon gesehen, eine große Rührigkeit in der französischen Armee hervorgerufen und dadurch den Soldaten aus seiner behaglichen Ruhe aufgestört. Außer den Befestigungsarbeiten wurden Waffenübungen und Manöver in großem Maßstabe ausgeführt und täglich neue Maßregeln für den inneren und äußeren Dienst getroffen. Die bei den Bürgern untergebrachten Truppentheile wurden allmählich in die Kasernen vertheilt, und so mußte ich auch mein Dachkämmerchen in der rue du Jardin gegen ein Mansardenzimmer in der Kaserne Chambière vertauschen. Kurz darauf bin ich zum Corporal aufgerückt.
Ich muß nun hier eine Merkwürdigkeit erwähnen, die auch geeignet ist, einiges Licht auf die Zustände des französischen Militärwesens zu werfen. Der Sergeant, welcher die Aspiranten (Bewerber) zum Unteroffizierdienste heranzubilden hatte, war ein Neger von der Insel Martinique. Dieses pechschwarze Sonnenkind wurde im Regimente allgemein bewundert, und man kann sich denken, daß wohl jeder junge Soldat neugierig war, dieses südliche Gewächs näher zu betrachten. Seine körperliche Beschaffenheit war übrigens schon auffallend genug, um die Augen der jungen Leute zu fesseln. Die [87] Uniform und die militärische Schulung hatten das Katzenartige seines Wesens bei Weitem nicht verwischt, und das hervorblickende Weiße seiner rollenden Augen, die aufgeworfenen rothen Lippen, die langen Arme, die großen Hände mit ihren gekrümmten Fingern, der schleichende Gang und das Unstäte seines ganzen Wesens zeugten immer von seiner wilden Abkunft. Mit diesem Menschen habe ich während drei Wochen Umgang gehabt, ohne jedoch sein Wesen ergründen zu können. Von äußerer Bildung hatte er einen vollkommenen Anstrich, dessen er sich sehr gut zu bedienen wußte, aber von Zeit zu Zeit brach die Wildheit durch, und dann konnte man es nicht mehr mit ihm aushalten. Er war plötzlich wie in eine Bestie umgewandelt und geberdete sich wie ein reißendes Thier. Er war aber leicht zu besänftigen, nämlich mit einem Glas Branntwein, für welches Getränke er stets eine große Vorliebe zeigte. Wenn er betrunken war, konnte man Alles mit ihm anfangen, und das wußten die Aspiranten wohl. Diese waren daher auch stets bedacht, den Schwarzen bei guter Laune zu erhalten, und da der Offizier, welchem die obere Leitung unserer Ausbildung anvertraut war, sich selten blicken ließ, liefen wir auch keine Gefahr den Neger in Verlegenheit zu setzen. Da ich nun von dem Neger des 11. Linienregiments gesprochen habe, kann ich noch die Mittheilung anfügen, daß die französische Militärbehörde, gleichsam um die Eintönigkeit des Militärlebens zu brechen, solche Schwarze an viele Linienregimenter vertheilt hatte. Die kleinen und großen Kinder von Stadt und Land wollten stets beim Durchmarsch eines Regiments besonders drei Dinge sehen: Den Tambourmajor wegen seiner Größe, die Sappeurs (Pioniere) mit den ungeheuren Bärenmützen und weißen Schürzen von Büffelleder und den Neger.
Als Corporal trat ich wieder in den aktiven Militärdienst, welcher höchst uninteressant ist. Den ganzen Sommer brachte ich zu mit dem Einexerzieren der Rekruten und zur Abwechselung mit dem Wachtdienst auf den verschiedenen Wachtposten der Festung Metz. Die Anfangs so heiße Luxemburger Frage erkaltete allmählich zum großen Aerger der alten Sergeanten, welche gehofft hatten, auf dem Schlachtfelde die Epauletten zu finden. Schon gegen Ende August wurde der Befehl gegeben, daß das 11. Linienregiment sich nach Bourges in Berry zu verfügen habe. Die Etappen wurden bekannt gemacht, und der Jubel, mit welchem diese Mittheilung aufgenommen wurde, ist unbeschreiblich. Das verwünschte Metz zu verlassen, wo der Soldat so hart durch Arbeiten und militärische Uebungen angestrengt worden war, konnte nur mit dem größten Freudenerguß begrüßt werden. Schon im Monat Januar hatte ein Ministerwechsel im Kriegsministerium stattgefunden. Der Marschall Randon, welcher sehr viel auf die Kleidung der Truppen, aber vielleicht zu wenig auf die Kriegsrüstung verwendet hatte, war vom Marschall Niel ersetzt worden, welcher sofort eine vollständige Umänderung im Militärwesen veranstaltete. Schon einige Zeit vor unserem Aufbruch von Metz wurde mit den Neuerungen begonnen, welche, ich will es gleich sagen, beim Ausbruch des Krieges von 1870 bei Weitem noch nicht ihren Abschluß erreicht hatten. Ich würde von den Tagesmärschen zwischen Metz und Bourges nichts sagen, wenn ich nicht gerade auf denselben vielfach Gelegenheit gefunden hätte mit dem französischen Landmann oder Bauern zu verkehren und in seine Verhältnisse hineinzublicken. In der nächsten Umgebung von Metz, an der Landstraße, die nach Toul führt, liegt das Dorf Jouy, welches von einer theilweise eingestürzten, auf riesenhaften Bogen ruhenden römischen Wasserleitung, durchkreuzt ist. Es war Morgens um 7 Uhr, als das Regiment durch dieses Dorf zog. Alt und Jung hatte sich an die Hauptstraße begeben, um unseren Durchmarsch zu sehen. Der französische Bauer, von mittelmäßiger Gestalt, mit blauer Blouse, weißer Schlafmütze, kurzen Hosen und Holzschuhen, wie ich ihn dort gesehen, ist mir auf der ganzen Reise bis nach Bourges überall wieder begegnet und seine Gesichtszüge sogar habe ich nirgends sehr verändert gefunden. Die Anlage der Dörfer, die Bauart und Einrichtung der Häuser bleiben überall dieselben und sind von den in Elsaß gebräuchlichen durchaus verschieden. Der französische Bauer macht keine so große Ansprüche auf Bequemlichkeit wie der Elsässer, welcher doch ein verhältnißmäßig wärmeres Klima bewohnt als z. B. der Lothringer und der Bewohner der Ardennen. Unser Weg führte über Pont-à-Mousson und Toul (sprich: Tuhl). Ueber diese Orte habe ich nichts mitzutheilen. Das Leben ihrer Einwohner ist ganz städtisch. Unsere dritte Station war Colombey-les-Belles (Colombey der Schönen). Unter diesem vielversprechenden Namen wurde ich zum ersten Male in eine französische Bauernhaushaltung eingeführt. Besondere Schönheiten habe ich trotz aller Aufmerksamkeit nicht endecken können, dagegen aber den zuvorkommenden liebevollen Charakter der Franzosen und Französinnen auch bei der weniger bemittelten Classe kennen und schätzen gelernt. Es ist schon eine große Annehmlichkeit für den Fremden, von so freundlichen Menschen empfangen zu werden, wenn auch der Zustand von Küche, Stube und Schlafkammer nicht seinen Anforderungen an Bequemlichkeit entspricht. In der Küche der französischen Bauernhäuser fehlt fast überall der Heerd. Dafür bedient man sich des keltischen Kochkessels, welcher an einem im Rauchfange befestigten Eisen mit Zacken über dem am Boden flackernden Feuer hoch oder nieder gehängt werden kann. Ich habe diese Einrichtung sogar in vornehmen Häusern in Toul, Neufchateau, Chaumont, Lacharité und Bourges vorgefunden und war erstaunt, die so praktische Einrichtung der Kochherde in Frankreich noch so wenig verbreitet zu sehen. In der Einrichtung der Stuben gibt es große Unterschiede, die von dem Reichthum oder der Armuth der Provinz oder der Ortschaft herrühren. Dieselben haben mich jedoch nirgends an die elsässischen Wohnstuben erinnert, ich möchte sogar dem französischen Bauer den Geschmack an einer freundlich eingerichteten Stube absprechen. Häufig sind die Stuben wie die Küche mit Backsteinen [88] geplattet oder mit Asphalt belegt und werden durch das Kaminfeuer am Boden erwärmt. Sehr oft sind Küche und Stube in einer Räumlichkeit vereinigt, was auch bei dem großen Mangel an Brennmaterial vortheilhaft sein mag. Unter solchen Verhältnissen ist kaum zu erwarten, daß man eine warme Stube antreffe. Die Familie des französischen Bauern kennt die Behaglichkeit eines von einem Ofen erwärmten Zimmers nicht. Sie versammelt sich wohl auch an den langen Winterabenden bei dem flackernden Kaminfeuer, aber von einer durchdringenden Wärme kann da keine Rede sein, weil nur die dem Feuer zugekehrte Seite dessen Wirkung verspürt und die andere der heranströmenden kalten Luft ausgesetzt bleibt. Diese Beobachtungen habe ich gleich in Colombey-les-Belles gemacht und dieselben in den später betretenen Bauernhäusern immer wiederholt. [102]
Einfach wie die Einrichtung seines Hauses sind auch die Mahlzeiten des französischen Landmannes, wobei das Schweinefleisch am häufigsten vorkommt. In manchen bäuerischen Behausungen werden große Mengen von Speck und geräucherten Würsten – frei von der Wand herabhängend oder auf Balken und Schäften lagernd – aufbewahrt. Die Mahlzeit wird häufig mit einer Specksuppe eingeleitet, die, mit wohlschmeckenden Gewürzen zubereitet, sehr gut mundet. Beim Tische darf nie das Weinkrüglein fehlen, das den Franzosen immer in guter Laune hält. Im Essen ist er sehr mäßig, im Trinken nicht unmäßig, aber wenn es ihm seine Mittel nur einigermaßen erlauben, läßt er den Wein nie ausgehen und das Wassertrinken verachtet er von ganzem Herzen. In Chaumont hatte es sich zugetragen, daß ich an einem Tage 2 mal von verschiedener Seite zum Versuchen eines Schweinekopfes eingeladen worden bin. Der Schweinekopf mit sammt den Ohren aufgetragen, wurde von den Gästen zerlegt und zu Salat gegessen und dabei tüchtig mit Rothwein begossen. Der Franzose liebt es, Fremde zu sich zu Tische zu laden und dieselben bewirthend über ihre Verhältnisse, ihre Herkunft, ihre Heimath, Sprache und Sitten auszufragen und läßt es inzwischen an Ermunterungen zum Essen und besonders zum Trinken nicht fehlen. – Durch das Ueberhandnehmen der Zeitungsschreiberei sind die Tagesfragen der Politik auch bis in die ärmsten Hütten gedrungen, und die heftigen Bewegungen, welche von den höheren Kreisen ausgehen, haben bis dorthin Zuckungen verspüren lassen.
Allenthalben mußte ich hören, daß die Luxemburger Frage nur aufgeschoben, und daß, um Frankreich zu retten, ein großer Krieg unvermeidlich sei. In mehreren Häusern, wo noch alte Großmütter lebten, kam es vor, daß, wenn die Familienglieder von Krieg sprachen, die alten Frauen mit ihren Erinnerungen aus den Jahren 1812 und 1815 ins Gespräch fielen und weinend von einzelnen Begebenheiten, die sie mit angesehen hatten, erzählten. Ich will hier nur einen solchen Fall kurz erwähnen. Bei einem der oben angeführten Schweinekopfsessen war ich mit mehreren jungen Leuten zu Tische und wie damals immer bei solchen Gelegenheiten wurde von Frieden und Krieg gesprochen. Ein altes Großmütterchen saß ruhig in einer Ecke der Stube. Ueber die Schicksalsschläge des Krieges wurde viel hin und her geredet und die Meinung, daß Frankreich aus einem Kriege mit Deutschland siegreich hervorgehen würde, wurde von sämmtlichen jungen Leuten für sehr wahrscheinlich gehalten. Einige behaupteten, daß eine Ueberfluthung Frankreichs mit fremden Truppen wie die von 1815 nicht mehr möglich wäre, weil sich Napoleon nur dann zu einem Feldzuge entschließen würde, wenn er über dessen günstigen Ausgang sicher sein konnte. Ich behauptete dagegen, daß man mit aller Vorsicht doch große Fehler begehen könne und daß es eigentlich sehr auf die Vorzüglichkeit der Waffen ankäme, um zu entscheiden, welcher der Kriegführenden den Sieg davontrüge. Bis dahin hatte das alte Mütterchen unserer Unterhaltung zugehört, jetzt aber, als es von Waffen vernahm, traten plötzlich die alten Erinnerungen vor ihr Gedächtniß. Sie näherte sich dem Tische, wo wir saßen, und fing an, uns mit sehr lebhaften Worten die Begebenheiten zu schildern, welche sie von der Stube aus, in der wir versammelt waren, selbst mit angesehen hatte. So erzählte sie unter Anderem, wie die grausamen Russen einem der Ihrigen 25 Peitschenhiebe aufgezählt hätten; dabei schilderte sie in ergreifenden Worten die großen Gestalten, die struppigen Bärte und die wilden Augen des russischen Kriegsvolkes und drückte weinend den Wunsch aus, solche Zeiten nicht mehr erleben zu müssen. Unsere Reise ging über Montbard, die Geburtsstätte des großen Naturforschers Buffon. Der Ort hat eine sehr reizende Lage. Dem Standbild Buffons, welches auf dem Schloßberge errichtet ist, habe ich einen Besuch abgestattet. Einen würdigeren Platz hätte man für dasselbe nicht wählen können; denn die Landschaft, welche man von seinem Fuße aus überschaut, findet sich nicht überall. Der Blick schweift südöstlich und nordwestlich durch das sehr blühende und durch Gewerbefleiß belebte Thal, in welchem die Brenne fließt. Die Stadt Montbard, welche dem Beschauer zu Füßen liegt, nimmt sich in der Mitte dieses Landschaftsbildes sehr gut aus. Fünfunddreißig Kilometer trennen Montbard von einem kleinen alten Städtchen, welches unversehrt mit seinen Ringmauern [103] und Thürmen aus dem Mittelalter herüber gekommen ist. Es ist Semur. Man kann es nicht Festung nennen, wenn auch seine Ringmauern und der tiefe und breite Laufgraben seine ehemalige Bedeutung genau zu erkennen geben. Ich kann hier, ohne Furcht widerlegt zu werden, aussagen, daß Frankreich sehr wenig neugebaute Städte in seinen nordöstlichen Provinzen besitzt. Der Grund hiervon liegt wohl darin, daß Frankreich von den verheerenden Kriegen, welche andere Länder in Schutt und Asche verwandelt haben, verschont geblieben ist. Die zwei, drei feindlichen Einfälle, von welchen die französischen Geschichtschreiber so viel Wesens machen, haben bei Weitem nicht die Bedeutung eines 30jährigen und 7jährigen Krieges, welche in Deutschland ihren Schauplatz hatten und über ein Jahrhundert lang ihre Spuren zurückließen. Das Städtchen Semur ist, wie gesagt, schadlos mit seinem ganzen mittelalterlichen Gepräge erhalten. Es bietet nichts besonders Interessantes in seinem Innern. Die elsässischen Soldaten des 11. Linienregiments haben es am Abend nach unserer Ankunft ein wenig aus seinem mittelalterlichen Schlaf aufgeweckt, indem sie, einige Hundert an der Zahl, Arm in Arm die alten Straßen auf- und abmarschirend, mit heller Stimme und im Chor elsässische und deutsche Lieder sangen. Die Einwohnerschaft, welche sich an die Fenster drängte, hatte wohl theils nie, theils seit 1815 keine solche volltönenden deutschen Chöre vernommen. [110]
Von Semur (s. Nr. 13!) aus bis nach Bourges habe ich nichts Wichtiges zu erwähnen, außer etwa, daß der menschenfreundliche, liebenswürdige und gesellige Charakter des französischen Volkes sich allerorts und bis in die ärmste Hütte treu geblieben ist. Es gibt allerdings auch Ausnahmen, die aber fast immer von einer besonderartigen Vorbildung herrühren. Eine solche Ausnahme machte ein alter Schreiner, bei welchem ich mit einem Kameraden im Städtchen Varçy einquartiert war. Der Alte hatte uns freundlich empfangen und uns den unvermeidlichen keltischen Kochkessel, der in seiner Werkstatt überm Feuer hing, zur Bereitung unseres Mittagsmahls überwiesen. Als er aber hörte, daß wir uns der deutschen Sprache bedienten, von welcher er einige Kenntniß zu haben schien, schämte er sich nicht, uns den Kochkessel wieder zurückziehen zu wollen, wovon er aber trotz seines Aergers abstehen mußte. Von da an sah ich den Alten, während er seine Schreinerarbeit fortsetzte, von Zeit zu Zeit über die Brille hinweg nach uns schielen und hörte ihn in seinem Zorne unverständliche Worte vor sich hin murmeln. Wir konnten darauf gefaßt sein, daß der Alte sich an uns rächen würde. Er hatte sich als pfiffiger Handwerksmann einen Plan ausgedacht; denn als wir am Abend zur Ruhe gehen wollten, wies er uns, noch immer über die Brille schielend, ein aus Hobelspänen bereitetes Lager an, das unmittelbar neben einem wohleingerichteten Bette hergestellt war, und sagte schelmisch: „Hättet Ihr in meinem Hause nur französisch gesprochen, so könntet Ihr jetzt in diesem schönen Bette da schlafen, weil Ihr mich aber mit Eurer verfluchten Preußensprache geärgert habt, so müßt Ihr jetzt mit dem Lager auf den Hobelspänen Vorlieb nehmen.“ Wir haben mit dem Lager denn auch Vorlieb genommen, und das Bett, welches daneben stand, unversehrt gelassen, um dem alten händelsüchtigen Schreiner weiteren Aerger zu ersparen.
Bei den letzten Etappen, welche den Soldaten von dem Bestimmungsorte trennen, wird er für die kleineren Orte, an welche er vorüberkommt, äußerst gleichgültig, und jeder Reisende wird endlich des Reisens müde. Bourges, unsere neue Garnisonsstadt, zu sehen, war mein lebhafter Wunsch. Ich hatte mir von dieser Stadt eine große Vorstellung gemacht, besonders weil ich wußte, daß dieselbe in einen der größten Waffenplätze Frankreichs verwandelt werden sollte. Die Stadt liegt ziemlich genau im Mittelpunkte des Landes und bietet daher einen großen Vortheil in Kriegszeiten. Sie stand aber damals noch ganz offen, und von der großen Waffenschmiede und Kanonengießerei, welche da geschaffen werden sollten, war kaum der Anfang gemacht. Die Stadt selbst erinnerte mich, was deren innere Anlage betrifft, genau wieder an Besançon: dieselben engen, unregelmäßigen und schmutzigen Gassen, dasselbe Handwerkervolk und dieselben zahllosen Weinkneipen, dabei noch ein bedeutender Trödelmarkt. Auch Bourges ist eine alte Stadt, in welcher das Münster als einzige Sehenswürdigkeit dasteht. Demselben hatte ich schon aus weiter Ferne, als ich es am Horizont erblickte, einen Besuch zugedacht. Es ist im gothischen Stile gebaut mit einem unvollendeten Thurme. Das Portal (der Haupteingang) nimmt sich großartig aus. Da aber auf die Unterhaltung des Baues bei Weitem nicht so große Summen verwendet werden, wie z. B. auf die Erhaltung des Straßburger Münsters, so befindet sich derselbe in einem sehr kläglichen Zustande. Das 11. Linienregiment wurde zum Theil in Bourges, zum Theil in Nevers, das 2 Tagesmärsche östlich liegt, einquartiert. Nach letzterer Stadt wurde auch das Bataillon, zu welchem meine Compagnie gehörte, verlegt, und nach einigen Tagen Aufenthalt in Bourges ging dasselbe dahin ab. Nevers war die erste Stadt, welche ich auf französischem Boden mit einem Ring von neuen Stadtvierteln umgeben fand und wo mehrere Straßen noch im Bau begriffen waren. [111] Der Ort hat übrigens am Ufer der Loire eine reizende Lage. Kaum waren wir daselbst untergebracht und hatten uns auf den Winter eingerichtet, als eines Abends der Befehl zum Aufbruch dem Bataillon bekannt gemacht wurde.
Es war damals die Zeit, in der einige Regimenter, welche die Regierung in Rom unterhielt, durch andere ersetzt werden sollten, und Offiziere wie Gemeine hatten schon große Hoffnung gehegt, nach der ewigen Stadt gesandt zu werden. Leider hat sich der schöne Wunsch nicht erfüllt. Anderen Regimentern aus dem südlichen Frankreich wurde die Rolle der Beschützung des heiligen Vaters übertragen und wir fuhren anstatt nach Rom auf der Eisenbahn nach Montbrison. Die 2 Bataillone, welche in Bourges geblieben waren, wurden zu derselben Zeit auf der Eisenbahn nach Lyon befördert. Von Montbrison habe ich wenig zu berichten. Land und Volk in seiner nächsten Umgebung machten auf mich einen traurigen Eindruck. Die Stadt liegt am Fuße einer wilden, von tiefen Schluchten durchzogenen Gebirgskette, welche das Forezthal mit seinen Steinkohlenlagern von dem unwirthlichen Auvergne trennt. Ich habe mich durch einige Ausflüge nach den Kämmen des Gebirges von der Großartigkeit und – Armuth dieser französischen Alpen überzeugt.
Bald nach unserer Ankunft in Montbrison wurden die neumodischen Waffen, die Chassepots, an uns vertheilt und die ersten Uebungen mit dem neuen Gewehre vorgenommen.
Zu den Verbesserungen im Militärwesen, welche vom Kriegsminister angeordnet wurden, gehörte auch der Unterricht der gemeinen Soldaten im Lesen und Schreiben. Schon während der 4 Monate, welche wir in Montbrison zubrachten, wurde der Regimentsschule ein neuer Antrieb gegeben. Das ganze Bataillon, mit Ausschluß der Unteroffiziere, mußte jeden Abend den Unterricht besuchen, welchen Unteroffiziere und Corporäle ertheilten. In meiner Eigenschaft als ehemaliger Hilfslehrer wurde ich zum ersten Lehrer ernannt und dadurch von jedem andern Dienste befreit. Bei der Eröffnung der Schule fand eine allgemeine Prüfung der Soldaten statt. Das Ergebniß blieb weit unter meiner Erwartung; denn zwei Fünftel der Geprüften konnten weder lesen noch schreiben. Unter letzteren fiel die größte Anzahl auf die Departements von Süd-Frankreich. [127]
4. Das Lagerleben.
Am 16. März 1868 bezog das 11. Linienregiment das Lager von Sathonay, sieben Kilometer nördlich von Lyon, auf einer Hochebene zwischen Saône und Rhône gelegen. Wir waren am 15. März von Montbrison abmarschirt und über St. Etienne, die große Fabrikstadt, gekommen. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Eindrücke, welche ich in letzterer Stadt empfangen habe. Soviel Ruß, Rauch, Kohlendunst, Fabrikarbeiter, Lärm, Reichthum und Elend hatte ich bis dahin noch nicht an Einem Punkte vereinigt gefunden. In der Hauptstraße der Stadt kann man die prächtigsten Gebäude bewundern, wogegen die übrigen Stadtviertel, welche von Arbeiterfamilien bewohnt werden, aus meist kleinen Häusern bestehen und die unvermeidlichen Caboulots in großer Anzahl enthalten. Um einen vollkommenen Ueberblick der Stadt zu gewinnen, stieg ich auf den sich in ihrer Mitte erhebenden Hügel, der von einer von Kapuzinern unterhaltenen Kapelle gekrönt ist. Ich muß gestehen, daß sich meine Mühe nicht gelohnt hat; denn von der Stadt sah ich nichts. Sie war in dem Rauchmeere, das bei stillem Wetter stets über ihr lagert, verschwunden, und nur hie und da ragte ein Schornstein aus den beweglichen Rauchmassen hervor.
Das Lager von Sathonay, welches vom Marschall Castellane errichtet worden war, bestand, als wir es bezogen, aus zwei Reihen Baracken, welche eine Division aufnehmen konnten. Das Leben daselbst ist von dem Kasernenleben nicht sehr unterschieden. Der Soldat liegt hart und wird mehr zum Manöver angehalten, genießt aber eine freie Bewegung, welche ihn das weiche Bett und die Ruhe der Kaserne leicht verschmerzen läßt. Die Grenzen des Lagers sind sehr ausgedehnt; denn Wald und Feld liegen in ihrem Bereiche. Rings um die Baracken hatten sich schon seit der Errichtung des Lagers Marketender und Kaufleute niedergelassen, und den Grund zu einem Städtchen gelegt. Vom Bürstenhändler bis zum Juwelier waren alle Zweige des Gewerbfleißes vertreten, die dem Bedürfniß des Soldaten entsprechen, oder seinem Luxus dienen. Neben dem wohleingerichteten Café-Restaurant befand sich die Wein- und Schnapskneipe, das schon oft genannte Caboulot. Belustigungen aller Art waren dem Soldaten geboten, und eine sehr billige Eisenbahn unterhielt eine rege Verbindung mit Lyon. So hart auch das Nachtlager war, wünschte sich doch der Soldat, welcher dieses Leben genossen, nicht wieder in die Kaserne zurück. Die Reihe des Wachtdienstes kam nur alle drei Wochen an den Mann, und auch Manöver fanden bei Regen und großer Hitze nicht statt; aber alle körperlichen Uebungen, wie tanzen, fechten, boxen, klettern, ringen und laufen, mußten täglich abgehalten werden. Auch ein kleines Theater war eingerichtet, und die Pariser vom Regimente machten dort ihre Kunststücke. Ferner unterhielt die Division zwei Photographen, welche die Bilder sehr billig herstellten. Auch ein Lese-Kabinet, in welchem die regierungsfreundlichen Blätter auflagen, und woselbst eine Bibliothek von geschichtlichen Werken und Romanliteratur sich befand, wurde auf Kosten der Division unterhalten. Wenn ich noch hinzufüge, daß täglich nach der Parade der Musikchor eine Stunde spielte und häufig Abends Ständchen brachte, so glaube ich ein ziemlich treues Bild von einem französischen Lagerleben entworfen zu haben; doch auch des Unangenehmen muß ich gedenken, nämlich der zahllosen Ratten, welche mit den Soldaten unter einem Dach wohnten, und die, sobald letztere schliefen, in Legionen auftraten und ihre nächtlichen geräuschvollen Märsche durch die Baracken begannen. [147]
5. Das Krankenzimmer.
Nach einer dreimonatlichen Anwesenheit im Lager wurde das Regiment in die Forts von Lyon versetzt und es hat dann im Laufe von drei Jahren abwechselnd das Lager von Sathonay und mehrere Forts bezogen. Mittlerweile wurde ich ganz unverhofft zum Sekretär des Medizin-Majors vorgeschlagen und vom Colonel (Oberst) bestätigt. Mit dieser Stelle war die Aufsicht über ein Krankenzimmer und die Verwaltung der Regiments-Apotheke verbunden. Zur Reinhaltung der Räumlichkeiten und zur Verabreichung der Heilmittel war mir ein Diener beigegeben. Die Kranken verweilten nur kurze Zeit im Krankenzimmer und wurden von da aus entweder ins Spital befördert oder geheilt in ihre Kompagnie zurückgeschickt. Die neue Stelle kam mir sehr gut zu Statten; denn darin fand ich Gelegenheit, das Soldatenleben von einer anderen Seite als bisher zu betrachten, nämlich von der Seite der Sitten.
Die Erzählungen der Soldaten aus ihren Jugendjahren in der Heimath, einmal angeregt, wollten kein Ende mehr nehmen. Da konnte ich also von Erlebnissen hören, welche für gewisse Sittenverhältnisse die sichersten Anhalte bieten. Ich will nicht zu deutlich werden, muß aber bekennen, daß die französische Jugend frühe, sehr frühe ein lebendiges Verständniß für gewisse Dinge besitzt, welches die Jugend in anderen Gegenden Europas oft erst dann gewinnt, wenn die Vernunft schon mäßigend eintritt. Unzählig sind die schamlosen Anekdötchen, welche von unreifen Knaben erzählt und verbreitet werden, und unzählig sind die schlüpfrigen Liedchen, welche solche Knaben im Munde führen. Jedoch auch andere ganz harmlose Liedchen wurden mit verschiedener Sangesart in Chören abgesungen. Von solchen will ich hier als Muster eines mittheilen. Es gehört zu den meist verbreiteten Volksliedern und hat das Hirtenleben zum Gegenstande:
I. | I. |
O monts des Pyrénées, | O Berge der Pyrenäen, |
Vous êtes mes amours, | Ihr seid meine Liebe, |
Campagnes fortunées, | Gesegnete Gefilde, |
Vous me plairez toujours! | Ihr werdet mich immer anziehen. |
Rien n’est si beau que ma patrie, | Nichts ist schöner als mein Vaterland, |
Rien n’est si beau que mon amie ! | Nichts ist schöner als meine Liebste! |
O montagnards (bis) | O Bergbewohner, |
Chantez en chœur (bis) | Singet im Chor |
De mon pays (bis) la paix et le bonheur. | Meiner Heimath Friede und Glück. |
Tra la la la la la, etc. | Tra la la la, u. s. w. |
II. | II. |
Quittez cette montagne, | „Verlasse dies Gebirge,“ |
Disait un étranger, | Sagte ein Fremder; |
Venez à la campagne. | „Komme mit in die Ebene, |
Ne soyez plus berger! | Sei kein Hirte mehr.“ |
Non, non, jamais cette folie, | Nein, nein, niemals (begehe ich) diese Thorheit. |
Je suis content de cette vie, | Ich bin zufrieden mit dieser Lebensweise |
Et sur ces monts (bis) | Und auf diesen Bergen |
Plus d’une fois (bis) | Mehr als einmal |
J’ai devancé (bis) la course du chamois. | Habe ich die Gemse in ihrem Sprunge überholt. |
Tra la la la la la, etc. | Tra la la la, u. s. w. |
III. | III. |
Cabanes isolées, | Vereinsamte Hütten, |
Abris de tous mes vœux, | Schutzorte aller Wünsche, |
Montagnes et vallées, | Berge und Thäler, |
Tout est silencieux. | Alles ist still! |
On n’entend plus dans la nuit sombre | Nur hört man noch in finstrer Nacht |
Que le torrent mugir dans l’ombre! | Des nahen Stromes Fluthen rauschen. |
O montagnards (bis) | O Bergbewohner, |
Chantez plus bas (bis), | Singt nicht so laut; |
Ma ’mie dort (bis), ne la réveillez pas! | Mein Liebchen schläft, erweckt sie nicht! |
Tra la la la la la, etc. | Tra la la la, u. s. w. |
Viele Soldaten wußten über anstößige Dinge gewürzte Geschichtchen zu erzählen. Eine Ausnahme hierin, wie auch in dem Sittenverfall machten die jungen Leute des Mittelstandes aus dem Elsasse, der Bretagne und der Bergdistrikten der Pyrenäen. Schade nur war′s, daß sich in den Regimentern stets alte, sittlich versunkene Militärs aus den eben genannten Gegenden vorfanden, welche die jungen unerfahrenen Soldaten mitschleppten und in ein jämmerliches Verderben stürzten. Ich wurde in meiner Stellung mit haarsträubenden Fällen von namenlosen Niederträchtigkeiten, die an jungen Elsässern und Bretagnern verübt worden sind, bekannt, und das Lamento des Medizin-Majors wird mir unvergeßlich bleiben. Die Folgen der Entsittlichung sind wie ein verheerendes Gift in das französische Blut gedrungen und haben Krankheiten erzeugt, die dem französischen Stolze wie ein dunkler Schatten folgen. Die Pariser aber, meist schon abgestumpft, trugen eine Sittlichkeit zur Schau, die mit ihrem gesättigten Wesen ganz übereinstimmte. Es würde mich zu weit führen, ins Einzelne einzugehen; es genügt mir, auf Zustände hingewiesen zu haben, deren Kenntniß zur richtigen Beurtheilung des Feldzuges nicht ohne Bedeutung sein wird. Lyon und das Lager von Sathonay boten übrigens dem Soldaten manche Gelegenheit, welche er in einer anderen Provinzialstadt nicht gehabt hätte, und das halb müßige Leben trug das Seinige dazu bei. [155]
6. Die Arbeitseinstellung.
Im Monat März 1870 wurde das 11. Linienregiment, welches mit zwei Bataillonen in Lyon vertreten war, nebst einem Theile des 46. plötzlich aus der behaglichen Winterruhe aufgestört. Im Creusot (Departement Saône-et-Loire), wo der damalige Präsident der gesetzgebenden Kammer, Schneider, große Eisenschmelzen besaß, war eine Arbeitseinstellung (Strike, englisch; sprich Streik) ausgebrochen, und das 11. und 46. Linienregiment wurden zu deren Unterdrückung dahin beordert. Die Truppen fuhren, mit der nöthigen Munition versehen, auf der Eisenbahn ab. Ich mußte auch mit einer Kiste Verbandzeug dahin folgen. Die Fahrt, am 22. März Abends begonnen, dauerte die ganze Nacht, und erst am andern Morgen um 6 Uhr langte der Zug im Creusot an. Schwarze Kohlenarbeiter-Wohnungen auf nahen Hügeln, zahlreiche Fabrikschornsteine, welche die breit angelegten Fabriken und Waarenschuppen überragen und schwarzen Rauch auswerfen, dazwischen ein Kirchthurm und hohe Brunnengerüste, ferner die nicht unbedeutende Arbeiterstadt, welche sich hinter den Fabriken erhebt: das ist das Gesammtbild, welches dem Auge des Ankommenden gleich am Bahnhofe auffällt. Wenn ich noch hinzufüge, daß die Leute, welche einem begegnen, ebenso schwarz sind als die Häuser, in denen sie wohnen, und daß in der nächsten Umgebung keine Gartenanlagen wie bei andern Städten, lein Wald, kein Grün den ersten unangenehmen Eindruck mildert, so wird das Bild auch seinen richtigen Rahmen erhalten.
Die Arbeitseinstellung war eigentlich in den Kohlengruben ausgebrochen, aus welchen die zahlreichen Oefen der Schmieden und Gießereien ihren Bedarf an Brennmaterial bezogen. Diese Schmieden, in welchen sowohl Kanonen, als auch Locomotiven und Industriewerkzeuge verfertigt werden, sind die bedeutendsten Frankreichs, daher mußte eine Arbeitseinstellung, welche sich daselbst eine Zeit lang behauptet hätte, bedeutende Störungen zur Folge haben. Da man befürchtete, daß sie auch unter den Fabrikarbeitern um sich greifen könnte, wurde schnell mit Militär eingeschritten.
Als wir abgestiegen waren, lag der Creusot noch in [156] tiefster Ruhe, und nur die mit Munition versehenen Truppen, welche in die Stadt einzogen, belebten die Straßen. Da kein öffentliches Gebäude vorhanden war, welches uns hätte aufnehmen können, wurden wir in den Holz- und Gerätheschuppen des Präsidenten Schneider untergebracht.
Die Ankunft der Truppen machte großes Aufsehen im Creusot. Man hatte eine so große Entfaltung militärischer Macht daselbst nicht erwartet; denn nur eine unbedeutende Anzahl Kohlenarbeiter hatte die Arbeit eingestellt und dazu eine drohende Miene gemacht. Eine Aufbesserung von 50 Centimes im Tag, um welche die Kohlenarbeiter bei ihrem Arbeitgeber nachgesucht hatten, war denselben abgeschlagen worden. Mehrere Kohlenarbeiter hatten indeß eines Morgens den strafbaren Versuch gemacht, auch die Fabrikarbeiter aufzustacheln, und als diese ihnen kein Gehör gaben, Gewalt gebraucht, um sie an der Arbeit zu verhindern.
Die erste Aufgabe der Truppen war daher, die aufrührerischen Kohlenarbeiter abzufassen und in Sicherheit zu bringen. Etwa 25 derselben wurden festgenommen und später von der Strafkammer zu Autun mit verschiedenen Strafen belegt. Als Haupträdelsführer und erster Anstifter der Arbeitseinstellung war ein gewisser Assy geächtet, und die Polizei sowie die Wachtposten hatten Befehl, demselben nachzuspüren.
Die Regimenter wurden in der ersten Zeit streng in den Waarenschuppen gehalten, und nur die Unteroffiziere konnten dieselben diensthalber verlassen. Durch meine Anstellung beim Regimentsarzte boten sich mir täglich Dienstgänge, welche ich so weit als möglich ausdehnte und in welche ich allmälig einen großen Theil der Umgegend aufnahm. Die Stadt bot wenig Interessantes. Der Steinkohlenhügel, auf welchem dieselbe erbaut ist, soll nach Aussage der Bewohner größtentheils unterhöhlt sein. In ihrer Mitte gibt’s mehrere Brunnen, in welchen die Eimer nie ruhen. Die Bevölkerung ist, wie gesagt, aus Arbeitern zusammengesetzt, worunter die einen jedoch schon etwas vorangekommen waren und einträgliche Stellen bekleideten, während die andern noch schwere Arbeit verrichtend, ihr Dasein mit Mühe fristeten. Unter letzteren will ich die Grubenarbeiter nennen. Während der Mann, der Familienvater, in einer der düsteren Gruben den Tag zubrachte, waren oft Frau und Kinder in einem der großen Steinkohlenlager beschäftigt, wo das schwarze Brennmaterial aufgeschichtet und verladen wurde. Ich habe viel mit dem Volke zu verkehren gesucht, was die zahlreichen Weinschenken sehr erleichterten. In einem Hinterstübchen einer achtbaren Familie, bei welcher ich Eingang gefunden hatte, bekam ich Gelegenheit, genannten Assy zu sehen. Er war als Blechwaarenhändler verkleidet und hielt sich in der Stadt auf, ging von Haus zu Haus, verkehrte mit seinen Freunden, und es war kein Mensch in der ganzen Stadt, der ihn verrathen mochte. Die ganze Bevölkerung war für ihn begeistert; denn ein gut angelegter Kopf, war er vom schlichten Fabrikarbeiter zum Geschäfts- und Rechnungsführer emporgestiegen und hatte stets an der Verbesserung der Lage des Arbeitervolkes warmen Antheil genommen. Das konnte ihm gewiß Niemand verargen; denn das Elend im Creusot wie in St. Etienne und vielen andern Fabrikstädten war groß. Die Arbeitseinstellung hörte schon mit der Verhaftung einiger Kohlenarbeiter auf, aber die Regimenter mußten noch immer Schildwache stehen; denn Assy, der Unsichtbare, war noch nicht abgefaßt. Eines Tages jedoch, gegen Ende April, lief derselbe der Polizei in die Hände und wurde nach einem Wachtposten des 11. Linienregiments abgeführt. Sofort war eine große Menschenmenge auf den Beinen, um Assy aus den Händen der Gewalt zu befreien. Der Auflauf war so stark, und die Drohungen wurden so herausfordernd, daß das bewaffnete Militär einschreiten mußte. Der Oberst des 46. Regiments erhielt einen Pflasterstein zugeworfen; gegen die Soldaten unternahm das Volk Nichts. Es war ein furchtbarer Menschenknäuel, der sich erst dann auflöste, als Assy durch eine Hinterthüre auf den Bahnhof geschleppt und mit der Eisenbahn eiligst wegbefördert worden war. Mit der Verhaftung Assy’s hatte die militärische Kundgebung ihren Abschluß erreicht, und schon kurz nachher kam der Befehl zum Aufbruch. – Noch in den letzten Tagen wurde der kaiserliche Erlaß vom Plebiscit, bei welchem auch die Armee ihre Meinung äußern sollte, der Truppe bekannt gemacht. Da gab’s wieder neuen Lärm; denn die aufgeklärtesten unter den Soldaten und auch Offiziere ließen deutlich merken, daß sie nicht mit der des Lesens und Schreibens unkundigen Menge stimmen würden. Besonders die Pariser, denen die Gründe des Plebiscits wohl bekannt waren, machten Miene, mit einem barschen non antworten zu wollen.
Ein Officier des 46. Linienregiments zog sich bei dieser Gelegenheit durch allzu offenes Auftreten 60 Tage Festungsarrest zu. [186]
7. Das Plebiscit.
Durch die allgemeine Volksabstimmung, welche am 8. Mai 1870 stattfinden sollte, gedachte Napoleon III. sich im eigenen Lande größere Macht zu verschaffen und besonders seiner Dynastie den dauernden Besitz des Thrones zu sichern. Schon am 14. April hatte der dienstfertige Senat seine Einwilligung dazu gegeben. In 46 Artikeln wurden die Anordnungen zusammengefaßt, [187] welche dem Kaiser und dessen Hause die Macht und Gewalt in die Hände zu liefern bestimmt waren, und über die das Volk nun befragt werden sollte. Man weiß schon, was die oui der Massen werth sind. Auch die Armee sollte ihre Stimme abgeben. Lange vor der Abstimmung war denn auch das ganze Verwaltungspersonal im Militär und im Civil mit der Betreibung der oui thätig.
Versprechungen, Warnungen und Drohungen jeglicher Art mußten dabei mithelfen. Das heißt man zu deutsch: wühlen.
Das 11. Linienregiment war zur Zeit des Plebiscits in den Kasernen zu Croix-Rousse untergebracht. Die Wahlurne befand sich in einem Saale der Kaserne St. Jean. Von Seiten der obersten Leitung des Regiments wurde kein Druck auf das politische Gewissen des Soldaten ausgeübt, und die meisten Offiziere zeigten sich höchst gleichgültig; nur alte Unteroffiziere, welche entweder auf Beförderung harrten oder auf eine Anstellung in der Verwaltung hofften, entfalteten eine ungemeine Thätigkeit. Was die Abstimmung selbst betrifft, verlief dieselbe in bester Ordnung. Der Oberst, ein gewissenhafter Mann, verweilte beinahe den ganzen Tag bei der Urne, prüfte äußerlich die abgegebenen Stimmzettel, und einige freundliche Worte an die betreffenden Wähler richtend, schob er die Zettel ungeöffnet in die Urne. So geschah es nicht bei allen Regimentern. Bei verschiedenen wurden den Soldaten in unverschämtester Weise die Zettel mit non bei der Urne zerrissen und solche mit oui aufgezwungen. Sich der Abstimmung zu enthalten, war nicht gestattet. Am Abend des Wahltags ergab sich, daß ungefähr 3/5 der vom Regiment niedergelegten Stimmen auf oui lauteten. Denselben war übrigens wenig Werth beizulegen; die 44.000 non der Armee und Marine hatten dagegen eine große Bedeutung. Sie stellten eine entschiedene Kundgebung dar, weil sie aus der Ueberlegung hervorgegangen waren.
Wenn ich mich so lange bei diesen Thatsachen aufhalte, so geschieht dies nur, weil ich später wieder an dieselben erinnern muß, um das Verständniß für die Niederlagen zu erleichtern.
Wenn das Plebiscit zunächst den Wünschen Napoleons entsprach, so mußte doch ein noch weit hervorragenderes Unternehmen seinen dynastischen Plänen die Krone aufsetzen. Es lag auf der Hand, und in vielen Kreisen wurde davon gesprochen, daß ein großer militärischer Erfolg, ein Sieg, ein Heldenzug zur Krönung des napoleonischen Ruhmes und zur Befestigung der Dynastie gehörte. Aber wo gleich eine Ursache zu einer Waffenthat hernehmen? Ganz Europa freute sich des tiefsten Friedens, und unter den europäischen Staaten wurden zu Wasser und zu Land nur immer neue Verbindungen geschlossen. Indeß verstummten die kriegerischen Gerüchte nicht, und die amtlichen Zeitungen schienen in der Verbreitung derselben zu wetteifern.
Schon an dem von deutschen Staaten und der Schweiz angestrebten Bau der St. Gotthardbahn wurde Anstoß genommen und Zeter Mordio geschrieen. Man muß dabei freilich bedenken, daß viele Franzosen aus Unkenntniß der ausländischen Zustände die Bestrebungen anderer Völker irrig auffassen und sich wegen Nichts aufregen. Napoleon hätte vielleicht trotz seines Hochmuths noch so viel Einsicht besessen, um daheim zu bleiben, wenn er nicht von seinen Ministern und von den Schreiern der Presse zum Heldenzug angefeuert worden wäre. Aber als sich gegen Mitte Juli, durch das bekannte politische Begebniß, das französische Kriegsgeschrei bis zur Raserei gesteigert hatte, war es ihm kaum mehr möglich, ohne Einbuße seines Ruhmes zurückzuweichen.
Als die Hohenzollern-Candidatur für den spanischen Thron so viel Lärm machte, und es mit der Kriegsfrage Ernst wurde, war das 11. Linienregiment im Lager von Sathonay. Ich hatte noch immer die Aufsicht über das Krankenzimmer, und bis dahin hatten die meisten Soldaten des Regiments sich ein oder das andere Mal vorübergehend zur Heilung von leichten Krankheiten darin aufgehalten. Neben den Sittenbildern und Lebensverhältnissen konnte ich auch die patriotischen Aeußerungen der Soldaten näher kennen lernen. Die Südfranzosen, besonders die Cascogner, hatten weniger Sinn für das große einheitliche Frankreich als die Franzosen der nördlichen Provinzen. Dann stimmten die Republikaner nicht mit den Bonapartisten überein, aber alle huldigten mehr oder weniger der Meinung, daß alle Nationen Europas nur den Untergang Frankreichs herbeiwünschten, und da sie in der letzten Zeit so viel von der „Prüsse“ gehört hatten, bildeten sie sich ein, daß diese Frankreich verschlingen wolle. Die ungemein prahlerische Ueberschätzung, in welcher der Soldat aufgewachsen war, erlaubte ihm aber, von einer bedeutenden Höhe auf einen Krieg mit der Prüsse herabzublicken. Als es aber mit dem Krieg Ernst wurde, suchte er sich doch über die Macht des Feindes zu erkundigen. Der Name Prüssien übte gar bald einen gewissen Schrecken auf ihn aus, den die Proclamation Napoleons an die Truppen später noch stärkte. Die Vaterlandsliebe, welche schon durch die Unbeliebtheit Napoleons gelähmt, dann durch die Ueberstürzung der Kriegserklärung zur Unbesonnenheit getrieben war, wurde endlich von der Rathlosigkeit der Heerführer vernichtet.
Im Allgemeinen erblickten die Soldaten in einem Kriege mit so mörderischen Instrumenten, wie die, welche in’s Spiel kommen sollten, nichts als einen für das Wohl des Vaterlandes nutzlosen Tod. Die Pariser des Regiments nannten dies: Se faire tuer pour Monsieur Plébiscite. (Sich für den Herrn Plebiscit umbringen lassen.)
Es gab allerdings auch Offiziere und Unteroffiziere, welche auf Beförderung hofften, und Soldaten, denen der Tod gleichgültig war; den sittlich Versunkenen mußte er ohnedies willkommen sein. Der Muth (denn er hat nicht durchweg gefehlt) ist gewissermaßen der [188] persönlichen Ehre des Soldaten zuzuschreiben. Für’s Vaterland zu sterben, ist doch beim Angreifer rein lächerlich. Wie anders muß sich die Vaterlandsliebe für den gestalten, welcher in Folge einer Herausforderung, eines Angriffs für das Vaterland kämpft.
Die Nachricht von Versetzung des Regimentes nach der Grenze wurde, als dieselbe am 8. Juli zur Verlesung kam, schon sehr kühl, ja ich kann sagen, wie mit Schrecken aufgenommen. Es war nicht der sonst beim Garnisonswechsel übliche Jubel; die Nachricht ging wie ein Schauder durch das Lager. In der ersten Stunde lief Alles wirr durcheinander, und man konnte wohl auf den Gesichtern lesen, daß es jetzt mit dem Kriege Ernst galt. Unser Abzug auf der Eisenbahn war auf den 16. Juli Abends 6 Uhr festgestellt, und der Bestimmungsort war Bitsch.
Die acht Tage, welche uns noch von diesem Ziele trennten, wurden mit dem Verpacken der entbehrlich gewordenen Sachen, mit der Empfangnahme der Geräthe und Kleidungsstücke, die das Feldleben erforderte, mit der Ausbesserung der Tornister und Fußbekleidung u. s. w, ausgefüllt. Nebenbei hatte der Soldat auch irgend einen Gegenstand nach der Heimath zu senden und Briefe zu schreiben. Den Tag über herrschte also die größte Rührigkeit, aber gegen Abend trat die Ruhe wieder ein. Dann bildeten sich Gruppen von Soldaten, welche über den bevorstehenden Krieg, der alle Köpfe beschäftigte, redeten. Die Landsmänner, das heißt die Soldaten aus ein und demselben Gaue, versammelten sich vorzugsweise, und die Bande der gemeinsamen Abkunft zogen sie enger zusammen. In dieser Weise bildeten auch die im Regimente anwesenden Elsässer Gruppen, aus deren Unterhaltung ich manche wichtige Worte entnahm, die mich über die herrschende Stimmung genau aufklärten. Ich erstaunte, eines Abends aus der Mitte einer dieser Gruppen, in welcher von den „Welschen“ (den Franzosen) die Rede war, Folgendes zu hören: „Wemmer awwer alli Elsässer thäte rumstehn (auf dem Schlachtfelde) un mit de Flintekolwa uff di Welsche ninwäsche, i wott sehn, wer Meister thät wäre.“ – Dieses Wort wurde von den Kameraden zwar nicht gebilligt, aber nichtsdestoweniger lieferte es mir den Beweis, daß im Tiefsten der Brust des elsässischen Stammes ein alter, uralter Kern verborgen liegt, den die große Frage der Abstammung am Ende wieder aufwecken könnte. Ich will jedoch bemerken, daß der Elsässer jedes Standes ganz für das französische Volk eingenommen war und dessen Geschicke von ganzem Herzen theilte. In den Weinkneipen der nächsten Umgebung war jeden Abend großer Lärm. Die Marseillaise verstummte nicht mehr. Viele sangen und jubelten, aber vielleicht einzig nur, um ihre Verstimmung zu verdecken. Von Republikanern und Pariser Kindern hörte man auch bereits die Losung: „S’il sort de Paris, il n’y rentrera pas!“ (Wenn er – Napoleon gemeint – aus Paris weggeht, kehrt er nicht wieder dahin zurück) Und die andere: „La guerre et la république“ (Krieg und Republik)! Der Abmarsch des Regiments zur Eisenbahn am 16. Juli Abends fand unter ziemlich gedrückter Stimmung statt. Ich sah es vorbeimarschiren und folgte bald darauf mit einem Wagen, der die Kisten mit dem Verbandzeug enthielt. Unterwegs stieg auch ein Offizier auf und fuhr mit. Die Unterhaltung lieferte natürlich der Krieg. Der Offizier, ein ehemaliger Schüler von St. Cyr, war mir aus der Zeit meiner Anstellung bei den Truppenkindern bekannt. Er hatte wenig Hoffnung auf einen günstigen Erfolg der französischen Waffen, und so bonapartistisch er auch war, äußerte er doch, daß die stürmische Kriegserklärung (dieselbe war zwar noch nicht erfolgt, aber wohl beschlossen und darum täglich erwartet) alle Offiziere verstimmt habe. Er baute große Hoffnungen auf die Langsamkeit der Prüssiens und die noch unbekannte Entschließung der Bayern. In Lyon angekommen, machte er mich auf die kalte Ruhe und Gleichgültigkeit aufmerksam, mit welcher viele Gruppen von Arbeitern die vorbeimarschirenden Regimenter ansahen, und theilte mir seine Besorgniß mit, daß eine Revolution ausbrechen und den Feldzug verderben könnte.
Um 6 Uhr pfiff die Locomotive vor dem Zuge, welcher das 11. Linienregiment aufgenommen hatte, und setzte ihn in Bewegung. [206]
8. An den Grenzen.
Wer die französischen Zeitungsberichte aus dem Kriegsjahr 1870–71 liest, erfährt, daß die französischen Armeen sich mit außerordentlichem Heldenmuth geschlagen und Siege über Siege errungen haben. Die Leichtgläubigkeit des Volkes hatte keine Grenzen, und Jedermann ereiferte sich, nicht nur die Thatsachen zu entstellen, sondern auch deren Wahrheit zu läugnen. Wenn es aber nicht mehr möglich war, die Niederlagen zu bestreiten, so fand der Soldat und mit ihm ein großer Theil der Civilbevölkerung eine andere Ausflucht. Man schrie: Wir sind verkauft! Wir sind verrathen! ohne zu bedenken, daß man mit so vielen beiderseitigen Opfern an Blut und Geld keinen Kauf unterzeichnet. Auch ein Verrath, der Niemanden nutzen konnte und Napoleon III. nicht einmal mehr auf den Thron verholfen hätte, entbehrt jedes Anhaltes. Wir sind verrathen! Wir sind verkauft! bedeuteten darum so viel als: Wir sind geschlagen, wollen’s aber nicht gestehen.
Die Fahrt von Lyon nach Bitsch wurde in 37 Stunden mit vielen Unterbrechungen vollführt. Kaum in Lyon in den Wagen eingestiegen, mußte ich schon bemerken, daß Soldaten Vorkehrungen trafen, um während des Feldzuges nicht allzusehr belastet zu sein: sie fingen nämlich an auszuräumen, das heißt, sie warfen Bürsten, Glanzwasser, Wichse und andere im Garnisonsleben unerläßliche Gegenstände zum Fenster hinaus; auch Schuhe, Hemden und andere Kleidungsstücke, die der Soldat in Aussicht eines raschen, gewissermaßen sicheren Todes glaubte entbehren zu können, flogen nach. Das war der Anfang. Das Wegwerfen wichtigerer [207] Gegenstände, welche zur Ausrüstung des Soldaten gehören, sollte nicht ausbleiben.
Am 17. Juli, um 9 Uhr Morgens, erreichten wir das Elsaß; denn unsere Fahrt ging über Straßburg. Die patriotischen Kundgebungen, welche der Soldat bei einer Kriegsfahrt laut werden läßt, brachen erst an den elsässischen Stationen mit Ungestüm los. Damit verband sich natürlich von Seiten der Elsässer, die angefahren kamen, der Gruß und gewissermaßen auch der durch die Vorahnung erpreßte Abschiedsruf an die Heimath. Der ungeheure Durst, welcher die Mannschaft verzehrte, wurde an den meisten Stationen etwas gelöscht: denn zu trinken wurde in freigebigster Weise viel, ja nur zu viel verabreicht. Um 7 Uhr Abends fuhren wir an Straßburg vorüber. Der Zug hielt an der Rotunde und das dumpfe Brausen aus der nahe gelegenen Stadt war deutlich vernehmbar. Wie uns, so beseelte auch die ganze Bevölkerung hinter den Wällen nur der eine schwerwiegende Gedanke: Krieg. Von Straßburg ab brauchten wir die ganze Nacht, um nach Bitsch zu gelangen, wo wir am andern Morgen, den 18. Juli, um 7 Uhr ausstiegen. Wir waren die ersten Truppen, welche an diesem Punkte erschienen, aber die Militärtransporte folgten von nun an ununterbrochen. Das 11. Linienregiment bivouakirte an der Weißenburger Straße. Der Soldat im Felde war gut aufgelegt; er ertrug die Unbequemlichkeiten des neuen Lebens mit großer Hingebung, und ein heiterer Humor durchwehte das Lager. Leider mußte der Hunger, welcher durch die Ungeschicklichkeit der Intendantur unter den vielen an die Grenzen geworfenen Truppen ausbrach, die günstige Vorbedeutung, welche man anfangs geschöpft hatte, wieder zerstören. Und auch unter dem Hungerleiden würde sich der französische Soldat im Allgemeinen gut verhalten haben, wenn die französische Kriegsführung nur einigermaßen Erfolg gehabt hätte. Das Murren über die Verwaltung, welche so schlecht für ihn gesorgt hatte, kann man ihm nicht verdenken. Die Hungersnoth hat ihm jedoch auf die Dauer den Muth genommen und ihn zu einer Zuchtlosigkeit verleitet, welche die übelsten Folgen haben mußte. [214]
Unser Marsch von Bitsch nach Saargemünd, welcher acht Tage nachher erfolgte, lieferte schon die deutlichsten Spuren der Zerrüttung. – Es wird unglaublich erscheinen, wenn ich sage, daß während dieses Marsches zahlreiche einzelne Soldaten von den verschiedensten Regimentern und Waffengattungen aus vorgeblicher Müdigkeit auf dem grünen Rasen längs der Heerstraße ungehindert herumlagerten und die Truppen an sich vorüber ziehen ließen. An diesem Tage habe ich auch zum erstenmal bemerkt, daß die Shako’s (Helme) dem Soldaten zu schwer wurden; denn die Dorfknaben der Gegenden, durch welche wir zogen, hatten solche am Rande der Straße aufgelesen, sich damit bedeckt und spielten: à la petite guerre (den kleinen Krieg). Ein weit ernsthafteres Vorzeichen bot sich mir, als ich, vom Arzte vorausgeschickt, in Neuenkirch bei Saargemünd anlangte. Es waren noch keine Truppen durchgezogen und dennoch die dortigen Cafés schon mit Offizieren aller Grade, die den heranmarschirenden Regimentern angehörten, überfüllt. Wenn man noch eine gewisse Anzahl von Soldaten hinzurechnet, welche ebenfalls [215] vorausgeeilt waren und sich in den Schenken herumtrieben, so wird man schon einigermaßen ein Bild von der eingerissenen Unordnung, welche unseren ersten Marsch auszeichnete, erhalten. In Neuenkirch hatten sich auch nach Aussage der Landsleute bereits preußische Plänkler am Vormittage desselben Tages gezeigt. Nachdem die in Saargemünd angelangten Truppenkörper einige Tage auf den Wiesen des Saarthales bivouakirt hatten, wurden denselben die westlich von der Stadt liegenden und weit über die Grenze Aussicht bietenden Hügelkämme angewiesen. Die spärliche, ungenügende Ernährung, oder kurz gesagt, der Hunger, folgte den Soldaten auch da hin. Die Hügelkämme, welche schräg an das Ufer der Saar hinabfallen, lagen leer und waren stellenweise als Schafweiden benutzt. Bald nach unserer Ankunft daselbst wurde die kaiserliche Proklamation oder der Aufruf an die Soldaten verlesen, und gedruckte Abzüge derselben vertheilt. Ich habe Niemanden sich über deren Inhalt begeistern sehen, nein, sie hat vielmehr den Soldaten durch den zitternden Stil, in welchem dieselbe abgefaßt war, verstimmt. In Wirthshäusern, wo Soldaten verkehrten, fand ich die angeschlagene Proklamation öfters zerrissen. Der hungernde Soldat wurde immer unzufriedener; indeß warf er sich auf die benachbarten Kartoffelfelder und grub die noch unreifen Knollen aus, um damit die Suppe zu bereiten. Die Besitzer dieser Felder würden gewiß ihre ganze Ernte eingebüßt haben, wenn sie sich nicht Tag und Nacht zu deren Schutz, mit Knittelstöcken bewaffnet, dabei aufgestellt hätten. Ich weiß nicht, in welchem Maße die Anzeigen bei den Oberbefehlshabern den Geschädigten genützt haben würden; denn aus dem Munde Mehrerer vernahm ich, daß ihre vorgebrachte Klage kein Gehör fand. Die Offiziere des Regiments lebten ebenfalls in Nahrungssorgen; sie ließen durch ihre Burschen die Zaunschnecken aus allen Gehegen der Umgegend sammeln und zum Essen zubereiten. Mittlerweile suchten sie durch die Ferngläser in dem zu unseren Füßen sich ausdehnenden preußischen Gebiete feindliche Vorposten zu erblicken, und wenn sie trotz aller Anstrengung keine entdeckten, gaben sie sehr befriedigt vor, daß sich der Feind aus Schrecken verberge.
Während der letzten Tage des Monats Juli wurde die Versetzung alter Offiziere in die Reserve und die Vollführung der Rangordnung bewerkstelligt. Dabei sollte auch ich meinen Posten beim Regimentsarzte einbüßen. Den Schritten des Arztes, welchem meine Kenntniß der deutschen Sprache bei dem baldigen Uebertritt in das deutsche Gebiet nützlich werden konnte, gelang es, mich ohne Rücksicht auf meine Beförderung zum Sergeanten in seinem Dienste zu behalten.
Am 2. August fand bekanntlich der Sturm auf Saarbrücken statt, wo ein preußisches Bataillon Infanterie und drei Escadronen Ulanen, wie man bald nachher erfuhr, in Garnison standen. Während an diesem Tage drei Divisionen gegen Saarbrücken vorgingen, war auch das ganze Corps de Failly, zu welchem das 11. Linienregiment, und zwar in der ersten Division, mitzählte, auf den Beinen und machte einen Einfall in die längs der Blies gelegenen preußischen und bayerischen menschenleeren Landstriche. Auch dieser Marsch wurde nicht ohne Unordnung vollführt und endigte mit der Erscheinung von aufgelösten Truppentheilen, welche sich ohne Führer in den Dörfern herumtrieben und endlich betrunken in’s Lager kamen. Noch an demselben Abend wurde ein Bericht über die Waffenthat von Saarbrücken bekannt gemacht, nach welchem 25.000 Preußen gefangen worden waren. Gar Mancher wollte es jedoch nicht glauben. Mit allem Ernst wurde auch von einem Offizier das Gerücht verbreitet, daß ein General Castagny, der früher unsere Division commandirt hatte und versetzt worden war, die Festung Luxemburg gestürmt und nicht weniger als 40.000 Preußen gefangen genommen habe. Von dem Bericht über das Gefecht von Saarbrücken, durch welchen sich der General Frossard verewigt hat, will ich gar nicht sprechen. Die ausgesprengten Siegesnachrichten sollten bald Lügen gestraft werden. Am 4. August Nachmittags 4 Uhr wurde der Generalmarsch geblasen, und wenn auch kurz nachher Alles bereit schien, so konnten doch erst um 8 Uhr Abends die so lange in Saargemünd und auf den Landstraßen herumlungernden Truppen den Marsch nach Bitsch antreten. Die Nacht brach herein, und während die Colonnen auf der geradlinigen Landstraße ruhig dahinschritten, mußte außer dem von den Offizieren gebotenen Schweigen und ruhigen Verhalten noch eine Himmelserscheinung, gewissermaßen wie eine Vorbedeutung, auf das empfängliche Gemüth vieler Soldaten eine entmuthigende Wirkung ausüben. Ein glänzendes Meteor zog in der Richtung von Norden nach Süden über der Landstraße her, auf welcher die Regimenter marschirten. Um Mitternacht wurde in der Nähe von Rohrbach Halt gemacht, und bei ungewöhnlicher Finsterniß mußten sich die Truppen ihr Nachtquartier auf dem Felde einrichten. Kaum war es ruhig geworden, als man dumpfe Kanonenschüsse aus der Ferne vernahm und zwar aus der Richtung von Weissenburg. Am anderen Tage ging unser Marsch vorerst bis an die Stelle, wo die Eisenbahn die Straße von Saargemünd nach Bitsch kreuzt. Dort hielten wir Rast. [221]
Während wir am 5. August Rast machten, kam plötzlich ein Eisenbahnzug mit großer Schnelligkeit dahergebraust. Ein Zollbeamter, welcher unter der offenen Thüre eines Wagens des vorüberfahrenden Zuges stand, schrie aus voller Kehle: Wissembourrique est prisse! (Wissembourg est prise! Weißenburg ist eingenommen!) Diese Nachricht wurde von den nicht elsässischen Soldaten mit Freude aufgenommen, und sogar mehrere Offiziere stimmten in den Jubel ein.[4] Die Elsässer belehrten sie jedoch bald über die Bedeutung dieses Sieges. Abends um 5 Uhr langten die Truppen bei Bitsch an, wo alle Regimenter ihre Nachtlager bezogen. Des andern Morgens um 3 Uhr wurde von Seiten des Regimentsobersten in Person ein Theil der Soldaten in ihren Zelten aufgeweckt und beauftragt, ihren Kameraden in den andern Zelten ebenfalls von einem geräuschlosen Aufbruche Mittheilung zu machen. Wir brachen also auf, standen aber um 5 Uhr noch auf demselben Platze, nämlich in der Nähe von Bitsch auf den Höhenkämmen, dem Dorfe Schorenbach gegenüber. Mittlerweile war ein Bauer aus der Gegend zu mir herangekommen, während ich mich auf der Landstraße über den verzögerten Aufbruch langweilte. „Guten Morgen,“ sagte er; „ich hör’, Sie sind ein Elsässer; nun, geht’s jetzt an den Preuß?“ „Freilich,“ sagte ich, „nur etwas sehr langsam.“ „Ja,“ erwiderte er, „gebt Acht! Der Preuß ist sehr stark, ja, ja, sehr stark; thut ihn aber nur recht knuppen.“ Dabei zeigte er mir mit der Faust, wie man ihn knuppen sollte. In diesem Augenblicke begann der Marsch, welcher uns wieder an die Weißenburger Straße auf der anderen Seite der Festung Bitsch führte. Kaum dort angelangt, vernahm man dumpfe Kanonenschüsse aus der Richtung von Wörth. Ob der [222] Befehlshaber unseres Armeecorps von der Bedeutung des sich bei Wörth entspinnenden Kampfes unterrichtet war, ist mir auch jetzt noch sehr fraglich. Der immer deutlicher und schärfer dröhnende Kanonendonner übte einen tiefen Eindruck auf die in Schlachtordnung aufgestellten Truppen aus. Es herrschte Anfangs großer Ernst und ungewöhnliche Ruhe unter den Truppen. Man gewöhnt sich aber an Alles. Einige Feldhasen, welche von den Plänklern aufgetrieben wurden und in großer Verwirrung unter den Truppen herumsprangen, ließen für einige Zeit den Kanonendonner vergessen.
Während des Hasentreibens beobachtete ich von dem Rasenhügel am Fuße des Festungswalles, wo ich mit meinen Gehilfen auf Anordnung des Arztes Platz genommen hatte, einen höheren Offizier, welcher, ganz in meiner Nähe auf einer Matratze ruhend, jedesmal, wenn von den Soldaten ein Feldhase gefangen wurde, von seinem Sitz aufsprang und mit dem Ausdruck der Freude Beifall klatschte. Da ich den Offizier nicht kannte, aber gerne seinen Namen erfahren hätte, fragte ich den Hilfsarzt, einen überaus liebenswürdigen Herrn, wer derselbe sei. „C’est le général de Failly“! (Es ist der General de Failly) erwiderte er. So verstrich der Tag, und der Kanonendonner dröhnte ohne Unterlaß. Inzwischen hörte ich auch die Aeußerungen mehrerer Offiziere. Alle behaupteten, die schwerer donnernden Geschütze seien die französischen, und das immer lauter und heftiger Werden derselben beweise den Sieg. Ein höherer Offizier sagte unter Anderem, er wünsche nur, daß von der preußischen Armee wenigstens Ein Soldat entkomme, um den anderen die Niederlage zu melden. Gegen 6 Uhr Abends wurde es in der Richtung von Wörth immer stiller. Da kam plötzlich ein Eisenbahnzug, mit acht Locomotiven bespannt, angefahren. Die Verwundeten, welche er enthielt, brachten die Nachricht von der schrecklichen Niederlage.
9. Der Rückzug.
Eine Viertelstunde war kaum verstrichen, seit die Nachricht von der Niederlage bei Wörth gemeldet worden war, als man auch schon das fünfte Armeecorps in eiligster Flucht auf der Landstraße nach Pfalzburg erblickte. Das 11. Linienregiment bildete den Vortrab. Die Soldaten waren angewiesen, um ja kein Geräusch zu verursachen, ihre Blechgefäße und Säbelscheiden fest zu schnallen und fest zu halten. Wir schlichen sozusagen davon, und die ganze Nacht hindurch wurde marschirt. Der anbrechende Tag empfing uns in den Engthälern, welche sich von dem Höhenkamm der lothringischen Hochebene bei Lützelstein heruntersenken. Dort stießen wir auf die ersten auf der Flucht begriffenen Ueberreste der Mac Mahon’schen Armee. Es waren die seltsamen Gestalten der Turko’s. Die Einen hatten den Kopf, den Arm oder die Hüfte verbunden, die Anderen waren unversehrt, aber alle von dem schrecklichen Ereigniß tief erschüttert. Ein Turko, einer von den kohlschwarzen, sagte in seinem schlechten Französisch: Perdu Prusse, perdu Afrique! (Preußen verloren, Afrika verloren) Er sah wohl alle seine Raubgelüste mit einem Schlag vereitelt. Im Allgemeinen lauteten die Berichte von der mörderischen Schlacht abschreckend. Viele Soldaten, die entkommen waren, nannten das keinen Krieg, sondern eine Metzelei, und alle versicherten, daß man es mit einem vorzüglich bewaffneten und sehr entschlossenen Feinde zu thun habe.
Ein junger Korporal, mit welchem ich den Berg nach der kleinen Festung Lützelstein erstieg, wo das fünfte Armeecorps die Deckung der im Rückzug begriffenen Abtheilungen der Mac Mahon’schen Armee übernehmen sollte, sagte schluchzend, als ich ihn über das Geschick der Schlacht von Wörth befragte: On disait toujours que les Prussiens n’ont pas de canons; ah! nom de Dieu, ils nous ont montré qu’ils en ont! (Man sagte immer, die Preußen hätten keine Kanonen; ja, bei Gott, sie haben uns gezeigt, daß sie solche besitzen!) Derselbe Korporal, welcher übrigens auf seinen Kleidern die deutlichen Spuren der Metzelei trug, versicherte, daß der Soldat bei den jetzt im Kriege zur Verwendung kommenden schweren Geschützen nur noch als Chair-à-canon (Kanonenfutter) an den Schlachten theilnehmen könne, und daß die Entscheidung des Sieges ganz allein von der Macht der Kriegsmaschinen abhängig sei. Die Linientruppen werden nur noch zum Angriff auf Batterien oder zur Vertheidigung der schweren Geschütze angeführt.
Die zersprengten Mac Mahon’schen Truppenreste waren weit entfernt, den noch unversehrt gebliebenen Divisionen des fünften Armeecorps Muth einzuflößen, und selbst die Offiziere sahen mit bedenklicher Miene in die Zukunft. Die Versorgung der Truppen mit Lebensmitteln, welche Anfangs so schlecht geregelt war, wurde jetzt bei dem eiligen Rückmarsch geradezu unmöglich, und der Soldat war auf die Erbeutung seiner Nahrung angewiesen, wenn ihm dieselbe nicht von der Civil-Bevölkerung überreicht werden konnte.
Am 7. August verweilten wir den ganzen Tag bei Lützelstein, und des anderen Tages begann der Marsch nach Saarburg, nachdem unser Armeecorps die Ueberreste des Mac Mahon’schen gesammelt hatte. Die Nachricht von der Schlacht bei Spicheren, welche auch schon eingetroffen war, verdoppelte jetzt die Besorgniß unserer Befehlshaber, und häufig wurde Halt gemacht, weil man fürchtete auf den siegreichen Feind zu stoßen. Bei Saarburg wurden wir sogar, weil man Kanonendonner vernahm, in Schlachtordnung gestellt, zogen aber am anderen Tage wieder weiter Luneville zu.
Wie bisher immer und besonders jetzt, da der Hunger sich stärker fühlen ließ, ging der Marsch in entsetzlicher Auflösung vorwärts. Hinter Saarburg, wo die Straße langsam aufsteigt, sah ich den General de Failly wieder. Er kam zu Pferd herangesprengt und war über die an den Straßenrainen herumliegenden Soldaten sehr aufgebracht. Er schrie, man solle die feigen Kerle erschießen und ließ auch einen, welcher nicht aufstehn wollte, von Unteroffizieren ergreifen. Derselbe wurde jedoch wieder begnadigt. Es war kein Halt mehr. Noch [223] traurigere Zeichen der Zerrüttung sollten bald darauf folgen. In der Nähe von Luneville überfiel uns ein Gewitter mit Platzregen, vor welchem die Soldaten unter Brücken, Bäumen und Gartenhäuschen Schutz suchten. Einige Kapitäne jedoch hatten Willenskraft genug, ihre Kompagnien zusammenzuhalten und den Marsch fortzusetzen. Das Lager wurde nachher auf dem Exercierplatze vor der Stadt aufgeschlagen. Gegen Abend kamen die Mac Mahon’schen Truppentheile, worunter eine Anzahl Turkos, die weder Gepäck noch Waffen trugen, und stürzten in’s Lager. Dieselben wurden brüderlich aufgenommen und in den Zelten beherbergt. Am anderen Morgen um 3 Uhr mußten die Turkos und die anderen versprengten Truppen ihren Rückzug fortsetzen. Was geschah? Die Turkos, welche sich schämten, ohne Waffen einherzugehen, nahmen sich nach echt arabischer Sitte Mann für Mann ein Gewehr von den unseren mit. Erst bei Tagesanbruch wurde man gewahr, was die schwarzen Gäste verübt hatten. Eine große Anzahl Flinten waren mit ihnen aus dem 11. Linienregiment verschwunden.
Den ganzen Vormittag regnete es in Einem fort, und da der Aufbruch sich wieder unendlich verzögerte, und die meisten Offiziere sich in der Stadt einquartiert hatten, so verließen die Truppen allmälig den Lagerplatz, zogen vereinzelt nach der Stadt und ließen sich in den Kneipen nieder. Alles wartete auf die Ankunft des Regiments, das nun thatsächlich aufgelöst war. Endlich gegen 10 Uhr Vormittags traf die Nachricht vom Herannahen preußischer Truppen ein, und Luneville mußte schleunigst geräumt werden. Generalmarsch wurde geblasen, Sappeurs setzten sich in Bewegung. Die Soldaten schlossen sich an, und der ganze Menschenknäuel, in welchem die verschiedensten Uniformen erschienen, wälzte sich durch die Straße, um zum Thor hinaus zu kommen. Noch hatten nicht alle Truppen die Stadt verlassen, als die preußische Vorwache von Eilboten zu Pferd, welche von den nächsten Dörfern herkamen, angemeldet wurde. Angetrunkene Soldaten und andere, die sich verspätet hatten, mußten jetzt von den Gendarmen aus den Wirthshäusern gerissen und zur Eisenbahn getrieben werden.
Unter solchen Verhältnissen wäre ein Widerstand unmöglich gewesen. Die Regimenter ordneten sich zwar wieder, als sie in’s Freie kamen, aber der Muth war sichtlich gelähmt, und die Straßenraine hinterließen überall Spuren von unserem Durchmarsch. Der Soldat suchte sich schließlich von Allem zu entledigen. Da ich stets hinter dem Regiment den Arzt begleitete und einen Wagen zur Aufnahme der Marschunfähigen bei mir hatte, las ich täglich mehrere Tornister, Flinten, Säbel, Blechkannen und andere Geräthschaften, welche weggeworfen worden waren, auf und führte sie mit. Nebenher herrschte der Flintenraub unter den Truppen. Diejenigen, denen die Turkos die Flinten entwendet hatten, suchten sich wieder mit denen anderer Bataillone und Regimenter zu entschädigen. So bestahl Einer den Anderen. Doch muß ich erwähnen, daß bei aller Niedergeschlagenheit der französische Humor sich gleichwohl breit machte. Die Soldaten sangen bei allem Elend, und auch die Offiziere traten unter sie und sangen mit.
Zum Transport der Kisten voll Verbandzeug waren schon in Bitsch zwei Pferde, elende Klepper, angekauft worden, welche hinter dem Regimente herschritten. Auch der Hilfsarzt hatte zu seinem Dienste ein solches Pferd, noch elender als die anderen, erhalten, das uns durch seine ungeheuren Schritte und ruckweise Bewegung viel ergötzte. Der Medicin-Major selber ritt einen Schimmel, welchen er, um aufsteigen zu können, jedesmal in den Straßengraben stellte. Unterwegs hörte ich den Arzt häufig für sich selber sprechen:„Oui, oui, nous allons être une nation de troisième classe“ (Ja, ja, wir werden eine Nation dritter Classe sein). So ging’s bis nach St. Dizier, wo wir 3 Tage lang ausruhten. Es war in der Zeit vom 16. bis 19. August. Dort erfuhren wir von den Kämpfen, welche um Metz stattgefunden hatten, aber auch da waren die Gerüchte vom Herannahen preußischer Truppen schon sehr verbreitet, und als wir abmarschirten, wurden die Brücken hinter uns gesprengt.
In Vitry-le-Français war man mit der Ausbesserung der Wälle beschäftigt. In Châlons-sur-Marne stießen gegen 125 Soldaten, welche in Luneville das Regiment verlassen hatten und über Nanzig nach Châlons gekommen waren, wieder zu uns. Eine Weile hatte sich das Gerücht verbreitet, daß wir uns nach Paris zurückziehen würden, und die Pariser des Regiments jubelten schon. Am 23. August aber, als wir auf der Straße nach Rheims marschirten, kamen neue Befehle; es wurde Halt gemacht und bald nachher rechts abgeschwenkt über die Kleefelder nach Rethel. Es würde mich zu weit führen, wenn ich noch alle Einzelheiten der folgenden Märsche beschreiben wollte. In Rethel stießen wir zu der neu gebildeten Mac Mahon’schen Armee, welche von Rheims herkam. Ich habe die Regimenter durchmarschiren sehen und an den Wachstuch-Tornistern die neu eingetretenen Soldaten erkannt (die alten hatten mit Fell überzogene Tornister). Zuletzt kam Napoleon und hinter ihm seine Gepäckwagen. Als er vorüber fuhr, hörte ich mehrere Soldaten „Vive l’empereur!“ (Es lebe der Kaiser!) rufen. Andere aber schwiegen still, und wieder Andere riefen verschiedene Schimpfwörter. Es herrschte keine Begeisterung. Langsam und unter furchtsamem Herumspüren kamen wir über Le Chêne populeux nach Busanzy, wo uns die Preußen das am Vorabend bestellte Brod weggeschnappt hatten. Von der Hochstraße aus, welche von letzterem Orte nach Nouard führt, bemerkten wir auf den uns gegenüber liegenden Höhen mehrere preußische Ulanen, welche unsere Bewegungen beobachteten. Auch feindliche Infanterie kam in den weiter gelegenen Feldern zum Vorschein. Eine Vorwache von Chasseurs d’Afrique wurde auf der anderen Seite des Dorfes mit feindlicher Kavallerie handgemein; es fielen einige Schüsse, und die Chasseurs d’Afrique, deren mehrere schwere Wunden davon trugen, ergriffen die Flucht. Sie stürzten in wildem Galopp [224] durch unsere Reihen, und der Dorfpfarrer zu Pferd entfloh mit ihnen, rufend: Courage, mes enfants! courage! (Muth, meine Kinder, Muth!) Jedermann verstand, daß wir nun einem größeren Zusammenstoß entgegengingen. Am 28. Abends bezogen wir die Thalpässe in der Gegend von Nouard, und die strengsten Befehle wurden gegeben, um die Truppen zusammen zu halten, weil wir in nächster Nähe des Feindes standen. Ein ebenso schlimmer Feind als die preußische Armee war mitten unter uns. Dies war der Hunger mit allen seinen Folgen. Am 29. gegen Mittag sollte der Marsch nach Stenay fortgesetzt werden. Die erste Division war schon weit im Walde vorgerückt, welcher uns von letzterer Stadt trennte, als plötzlich naher Kanonendonner uns Halt gebot. Eine Division des Armeecorps, welche bei Bois-les-dames sich nach demselben Ziele bewegte, war von preußischen Regimentern überrascht worden, und ein ziemlich blutiger Kampf hatte sich entsponnen. Manche Flüchtlinge suchten sich bei diesem Gefechte durch den Wald zu retten, aber zu ihrer großen Ueberraschung fielen sie in die Hände des 11. Linienregiments. Mehrere mit sehr leichten Wunden wollten sich verbinden lassen, andere sogar, die sich auch für verwundet ausgaben, wurden bei der Untersuchung ganz unversehrt befunden. Die Entrüstung der Soldaten und Unteroffiziere über eine so offenbare Feigheit war groß, und die Flüchtlinge wurden auf der Stelle durchgeprügelt. [229]
Bald traten wir den Rückweg an, um schleunigst den Kampfplatz zu erreichen. Als wir den Hügel erstiegen hatten, von wo aus unser Eingriff nützlich gewesen wäre, war schon Alles wieder ruhig, und von beiden Seiten wurden die Verwundeten weggeschafft. Vom Hügel aus, welchen wir Abends besetzt hatten, konnte man in der Tragweite eines Feldgeschützes die preußischen Truppen in gedrängten Abtheilungen sich bewegen sehen. Bei anbrechender Nacht bezogen wir zum Schein Bivouaks. Befehle wurden ertheilt, große Feuer anzuzünden und sich zum Abmarsch bereit zu halten.
Die Befehlshaber der Armee, die Offiziere, mußten von der bedenklichen Lage, in welcher wir uns befanden, in Kenntniß gesetzt worden sein; denn ihre Bemühungen, den Abzug so geräuschlos als möglich auszuführen, waren außerordentlich groß. So schlichen wir bei einbrechender Nacht hinweg und zogen auf langen Waldwegen nach Beaumont. Unser Marsch dauerte die ganze Nacht, von Hunderten von Gepäckwagen, welche die Straße einnahmen, im Vorrücken gehindert. Während unseres Marsches im Walde – es mag um Mitternacht gewesen sein – wurde die Nachhut des Armeecorps von einem großen Schrecken überfallen, weil unweit von ihr im Dickicht ein ungewöhnlicher Lärm von Pferdegetrappel und rauhen menschlichen Stimmen erscholl. In wilder Flucht stürzten die letzten Abtheilungen voran und brachten die Unordnung in den ganzen Marsch, und bei der Tiefe der Nacht war es rein unmöglich, weder die Flüchtlinge zu erkennen, noch die aufgelösten Truppentheile wieder zu ordnen. Der unheimliche Marsch führte uns gegen 2 Uhr Morgens nach dem Kesselthale, in dessen Mitte Beaumont liegt. Ueber das Herannahen des Feindes war kein Zweifel mehr. Der Regimentsoberst hatte schon im Walde zu mehreren Offizieren gesagt: „Nous nous trouvons dans une position très-critique; les Prussiens nous entourent; je ne sais pas comment cela va finir!“ (Wir befinden uns in einer sehr bedenklichen Lage; die Preußen umgeben uns; ich weiß nicht, wie das ausgehen wird!)
10. Der Ueberfall bei Beaumont.
Die französische Sorglosigkeit hat bei Beaumont sich selbst übertroffen. Den ganzen Vormittag des 30. August, an welchem das fünfte Armeecorps das Kesselthal von Beaumont besetzt hielt, war das Städtchen von Soldaten überschwemmt, welche sich entweder in den Kneipen herumtrieben oder auf den Einkauf von Lebensmitteln ausgingen. Die meisten Offiziere waren im Café oder standen auf dem öffentlichen Platze umher und plauderten. Man lebte wie im tiefsten Frieden und um elf Uhr, als die Kompagnieen beim Appell standen und theilweise dem Offizier de semaine (der Woche) die auseinander genommenen Gewehre zur Musterung vorgelegt hatten, erschienen in der Entfernung von zweihundert Meter unbekannte Plänkler. Der Oberst, welcher noch zu Tische saß, fragte einen Major, wer die Plänkler seien. Eine Minute später fiel der erste Kanonenschuß, der aus weiter Ferne kam. Jetzt begann das Gewehrfeuer der vorerwähnten Plänkler, welche sich als echte Preußen entpuppten; jetzt stürzten Abtheilungen der französischen Truppen ihnen entgegen und erwiderten dasselbe, so gut es ging. Der Oberst des 11. Linienregiments erhielt gleich in den ersten Minuten drei Kugeln durch die Brust und sank vom Pferde. Plötzlich zogen sich die Plänkler zurück, und dichte schwarze feindliche Colonnen, welche das ganze Feld einnahmen, tauchten auf und wälzten sich, einen heftigen Kugelregen absendend, [230] heran. Jeder Widerstand war vergeblich. Zwanzig Minuten nachher gab unser linker Flügel nach, und der Rückzug begann. Zahlreiche Verwundete stürzten in wilder Hast nach den Häusern der Vorstadt, wo zu deren erster Verpflegung der Regimentsarzt mit seinen Dienern ein Obdach gefunden hatte. Von der Verbandstube aus, welche ich gleich nach Beginn des Treffens zur Erfüllung meiner für die unglücklichen Opfer des Krieges wohlthätigen Aufgabe mit dem Arzte bezogen hatte, sah ich den Rückzug unserer Truppen und das stürmische Heranbrausen der feindlichen Colonnen, welche mit ungeheurem Lärm von Hurrahrufen und Kommandoworten die Luft erfüllten und damit das Knallen der Gewehrsalven übertönten. Der letzte Widerstand – von den in den Straßengräben kauernden Soldaten – wurde jetzt gebrochen. Von letzteren hat sich, wie ich bezeugen kann, kein einziger übergeben, und ihre zahlreichen Leichen bewiesen die Hartnäckigkeit, mit welcher sie die Straße vertheidigten. Im Nu war Beaumont umzingelt, und Alle, welche entweder ihre Munition verschossen oder durch die unentschuldbare Gewehrinspektion, bei welcher die Regimenter sich überraschen ließen, entwaffnet waren, mußten sich ergeben. Der Widerstand einzelner entschlossener Köpfe war von sehr geringem Nutzen. Unter meinem Fenster habe ich den General de Failly noch einmal gesehen. Er hatte sich zu Pferd zwischen die beiden Häuserreihen der Vorstadt postirt, sah eine Weile nach dem auf einen Kilometer Entfernung sich abspinnenden Gefechte, machte Kehrt, gab seinem Pferde die Sporen und jagte davon. Ein unentwirrbarer Knäuel von Gepäckwagen, Pferden, Mauleseln und flüchtiger Reiterei wälzte sich kurz nachher gegen die Stadt, versperrte dem Fußvolke den Weg zu einem geordneten Rückzug, so daß, als die Lage unhaltbar geworden war, die Infanterie sich über die Gartenmauern außerhalb der Stadt retten mußte. Der siegreiche Feind zog bald in bester Ordnung unter beständigem Gewehrfeuer in die Stadt ein.
Die Rathlosigkeit der französischen Befehlshaber, die Sorglosigkeit der Soldaten, der entmuthigende Hunger, überhaupt die planlose Führung rächten die muthwillige Herausforderung, welche Napoleon erlassen hatte, um sich und seiner Dynastie den Thron Frankreichs zu sichern. Beaumont war der Anfang von Sedan, wo mit der Uebergabe des Heeres und der napoleonischen Adler Napoleons Hochmuth ein Ziel gesetzt wurde. [243]
11. Die Gefangenschaft.
Bei dem Ueberfall von Beaumont machten die feindlichen Truppen im Innern der Stadt, welche sie durch rasche Bewegungen umzingelten, gegen 2000 Gefangene, unter welchen eine beträchtliche Anzahl Offiziere. Von Letzteren hatten mehrere das Schlachtfeld nicht gesehen. In den Straßen von Beaumont selbst waren zwar noch einige Gewehrsalven gewechselt worden, aber [244] der Widerstand legte sich schnell, sobald die Vertheidiger den Weg zur Flucht hinter sich abgeschnitten sahen. Es kam daselbst nicht zu den hartnäckigen und verderblichen Kämpfen, welche sich bald nachher in Mouzon und Bazeilles entfalteten.
Die Art und Weise, mit welcher die Sieger mit den Gefangenen umgingen, war durchaus menschlich. Ich hörte viele Meinungsäußerungen von Soldaten und Offizieren, und alle stimmten darin überein, daß sie von Seiten des Siegers die Rücksichten nicht erwartet hätten, welche ihnen zu Theil wurden.
Ich will jetzt, um den Zustand der Gefangenen gleich nach dem Treffen eingehender zu schildern, zu der Erzählung meiner eigenen Erlebnisse zurückkehren.
Während des mörderischen Ringens am Eingange der Stadt fiel eine Mitrailleusensalve in die Stube, in welcher der Medizin-Major zahlreiche Verwundete verpflegte. Die Kugeln, welche sämmtliche Fensterscheiben aushoben, hatten zu unserem größten Erstaunen Niemand verwundet, aber der Arzt wurde von einem so starken Zittern erfaßt, daß er den Verband, welchen er einem schwer Verwundeten anzulegen im Begriffe stand, nicht mehr beendigen konnte. Er zog sich auch alsbald zurück. Kurz nachher erschien ein sächsischer Unteroffizier in der mit Blut besprengten Stube und gebot das Gewehr abzulegen. Unter uns war jedoch Niemand bewaffnet und zu unserer Sicherstellung waren wir nicht einmal mit dem Abzeichen der Krankenwärter versehen.
Der Unteroffizier, ein Mann von guter Bildung, sprach einige Worte mit uns über die Schrecken des Krieges, über das traurige Schicksal, daß Menschen, die einander nie gekannt haben, sich gegenseitig hinmorden müssen. Nachdem er uns gezählt und vor der Flucht gewarnt hatte, ging er fort, um das ganze Haus zu durchstöbern. Vor den Fenstern marschirten indessen die wohlgeordneten sächsischen Bataillone vorüber, und das kreischende Kommando der dieselben befehligenden Offiziere, das uns neu war, nahm unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die vorbeimarschirenden Soldaten waren sehr erhitzt vom Marsche, und mehrere derselben fragten nach Wasser. Einer von uns reichte ihnen zu trinken, aber ein kommandirender Offizier zu Pferd sprengte dazwischen und schrie seinen Leuten zu: „Schwenkt Eure Nasen rechts herum!“ und dann zu uns: „Französische Soldaten, reicht ihnen nicht zu trinken.“ Mittlerweile war ein sächsischer Arzt, von Gehilfen begleitet, bei uns eingetreten und hatte die Verwundeten untersucht. Die, welche den Tag nicht schienen überleben zu können, bezeichnete er seinen Gehilfen, für die anderen traf er Verordnungen. Die Nichtverwundeten mußten die Stube räumen und sich einstweilen unter Bewachung vor dem Hause aufstellen. Nachdem das sächsische Fußvolk vorbei war, kamen in langen Reihen die je mit sechs Pferden bespannten, spiegelglatten Hinterlader. Die ganze Bewegung ging im Trab und in schönster Ordnung vor sich. Endlich kam noch der ganze Troß des Kronprinzen Albert von Sachsen, der von den Truppen mit stürmischen „Hoch“ begrüßt wurde.
Während dieser Zeit hatte der Unteroffizier den Medizin-Major im Keller, wohin er sich zurückgezogen, gefangen genommen und brachte ihn mit unbeschreiblichem Jubel vor einen in der Nähe weilenden Reserve-Major. Der Glückliche glaubte wohl einen General oder gar den Kaiser Napoleon selber gefangen zu haben. Als er aber erfuhr, daß es ein Arzt sei, zog er sich beschämt zurück. Kurz nachher wurden sämmtliche Gefangene nach einem in der Nähe gelegenen Steinbruche abgeführt. Der Medizin-Major, welcher mit dahin folgen mußte, zitterte noch immer und fürchtete, daß wir alle daselbst erschossen werden sollten. Ein so unbegründeter Schrecken war von den französischen Zeitungen verbreitet worden. Der Steinbruch, nur auf einer Seite zugänglich, sollte bloß unser Gefängniß sein. In diesem Steinbruche war der Oberst des 11. Linienregiments, Colonel dü Behagle, welcher von zwei Kugeln getroffen sich dahin zurückgezogen hatte, von einer dritten durchbohrt vom Pferde gesunken. In und um diesen Steinbruch hatte auch ein hartnäckiger Kampf stattgefunden, der viele Todte zurückließ. Zum Zwecke des Gefangenenbivouaks war aber der Steinbruch rasch gesäubert worden. Um 4 Uhr Abends kam der Troß des Königs von Preußen. Der König, in Begleitung von Bismarck und Moltke, umgeben von mehreren Adjudanten, besichtigte die Gefangenen. Wir hatten alle antreten müssen. Der König besah uns eine Weile, Bismarck sprach einige Worte mit den zu unserer Bewachung zurückgebliebenen Soldaten; dann ging der Troß weiter. Abends um sieben Uhr wurden endlich alle Gefangenen nach der Stadt abgeführt und auf dem Platze in der Nähe der Kirche versammelt. Speisen wurden verabreicht und unsere Anzahl festgestellt, während man vor unseren Augen die auf dem Schlachtfelde erbeuteten Waffen längs der Kirche aufhäufte. Die deutschen Offiziere unterhielten sich mit den französischen; diese waren voll Erstaunen über die Bedeutung des gewaltigen Schlags und voll Bewunderung über die unvermuthete, geschickte Heerführung des Siegers; jene in der Siegesfreude benahmen sich auffallend gefällig.
Bei einbrechender Dunkelheit wurden alle Gefangenen mit Ausnahme der Offiziere wieder im Steinbruch untergebracht. Auch der Stadtpfarrer, welcher wegen eines Schusses auf deutsche Truppen verdächtigt war, befand sich unter uns. Es hieß, er sollte am andern Tage standrechtlich erschossen werden. Während eines Theiles der Nacht sah ich ihn auf einer erhabenen Felsenplatte vor einer brennenden Wachskerze knien und lebhafte Geberden machen. Wie ich nachher erfahren, wurde er wieder freigelassen. Die erste Nacht im Bivouak ließ uns nach all den erschütternden Ereignissen des Tages keine Ruhe genießen, und die sonderbare Erscheinung des in der Todesangst schwebenden Pfarrers, die Nähe des Schlachtfeldes, auf welchem immerfort Leute mit Laternchen umhergingen, den zahlreichen Verwundeten Hilfe zu bringen, der sichelförmige Mond am wolkenlosen Himmel, die großen Schatten, welche wir beim Bivouakfeuer stehend selbst warfen, Alles vereinigte [245] sich, um dem Nachtbilde eine düstere und ergreifende Farbe zu verleihen.
Am Tage darauf wurde unser Trupp durch weitere beigebrachte Gefangene vermehrt, aus deren Erzählungen der unordentliche Rückzug der ganzen Armee deutlich hervorging.
Der Franzose tröstet sich jedoch leicht; über die Kampferlebnisse Einzelner wurde viel gelacht, und die Pariser, welche zahlreich unter uns vertreten waren, verläugneten keineswegs ihren geistvollen Humor.
Das Feldlager, welches das Corps de Failly vor dem Treffen eingenommen hatte, lag dem Steinbruche gerade gegenüber. Den ganzen Tag sahen wir deutsche Soldaten mit dem Auflesen der verschiedenen Kleidungsstücke und Feldgeräthe, welche zurückgelassen worden waren, beschäftigt. Man fing auch an die Todten zu begraben, aber noch am 1. September, als wir den Steinbruch in der Frühe verließen und den Weg nach Deutschland antraten, sahen wir viele Leichen auf dem Felde zerstreut.
Wie vorauszusehen war, wurden wir auf unserem Marsche von Landwehrmännern begleitet, die um unsern Trupp einen Zaun bildeten. Es waren Westfalen. Die schwerbelasteten Männer, welche große Bärte trugen und weite Schritte nahmen, stachen sehr ab von den leichtfüßigen Gefangenen, die jeder Bürde ledig und einer guten Behandlung gewärtig, sich dem Humor überließen, dies sogar, als aus der Ferne dumpfer Kanonendonner wieder ernste Dinge verkündete.
In Stenay bereiteten uns die Bauern einen nicht sehr freundlichen Empfang. Wenig fehlte, und wir wären handgemein mit ihnen geworden. Die Landwehrmänner schritten ein. Die Bauern warfen mit Steinen. „Allez donc voter maintenant pour Monsieur Plébiscite!“ (Geht doch jetzt für Herrn Plebiscit stimmen!) riefen ihnen mehrere Stimmen aus unserem Trupp entgegen. So ging’s weiter.
Unser Nachtquartier bekamen wir anfangs im Freien, später aber in den Kirchen. In Etain erfuhren wir die Gefangennahme Napoleons, Mac Mahons und der ganzen Armee. Manche wollten es nicht glauben, aber in dem Zustande, in welchem das französische Heer sich befand, war Alles möglich. In Remilly durften wir endlich in die Eisenbahn steigen, um einen Tag später in Köln a. Rh. anzukommen. In der sehr geräumigen Speisehalle, welche am Kölner Bahnhof, zwar nicht für uns, errichtet war, bekamen wir am 8. September das Abendessen. Sodann wurden wir nach Deutz abgeführt und für einige Tage in einem Futtermagazin untergebracht. Das Futtermagazin sollte uns nur vorübergehend beherbergen; wir waren darin nicht streng gehalten; denn die neugierigen Kölner, jung und alt, drangen herein, um ihre Augen an den unschädlichen Franzosen, an den vor Kurzem noch gefürchteten Rothhosen zu weiden. Gymnasiasten schmachteten nach der Gelegenheit sich mit ihrem Französisch hervorthun zu können. Knaben und Mädchen besorgten mit Freuden unsere kleinen Aufträge für Spezerei- und Tabaksläden; dafür bekamen sie Achselklappen und Rockknöpfe als Siegesandenken. So entfaltete sich ein reger Tauschverkehr zwischen uns und der jungen Bevölkerung. Einstweilen wurde unweit von Köln, auf der Wahnerhaide, ein Zeltlager errichtet, das wir schon nach einigen Tagen bezogen. Wir fuhren mit der Eisenbahn dahin ab. Das Lager bestand aus 25 Zeltreihen, deren jede, aus 20 Zelten bestehend, 300 Mann aufnehmen konnte.
Vier Landwehrunteroffiziere standen einer Compagnie vor, und über vier Compagnien erstreckte sich die Aufsicht eines Landwehrlieutenants. Außerdem war das Lager von Truppen bewacht.
Die Gefangenen einigermaßen in Ordnung zu bringen und dieselben je nach den Waffengattungen zu vertheilen, war keine kleine Arbeit für die Unteroffiziere, welche die französische Sprache nur wenig oder gar nicht verstanden. Unsere Waffengattungen waren ihnen ziemlich neu, und außerdem gaben die Uniformen zu vielen Mißverständnissen Anlaß.
Die französische Kriegserklärung, welche auf Grund des bekannten Ausspruchs des Kriegsministers Marschall Le Boeuf: „Nous sommes archiprêts“ (wir sind erzbereit) in fieberhafter Schnelligkeit erfolgt war, hatte die französischen Regimenter mitten in der vom Marschall Niel eingeführten Neuuniformirung überrascht. Die Pumphosen der Liniensoldaten hatten noch nicht alle ausgedient, während doch schon von den Regimentern viele enge Hosen neuen Musters getragen wurden. So stand es auch mit der Kopfbedeckung. Das unkleidsame Bonnet de police war erst theilweise von dem viel unbequemeren Käppi ersetzt, und die Waffenröcke waren in drei Mustern vertreten: der lange Unteroffiziersrock, den auch die Gemeinen als Galarock trugen; der kürzere Rock, welcher aus der Pumphosenzeit stammte, und endlich der Alltagswaffenrock der Gemeinen, Weston genannt, der mit den Hosen nicht gut schloß und das Hemd durchblicken ließ. Alle diese verschiedenen Kleidungsstücke wurden getragen und lieferten in ihren oft seltsamen Zusammenstellungen nicht sehr geschmackvolle Gestalten.
Mit vieler Mühe wurde doch endlich unter den Gefangenen, die unbesorgt in den Tag hineinlebten, die Ordnung hergestellt. Die mitgefangenen Elsässer halfen die Mißverständnisse lösen. Sie dienten vorzüglich als Dolmetscher.
Das Verhältniß der Gefangenen zu den Bewachungsmannschaften, die Stellung der Elsässer, welche bereits von der Abtrennung Elsaß-Lothringens von Frankreich hörten, gaben zu recht bemerkenswerthen Betrachtungen Anlaß, die ich nicht übergehen möchte.
Die Deutschen waren mir in ihrem Umgang, in ihren gesellschaftlichen Zuständen ebenso unbekannt wie den meisten anderen Gefangenen, und ich habe daher mit großer Neugierde die Leute beobachtet, mit welchen ich in Berührung kam.
Schon die Gruppen von Neugierigen, welche uns aus der Entfernung von etwa hundert Meter betrachten [246] durften, machten einen ungewöhnlichen Eindruck. Stundenlang standen sie unbeweglich wie Wachsfiguren. Wie anders sind die Gruppen der Neugierigen in Frankreich: beweglich und lebendig! Dann herrscht wieder ein großer Unterschied zwischen der ersten Berührung mit Deutschen und mit Franzosen. Der wortkarge Deutsche sucht mehr mit einer freundlichen Miene als mit süßen Worten in Bekanntschaft zu treten. Der Franzose nimmt sich zusammen und schlägt sprechend den höchsten Ton der Höflichkeit an. Der Deutsche spricht im Verhältniß zum Franzosen überhaupt wenig und denkt viel. Sein sinnendes Wesen verleiht ihm zwar das Merkmal des scharfen Geistes nicht, aber verräth die Gutmüthigtkeit. Diese wurde von den Franzosen sehr bald erkannt und bildete die Unterlage des Vertrauens auf eine gute Behandlung. Die Franzosen sind witzig, sprechen viel, und nehmen es mit der Ueberlegung nicht sehr genau. Das Alberne, wie das anscheinend Unrichtige empört die Zuhörer nicht sehr. Franzosen entschuldigen sich gegenseitig über ihre Fehler. Schon um die Unterhaltung nicht gestört zu haben, lassen sie keine Berichtigung aufkommen. Der Franzose ist sozusagen ein geborener Schauspieler, und dieser Nationalcharakter tritt besonders im Verkehre mit Deutschen hervor.
Zwischen den Franzosen und den Deutschen stehen die Elsässer, welche von dem französischen Charakter Manches angenommen, Manches vom deutschen beibehalten haben. Besonnen wie Deutsche, können sie leichtsinnig sein wie Franzosen, sind aber, was die Geselligkeit anlangt, ihrer fränkischen und allemannischen Abkunft ziemlich treu geblieben. Die Deutschen bringen im Gespräche ihren Hauptgedanken häufig zuletzt, die Franzosen fallen mit dem ihrigen gleich zur Thüre herein, um ihn nachher hervorzuheben und mit ihrer geläufigen Zunge zu vertheidigen. Die Elsässer sind in sprachlichen Dingen sehr übel daran. In der letzten Zeit der Regierung Napoleons III. waren sie so weit gekommen, daß wenigstens alle die, welche die Schule fleißig besucht hatten, sich in der Unterhaltung der beiden Sprachen bedienen konnten; im Durchschnitt besaßen sie die Kenntniß keiner derselben gründlich. Im Gespräch unter sich vermischen sie beide in der willkürlichsten Weise. Die Elsässer wollten sich gern französisiren lassen. Ihre französische Angehörigkeit legte dieses Bedürfniß auf die Hand, aber ihr elsässisches Gemüth siegte stets über ihren guten Willen. Die Französisirung wurde sogar für die Franzosen eine verzweifelte Aufgabe; sie haben es trotz des größten Eifers darin nicht weit gebracht.
Die französische Literatur ist sehr in die Elsässer gedrungen; sie haben sie bewundert; sie haben sich dafür begeistert und wurden wie die meisten andern Völker auch von der leichtfließenden geglätteten Höflichkeitssprache der Franzosen gefesselt. Trotz des Mißverhältnisses in der sprachlichen Bildung standen die Elsässer als Angehörige des französischen Staates gewissermaßen doch gut; sie wurden durchaus nicht als Stiefkinder behandelt. Wenn auch die Pariser faiseurs (sittenlose Vormacher) ihre Sitten und Gebräuche bespöttelten, so hat doch die Regierung wohlweislich Elsässer aus allen Schichten des Volkes zu Aemtern gelangen lassen und bis auf Napoleon III. die deutsche Sprache der Elsässer nicht nur in Ehren gehalten, sondern ihre Literatur begünstigt und Dichter und Schriftsteller mit Ehren ausgezeichnet.
Die gefangenen Elsässer waren daher auch nicht wenig verstimmt, als sie von der Abtrennung des Elsasses von Frankreich hörten. Die Franzosen selbst nahmen die Sache ziemlich gleichgültig auf und hatten vorerst keinen andern Wunsch, als recht bald wieder nach dem geliebten Vaterlande und nach der Heimath zurückzukehren.
Unter den Kriegsgefangenen der Wahnerhaide befanden sich auch noch Angehörige eines andern Volkes, welche verdienen hier erwähnt zu werden; ich meine damit die 300 Turkos, welche hauptsächlich die Aufmerksamkeit der Besucher aus Köln und Umgegend erregten. Sie waren alle in einer Compagnie vereinigt und wurden im Verhältniß zu anderen Gefangenen streng gehalten. Unter ihnen war ein Elsässer, welcher arabisch sprach und den Söhnen Afrika’s die Befehl verdolmetschte. Die großen ernsten Gestalten der Turkos trugen dazu bei, die Einförmigkeit des Gefangenenlebens etwas zu brechen. Sie wann aber alle mehr oder weniger von dem Heimweh ergriffen, und ihre traurigen Gesichtszüge erregten, trotz der ihnen vorgeworfenen Barbarei, das Mitleid verständiger Leute. Durch persönlichen Umgang mit mehreren Turkos habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß sie von den Feinheiten der europäischen Bildung Nichts verstehen, und daß sie es mit dem Unterschiede zwischen Dein und Mein nicht sehr genau nehmen. Man kann ihnen sogar die entsetzlichsten Grausamkeiten zutrauen, aber in ihrem Zelte sind sie herzensgute Leute. Einer ihrer Unteroffiziere, ein echter Kabyle, erklärte eines Tags in meinem Beisein einem preußischen Soldaten mit Worten und mit Zeichen, daß sie, die Turkos, als Gefangene in Deutschland ganz gute Freunde der Preußen seien, wenn aber ein Deutscher nach Afrika käme, würden sie ihm kurzum den Hals abschneiden. Wenn auch Viele unter ihnen, wie ich erfahren habe, arabisch lesen und schreiben konnten, ja mehrere sogar arabische Schulen besucht hatten, war ihre Rohheit doch keineswegs verwischt. Die französischen Soldaten machten wenig Gemeinschaft mit ihnen. Den preußischen Offizieren des Bewachungscorps waren die Turkos wegen ihres tiefen Eigensinnes noch mehr als wegen ihrer großen Unreinlichkeit geradezu lästig, sie wurden deshalb zur Verhütung einer Empörung noch vor Anbruch des Winters nach der Festung Wesel übergeführt.
So lang die schönen Herbsttage dauerten, war das Leben unterm Zelte, trotz mancher Mängel, noch kurzweilig. Man schlief zwar nicht in Betten, aber Stroh wurde in Fülle ausgetheilt und jeder Soldat mit mehreren Wolldecken versehen. Die Franzosen versenkten [247] sich nicht lang in tiefes Nachsinnen über die Schicksale ihres Vaterlandes. Sie überließen sich truppenweis dem Spiele, so daß man zu gewissen Zeiten gar nicht geglaubt hätte, daß sie Gefangene wären. Sogar der Fall von Straßburg, von welchem die Kunde zu uns kam, machte keinen besonderen Eindruck. Man war bereits ans Capituliren gewöhnt. Der Ausdruck Capituliren wurde sehr treffend beim Spiel gebraucht. Wenn nämlich einer der Spielenden in die Enge getrieben war, sagte ihm sein Gegner nicht mehr: Il faut vous rendre (Du mußt Dich ergeben), sondern: Il faut capituler (Du mußt capituliren). Als Gesundheitsmaßregel war von dem Lagerkommando für uns ein zweistündiges Manöver eingeführt worden, zu welchem Alle, mit Ausnahme der Unteroffiziere, herangezogen wurden. Ich habe diesen Uebungen nie beigewohnt, aber erfahren, daß es dabei zu den ergötzlichsten Zwischenfällen kam.
Die Uebergabe von Metz, welche am 30. Oktober erfolgte, lieferte mehrere neue Abtheilungen von Schicksalsgenossen auf die Wahnerhaide, dagegen verließen uns wieder andere, welche auf Antrag des Gouverneurs nach nördlicher, in Preußen und in Hannover, gelegenen Festungen abgingen.
Unter den Zurückgebliebenen fing das Leben mit den im November eingetretenen Regengüssen an, sehr eintönig zu werden. Die Anfangs September noch ganz mit Rasen überzogene Haide war dann in einen großen Morast verwandelt, durch welchen man nur noch mit Mühe einen Weg finden konnte. Unsere Uebersiedelung nach einem in der Nähe von Köln, auf dem Felde genannt Gremberg (Grüneberg) für uns errichteten Barackenlager konnte daher nicht mehr lange ausbleiben. Bevor ich aber von der Uebersiedelung dorthin spreche, muß ich auch der vielen Liebesgaben gedenken, welche von dem elsässischen Hilfskomité gespendet wurden. Durch die wahrhaft großartigen Beiträge, welche dieses Comité zur Verfügung stellte, wurden die Gefangenen mit den warmen Kleidungsstücken versehen, welche sie vor der Kälte des Winters am meisten schützten.
Die Uebersiedelung nach dem Barackenlager zu Gremberg geschah zu Fuß an einem trockenen Tage gegen Ende November. Ein Theil der Gefangenen blieb in den auf der Wahnerhaide selbst errichteten Baracken zurück. Nach der Uebersiedelung währte es nicht mehr lang, bis der erste Schnee fiel und den ziemlich strengen Winter einleitete. Die Räume im Innern der Baracken waren sehr weit, doch große Oefen und genügendes Brennmaterial erlaubten dieselben gehörig zu heizen. Ein schlimmerer Feind als der Winter war die Langweile, welche die Gefangenen verzehrte. Der bald mit tiefem Schnee bedeckte, bald aufgeweichte Boden erlaubte vielen, wegen ihrer mangelhaften Fußbedeckung, nicht einmal, sich im Freien aufzuhalten. Um über den Morast zu gelangen, mußten von einer Baracke zur andern Faschinenwege angelegt werden.
Eine einigermaßen die Langweile brechende Unterhaltung war das Theater, in welches man zu einem sehr mäßigen Preise Zutritt hatte. Die Schauspieler waren kiegsgefangene Pariser. Ihre Pantomimen (Geberdenspiel) wurden allgemein bewundert, ihre Possen und Cancans (Tänze) stürmisch beklatscht. Mitunter spielten sie auch ernste Stücke, in welchen sie sich nicht weniger geschickt erwiesen. Mit ihnen wechselten auf der Bühne deutsche Künstler, ebenfalls Militärs, ab, unter welchen sich naturgemäß auch die Berliner am meisten hervorthaten. Endlich erhielten auch viele Gefangene die Erlaubniß, in Begleitung von preußischen Soldaten nach Köln zu gehen und die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen.
Durch die am 26. Februar 1871 in Versailles erfolgte Unterzeichnung der Friedensvereinbarungen und die bald darauf von der französischen Kammer in Bordeaux gut geheißene Annahme derselben sahen sich die Kriegsgefangenen endlich der Erfüllung ihres heißesten Wunsches genähert. Leider kam fast zugleich wieder eine neue widerwärtige Kunde unter sie, welche die schöne Hoffnung, in nächster Zeit nach dem Vaterlande zurückkehren zu dürfen, beinahe zerstörte. Die Unruhen in Paris, die Commune, die Regierung der Heißsporne, schien die Kriegsgefangenschaft noch länger ausdehnen oder am Ende gar die kaum aus Deutschland zurückgekehrten Truppen mit neuem Blutvergießen beschäftigen zu wollen. Für die Elsässer hatten diese Sorgen keine Bedeutung mehr, und schon am 19. März durften alle die, welche von der Freiheit Gebrauch machen wollten, mit der Eisenbahn in ihre Heimath fahren. Das thaten auch die meisten. Diejenigen aber, welche in Stellvertretung Soldat geworden waren, ließen sich lieber nach Frankreich ausliefern, um für die noch ausstehende Abschlagszahlung ihren Dienst zu beenden. Meinen französischen Freunden, welche im Lager zurückblieben, und meinen neuen deutschen Bekannten daselbst und in Köln noch ein letztes Lebewohl zurufend, bestieg ich mit meinen Landsleuten, den Elsässern, die Eisenbahn, welche uns ohne Unterbrechung über Mainz, Ludwigshafen, Mannheim, Karlsruhe und Kehl nach Straßburg brachte. Da wurden wir auf freien Fuß gesetzt. Ich brauche nun nicht noch beizufügen, daß sich jeder sobald als möglich seiner näheren Heimath, seinen Verwandten, Freunden und Bekannten zuwandte.
Anmerkungen der Vorlage
- ↑ Pékin – chinesischer Seidenzeug. In der Soldatensprache bedeutet das Wort einen vornehm gekleideten Herrn oder überhaupt einen Civilisten.
- ↑ Pioupiou (piupiu) Uebername für „gemeiner Soldat“.
- ↑ Einsousoldat (der Sou = 5 Centimes = 4 Pfennige).
- ↑ Sie hielten nämlich Weißenburg für eine deutsche Stadt.