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Erlebnisse in Kurorten und auf Reisen

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Textdaten
Autor: Wilhelm Ziebold
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Titel: Erlebnisse in Kurorten und auf Reisen.
Untertitel: Volksblatt. Eine Wochenzeitschrift mit Bildern. Jahrgang 1878, Nr. 4, S. 28-31; Nr. 7, S. 53-55; Nr. 11, S. 84-86
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Herausgeber: Dr. Christlieb Gotthold Hottinger
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Dr. Hottinger's Volksblatt
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Erscheinungsort: Straßburg
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Quelle: Scan auf Commons
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Erlebnisse in Kurorten und auf Reisen.

1. Badenweiler.

Früher bin ich kein Freund des Reisens gewesen. Die Unbequemlichkeit, die Aufregungen und dazu noch der Aerger über große Gasthofrechnungen haben mich meistens von dem „bildungsreichsten Vergnügen“ zurückgehalten. Doch es sollte anders kommen, und zwar gerade zu der Zeit, als ich einen schönen Traum zukünftiger Behaglichkeit träumte, als ich die Hoffnung auf eine sichere Existenz zu hegen berechtigt war, gerade an einem ruhigen und idyllischen Orte, im gesunden und lieblichen Badenweiler.

Es war ein eigenthümliches Gefühl, das mich ergriff, als kurz vor Ostern des Jahres 1875 die Weisung meiner Behörde eintraf, daß ich mich auf den 1. April nach Badenweiler zu begeben hätte. Glückliche Zeiten waren seit drei Jahren in dem stillen althochbergischen Dorfe Tutschfelden und dem damit vereinigten Wagenstadt für mich verflossen; erhebende Stunden hatte ich in Kirche und Schule, am Krankenbette und auf dem Friedhofe, in trautem Freundeskreise und bei festlichen Anlässen, umgeben von deutschen Kriegern und Sängern, erlebt. Jetzt stand mir der nahe schmerzliche Abschied bevor. Und doch leuchtete mir Badenweiler als zukünftiger Wirkungs- und Aufenthaltsort entgegen.

Badenweiler gilt als einer der schönsten Punkte des badischen Oberlandes, ja des ganzen schönen Großherzogthums, als ein starker Magnet für Gesunde und Kranke. Es ist wirklich ein reizendes Stück Erde, das ich, in Müllheim angelangt, nach einer kurzen Fahrt durch das liebliche Weilerthal, an einem herrlichen Frühlingsabende betrat. Im Hintergrunde erhebt sich der Blauen, ein stattlicher Berg des südlichen Schwarzwaldes. Dunkle Waldungen ziehen sich an den Abhängen herunter, und auf einem ausgebreiteten Vorsprunge liegt terrassenförmig hingezaubert unser Kurort. Es ist nur ein kleiner Flecken von nicht ganz fünfhundert Einwohnern, beherbergt aber während des Sommers Tausende von Fremden. Im vordern Theile befindet sich das etwas kleine Kurhaus, dessen großer Saal Jedermann überrascht. Gleich hinter ihm breitet sich in langsamer Senkung der prachtvolle und große Kurpark aus mit seinen trefflichen Anlagen, seinen lauschigen Plätzchen, seinem balsamischen Duft. Von hier aus ziehen sich Spazierwege um den Schloßberg, dessen weithin sichtbare Ruine – ein Denkmal aus der Franzosenzeit – in das Rheinthal hinabblickt. [29] Es ist eine wundervolle Aussicht, die man von dieser lichten Höhe aus genießen kann. Die dunkeln Tannen des Schwarzwaldes, die reichgesegneten Fluren des oberen Breisgaues, die grünen Wiesen und steilen Rebgelände, der in der Ferne blinkende deutsche Strom, der bläuliche Duft der wasgauischen Berge fesseln und entzücken Auge und Herz. Kein Wunder, daß sich Viele nach Italien versetzt glauben, daß der Dichter Justinus Kerner Badenweiler in folgenden schwungvollen Strophen verherrlicht hat:

„Sei mir gegrüßet, Badenweilers Au!
Ein Stück Italiens auf deutschem Grund!
Gebroch’nem Herzen, müdem Haupt welch Fund
Mit deinem Heilborn, mild’rer Steine Thau!

Hier wehet frisch aus blauem Himmelszelt
Ein Hauch der Heilung über Wald und Flur,
Der Athem ist’s der liebenden Natur,
Noch unvermischt mit Dünsten dieser Welt.

Auf zu der Berge Haupt! o welch ein Glanz
Von Himmel und von Erde! Dort im Schein
Des Sonnengolds der alte deutsche Rhein
Und der Vogesen dunkelblauer Kranz!

Und tief, tief in der Waldgebirge Schooß,
O welche Ruh! Nur leiser Vogelsang,
Das Rauschen nur vom grünen Bergeshang
Krystall’ner Wasser über Stein und Moos.

Land unter mir, sichtbar in Himmels Huld,
O Breisgau, Deutschlands bunter Blüthenstrauß,
Ich breite betend meine Arme aus!
Gott schütze dich vor Unnatur und Schuld!

Du aber, Kranker, such den Aufenthalt
Hier in der Berge grüner Einsamkeit;
Hier heile dich, wie’s wunde Reh sich heilt,
Am hellen Born im tiefen, tiefen Wald!„

Nach den Worten des begeisterten Dichters nennen Viele unser Badenweiler „ein Stück Italiens auf deutschem Grund.“ Doch möchte ich diese Bezeichnung nur theilweise richtig finden, seit ich Italien und das ihm nah verwandte, landschaftlich wundervolle Corsika gesehen. Deutsche Landschaften sind meistens sehr verschieden von den Landschaften Italiens. Da sind andere Gebirgsformen, andere Linien und Farben. Im Süden wandle ich unter Palmen und in lichten Oelbaumhainen, da treffe ich neben unschönem Gesträuch, neben wildwachsenden, gewaltigen Cactusstauden die herrlichsten Citronen- und Orangengärten. Im Schwarzwalde, in Badenweiler entspricht die Natur der Landschaft meinem deutschen Gemüthe und Gefühle. In dem dunkeln Walde, „wenn – wie unser Dichter Hebel sinnig sagt – d’Sunne hinter de Tanne stoht“, in den frischen Eichenhainen, in denen der deutsche Geist rauscht und webt, hier fühle ich mich ergriffen, hingezogen, begeistert, hier kann ich sinnen und träumen, da ist es mir heimlich und wohl, da möchte ich Hütten bauen. Die Ordnung und Sorgfalt im Anbau der Fluren, die netten, sauberen und reizenden Landhäuser, die regelmäßig angelegten und mit treuem deutschem Fleiße bearbeiteten Gärten erfreuen das scharfe Auge, den Harmonie verlangenden Geist. In der That kann Badenweiler den Vergleich mit dem Süden in mancher Hinsicht getrost aushalten. Wenn es auch nicht an einem herrlichen See liegt, wie Gersau und Brunnen, wie Clarens und Montreux, wenn es auch nicht von den Meeresfluthen umrauscht wird, wie Ajaccio und Neapel, Nizza und San Remo, Nervi und Spezzia, es hat Vieles, was andere Kurorte nicht haben, dazu rechne ich gerade seine schönen Tannenwälder, die in unmittelbarer Nähe des Ortes liegen, zu denen man ohne Anstrengung gelangen kann, ein ganz unschätzbarer Vortheil für den kranken Kurgast. Ueberhaupt sind schöne und geschützte Spaziergänge in jeder Weise leicht zu unternehmen, im Wald und in den Fluren, in der Ebene und auf die Hügel und Berge. Ueberall kann die heilende und stärkende reine Luft genossen werden – das wichtigste Nahrungsmittel für die Gesunden, die beste Arznei für die Kranken. Badenweiler ist und bleibt ein Luftkurort ersten Ranges.

Was es schon früher berühmt gemacht, ist neben seiner Schönheit und gesunden Lage besonders seine lauwarme Quelle, seine Therme. Schon zur Zeit der römischen Kaiser waren Badeeinrichtungen vorhanden, deren Ueberreste – die Römerbäder – im Jahre 1784 zufällig im Parke entdeckt wurden. Oberhalb dieser Ruinen ist seit 1875 ein großartiges, kostbar ausgestattetes Badgebäude mit einem gedeckten und offenen Bassin vollendet worden. Es ist also auf jede Weise Gelegenheit geboten, die Luftkur durch eine Badekur zu unterstützen.

An Vergnügungen und nothwendigen Zerstreuungen fehlt es den Kurgästen nicht. Vielleicht könnte zwar noch Manches für diesen Zweck unternommen werden. Doch hat der jetzige Direktor, der berühmte Badearzt Dr. Siegel, den in gewissem Sinne richtigen Grundsatz, aus Badenweiler weniger ein Luxusbad, als einen Kurort für Kranke und der Erholung Bedürftige zu machen. Für geistige Unterhaltung sorgt das Lesezimmer und die Bibliothek des Buchhändlers Fabel, des alten freundlichen Herrn, der vermöge seiner Kenntnisse ein Rathgeber für alle Kurgäste geworden ist. Neben den Vorträgen der Kurkapelle werden bisweilen von Einheimischen und Gästen Concerte gegeben. Ich erinnere mich noch lebhaft an ein solches, das treffliche Künstler und Künstlerinnen unter Leitung des ausgezeichneten, leider letztes Jahr verstorbenen Hofkapellmeisters Fischer aus Hannover aufgeführt haben. Ueberhaupt war der Aufenthalt in Badenweiler für mich reich an Erfahrungen und Erlebnissen – in gewissem Sinne eine innere, geistige Kur. Elend und Glanz waren täglich zu schauen, des Lebens Ernst in der vollen Wirklichkeit zu beobachten. Ich erinnere mich mit Wehmuth an Einzelne, die aus weiter Ferne, sogar über den Ocean gekommen und hier ewigen Frieden gefunden; ich denke mit Freuden an Mehrere, die schwach und krank angelangt, gesund oder doch kräftig unsere schönen Berge verlassen konnten. Manche freundliche Erinnerung an das Pfarrhaus und seine gesellschaftlichen Kreise ist mir geblieben. Jene milden Septembernächte, in denen wir vom Belvedere des Schlosses die mit zauberhaftem [30] Mondlichte beleuchtete Umgebung betrachteten, stehen lebhaft vor meinem Geiste.

Doch mit dem September waren die schönen Tage von Badenweiler vorüber und die Herbst- und Wintermonde begannen. Schön ist es da droben bisweilen schon im April, prachtvoll im Sommer, aber ein Winterkurort ist Badenweiler nicht. Dichte Nebel umhüllten in jenem Spätherbste oft Tage lang die Gegend, und das Schloß blieb unsichtbar. Die Novemberstürme brausten gewaltig; die Kälte des Dezembers machte sich fühlbar; der Boden war mit tiefem Schnee bedeckt. Meine Pflicht war es, fast täglich auf die theilweise sehr entfernten fünf Filiale zu pilgern und meine Berufsgeschäfte zu besorgen. Eine Erkältung – namentlich auf den offenen Friedhöfen – kam zu der andern. Ich wollte nicht gleich um Urlaub bitten, nicht gleich die Flinte in’s Korn werfen, sondern, wie der treue Soldat, nur der Uebermacht weichen. Ich blieb und predigte trotz meines Katarrhes mehrere Wochen lang weiter, bis mir mein Kehlkopf endlich Halt gebot. So legte ich in diesen Winterwochen den Grund zu einem lange dauernden, chronischen Halskatarrh, aber auch den Grund zu vielen Erfahrungen und Erlebnissen. Ich könnte Manches mittheilen mit der Ueberschrift: Von Arzt zu Arzt, von einem Kurort zum andern, von einer Heilart zur andern. Nur auf das Wichtigere werde ich mich beschränken.

2. Im Schwefelbade Langenbrücken.

Schonung und Schweigen ist die erste Bedingung zur Heilung eines angegriffenen Halses. Sie konnte, wenn auch mit großer Ueberwindung, erfüllt werden, als ich endlich Urlaub genommen. Es war ein langer, schwerer Winter, dessen Ende ich in meiner hochbergischen Heimath verbrachte. Die frühere Kraft der Stimme wollte immer nicht kommen. Nachdem ich lange Zeit Emser- und Selterswasser getrunken, Tanineinathmungen, Einreibungen und nasse Einwickelungen angewendet, nachdem Kehlkopf und Rachen viele Wochen lang von geschickter Hand mit starker Höllensteinlösung bepinselt worden, suchte man endlich Hülfe und Heilung in Badekuren. Zunächst wurde die Kur in einem Schwefelbade dringend gerathen.

Der Frühling und Sommer des Jahres 1876 wollte lange nicht eintreten. Noch im Mai war es Wetter, wie sonst im März. Endlich erbarmte sich der Himmel, und am letzten Tage des Wonnemonats siedelte ich nach dem bekannten Schwefelbade Langenbrücken zwischen Heidelberg und Karlsruhe über. Fast fünf Wochen lang gebrauchte ich diese Kur, trank jeden Morgen 3–4 Glas Schwefelwasser, dessen eigenthümlicher Geschmack sich allmälig für die Zunge verliert. Täglich saß ich in dem dichtgeschlossenen Inhalationssaale und athmete der Vorschrift gemäß trockenes Gas und Gas mit Wasserstaub ein. Interessant war es zu schauen, wie die Kurgäste rings um ein großes Becken oder Bassin saßen und das an einer Glasplatte zerstäubte Schwefelgas mit Gier in langsamen Zügen einathmeten, dann wieder in den schön angelegten Lindenpromenaden frische Luft schöpften, um nach einer Viertel- oder halben Stunde das Werk von Neuem zu beginnen. Einen schrecklich komischen Anblick machten die Herren und Frauen, die mit weitgeöffnetem Munde ihre kranken Halstheile dem zerspritzten Schwefelwasser darboten oder zur Heilung ihrer Flechten und Kupfernasen das edle Haupt benetzen ließen. Man kann Vieles thun, wenn es hilft und es hat Manchen geholfen. Hat doch in Folge seiner Kur ein schon ziemlich herangereifter Sohn des Morgenlandes sich erkühnt, einem ebenfalls wieder zur Schönheit gelangten Fräulein einen Heirathsantrag zu stellen, was ein schallendes Gelächter der anwesenden „Schwefelgeister“ hervorrief. Es herrschte trotz vieler Leiden ein heiteres Leben im Schwefelbade. Es wird mir nicht aus der Erinnerung schwinden, daß wir auf Antrag Vieler den liebenswürdigen Kaufmann, den ehrenwerthen alten Herrn aus dem Lande der treuen, biedern Schwaben hauptsächlich wegen seiner Kenntniß in der Musik und seiner Gewandtheit im Benehmen scherzweise zum Professor der schönen Künste ernannten und ihm diese Ernennung mit Schrift und Siegel beglaubigten. Ich habe gar nicht gefunden, daß Langenbrücken ein „Langweilenbrücken“ sei. Wenn auch die Umgegend nicht viel bietet, die Kurräumlichkeiten sind doch auf’s beste eingerichtet, die übliche Kurkapelle fehlt nicht, der Badbesitzer ist aufmerksam auf die Wünsche der Gäste, der Badearzt untersucht die Kranken mit Kennerblick und – die Hauptsache bleibt doch immer der Erfolg. Es sind hier wirklich schon treffliche Kuren gemacht worden. Ich kenne Kollegen, die ihren „Predigerkatarrh“ durch die Schwefelkur verloren; ich habe erfahren, wie günstig diese auf Luftröhrenkatarrh, Drüsenanschwellungen, Flechten, Gicht und Lähmungen eingewirkt hat. Wenn sie auch nicht gleich hilft, ein Trost bleibt immer – die Hoffnung auf Nachwirkung. Auch diese ist mir geblieben, als ich wieder heimwärts zog, um nach Anhörung meiner Aerzte Nachkuren und neuen Kuren mich zuzuwenden.

3. In der Wasserheilanstalt Herrenalb.

Anwendung „allgemeiner Mittel“, namentlich während des Hochsommers, hieß jetzt die Losung. Luft- und Wasserkuren traten in den Vordergrund. Letztere besonders sind in neuerer Zeit Mode geworden. Die Mehrzahl der Krankheiten soll durch inneren, hauptsächlich aber äußeren Gebrauch kalten Wassers geheilt werden. Es ist nicht zu läugnen, daß nach dieser Methode erstaunliche Kuren gemacht, daß bei Gicht, Rheumatismen, Magenleiden, Folgen von Brustfellentzündungen, rasche Wirkung erzielt worden. Es ist aber auch eine sonderbare Kur, der wir uns in dem freundlichen, von prachtvollen Tannenwäldern umgebenen Städtchen Herrenalb im württembergischen Schwarzwalde unterwarfen. Morgens zwischen 3 und 4 Uhr, wenn sonst Alles noch in tiefem Schlummer ruht, poltert ein Geist in den Korridoren des großen Kurhauses und [31] tritt in leibhaftiger Gestalt des Bademeisters in die Zimmer der Kurgäste. Jetzt wird in nicht gerade freundlichen Worten zum Aufstehen ermahnt. Das Lager wird der äußeren Hüllen, Betten und Tücher beraubt, auf die Matratze eine große wollene Decke gebreitet, darauf ein ganz nasses Tuch von grobem Stoffe, und – der Kurgast legt sich mitten darauf. Der Leser möge nicht frieren, jedoch den armen Gast friert und schaudert es eine kleine Weile, aber rasch und unsanft wird er eingewickelt, mit wollenen Tüchern und Betten bis an das Kinn eingepackt; da liegt er festgeschlossen, fast ohne die Hände rühren zu können, wie in einer Zwangsjacke, einem großen angefüllten Sacke vergleichbar. Das Kissen wird unter den Kopf geschoben, der Diener geht, und der arme Sünder bleibt liegen. Es wird ihm allmählig warm, bisweilen so warm, daß er vom Lager aufspringen möchte, aber das Pflicht- u. Ehrgefühl hält ihn vom tollen Streiche zurück. Er will ja gesund werden. Er schwitzt eine, zwei, drei bis vier Stunden; – man gewöhnt sich an Alles – er schlummert und schläft. Endlich erbarmt sich seiner der vielbeschäftigte Plagegeist, er kommt in Eile, packt den Kurgast, setzt ihn auf einen Rollwagen, kutschirt ihn durch den langen Gang und versenkt ihn mittelst eines Flaschenzuges in die Tiefe. Dort im Erdgeschosse steht schon ein anderer dienstbarer Geist, schiebt den Wagen durch die nahe Thüre, enthüllt den vom Schweiße dampfenden Insassen und stellt ihn unter die vom Kurarzte plötzlich losgelassene Regendouche oder Brause. Nach mehreren Secunden, später nach ein bis zwei Minuten, hört die Tortur auf; jetzt hüllen die Diener den Körper ein, reiben die Haut, daß die Funken sprühen; der Arme ist trocken, fühlt sich erquickt, kleidet sich rasch an, springt auf sein Zimmer, nimmt Hut und Sonnenschirm und lustwandelt in der wundervollen Morgenluft, als ob Nichts geschehen wäre. Den an Leib und Seele Erfrischten umsingen die Vögel, umrauschen die Tannen, umduftet ihr Harz. Er fühlt sich neugestärkt, hat aber Hunger, geht nach Hause und trinkt seine Milch.

Das ist einer der Morgen in der Wasserheilanstalt Herrenalb. Sollte man nicht meinen, das halte kein Mensch aus? Oh! es haben es zarte Wesen, bleichsüchtige Kinder, geschwächte Greise ausgehalten und sich wohl dabei gefühlt und Besserung erlangt. Doch die Kur ist noch nicht zu Ende. Um 11 Uhr wird man unter die große Douche, die sogenannte Ochsendouche gestellt, um 12 Uhr findet einfache Mittagstafel statt, von der früher der Wein verbannt war, die aber jetzt mit Bordeaux und Burgunder gewürzt ist. Um 4 Uhr geht es in’s Wellenbad, – die einzige Poesie der Wasserkur; nach einem längeren Spaziergang genießt man Milch und Eier, geht bald zu Bette, um den andern Morgen wieder bereit zu sein.

Wenn diese Kur keine weitere Wirkung hätte, die eine hat sie doch, daß sie den geschwächten Körper abhärtet, die Haut kräftigt und gegen äußere Einflüsse weniger empfindlich macht. Das ist die Ansicht vieler Aerzte, auch des berühmten Professors der Chirurgie von Bruns, den ich Anfangs August in Tübingen besuchte, um endlich Gewißheit und Beruhigung zu erlangen. [53]

4. Nach und in Tübingen.

Es war ein prachtvoller Augustmorgen, als ich mich entschloß, die Ansicht und den Rath des gefeierten Professors, des erfahrenen Chirurgen und Kehlkopfarztes von Bruns in Tübingen einzuholen. Nachdem auf die telegraphische Anfrage, die zur Sicherheit nothwendig ist, etwa nach einer Stunde die Antwort zurückgekommen, „Bin morgen zu sprechen“, fuhr ich sofort über Gernsbach im freundlichen Murgthale und an der emporblühenden Residenz Karlsruhe vorbei nach der Stadt Pforzheim, bekannt durch viele Goldwaarenfabriken, deren eine die berühmte Friedensfeder gefertigt, mit welcher Fürst Bismarck den Frankfurter Frieden unterzeichnet hat.

Der Frühzug des folgenden Morgens führte mich auf der neuen Bahn durch das romantische Nagoldthal, reich an schönen Wäldern und herrlichen Orten. Da liegt Hirschau oder Hirsau mit der hohen Ulme, die unser Lieblingsdichter Uhland so ergreifend besungen. Dort zwischen dem hohen, trümmerhaften Gemäuer steht der Ulmbaum, der nicht zu wachsen aufhörte, bis er aus dem Dunkel des Gebäudes emporragte und zum Lichte hindurchgedrungen war.

„O Strahl des Lichts! Du dringest
Hinab in jede Gruft.
O Geist der Welt! Du ringest
Hinauf in Licht und Luft.“

Die Thurmglocke schlug 11, als wir die alte Musenstadt Tübingen erreichten. Neun Jahre vorher hatte ich als junger Student zum ersten Male diesen durch die Wissenschaft geheiligten Boden betreten, war bestrebt mein Wissen zu bereichern, mein Herz und meinen Geist zu befriedigen, jetzt suchte ich Hilfe für meinen Körper. Nach dem akademischen Krankenhause, der Wirkungsstätte des großen Gelehrten, lenkte ich sofort meine Schritte.

Auf 12 Uhr war die Untersuchungsstunde für die Halsleidenden bestimmt. Schon geraume Zeit vorher fand ich das große, mit ärztlichen Büchern ausgestattete Wartezimmer von Hilfesuchenden angefüllt. Zur festgesetzten Stunde erscheint ein kleiner, freundlicher Herr in vorgerücktem Alter – Professor von Bruns. Es ist der ausgezeichnete und bedeutende Arzt, der zuerst eigentliche Operationen im Kehlkopfe vornahm, der aus demselben die sogenannten Polypen mit einem durch Elektricität in Bewegung gesetzten Instrumente entfernte und dadurch viele Kranken vom sicheren Tode errettete. Er hatte diese Operation, wie ich hörte, zuerst an seinem Bruder, dem Professor der Rechtswissenschaft in Berlin, unternommen, glücklich vollbracht und seither einen solchen Namen erlangt, daß Halsleidende fast aller Nationen nach Tübingen kommen, um seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Heute ruft er die einzelnen Patienten der Reihe nach zu sich. Es ist für manche ein schwerer Gang. Das merkt man erst an den Heraustretenden, die geätzt wurden oder das Operationsmesser fühlen mußten. Ich war ziemlich versichert, daß mein Leiden ein chronischer Katarrh ohne gefährlichen Charakter sei, aber mir war auch von früher her im Sinne, daß schon oft Aerzte diese oder jene Behauptung aufstellten, jedoch erst Prof. von Bruns die wirkliche Sachlage erkannte. Ich betrat das dunkle Zimmer, erzählte dem feinen Kenner meine Leidensgeschichte. Er hörte mich freundlich an, untersuchte mich aufs Genaueste mit seinem hell erleuchteten Spiegel, fand wie die anderen Aerzte einen chronischen Katarrh, besonders aber in den oberen Halstheilen, weniger im Kehlkopfe. Er ist der Ansicht, daß ich noch einige Zeit die begonnene Wasserkur fortsetzen solle, gebot mir Schonung und rieth mir ernstlich, einen längeren Aufenthalt an einem höher gelegenen, gegen Wind, Staub und Rauch geschützten Orte des Schwarzwaldes oder der Schweiz zu nehmen.

Einigermaßen beruhigt, daß nichts Bedenkliches und Verdächtiges gefunden worden, schaute ich mich bis zur Abreise in der anmuthig gelegenen Universitätsstadt um, die längs des Neckars stufenweise sich erhebt. Eine Hauptzierde ist ihr in neuerer Zeit durch das Denkmal des Dichters Uhland zu Theil geworden – ein herrlich gelungenes Kunstwerk von Professor Kietz aus Dresden. Tübingen ist die Vaterstadt des gefeierten Mannes. Hier ist er am 26. April 1787 geboren, hier hat er studirt, zuerst als Anwalt, dann als Professor der deutschen Sprache und Literatur gewirkt. In der Ständekammer wie in der deutschen Nationalversammlung war er Tübingens Abgeordneter. In seiner Geburtsstadt ist er am 13. November 1862 entschlafen und zur letzten Ruhestätte gebracht worden. Ich habe oft seine Wohnung, das „Uhlandshaus“, mit Interesse und Ehrfurcht betrachtet; jetzt blickte ich mit demselben Gefühle zu seinem ehernen Standbilde empor. Auf hohem Unterbaue schauen wir die Gestalt des Mannes, in dem Gewande der Neuzeit, in aufrechter Stellung, in der einen Hand eine Schriftrolle haltend. Wir lesen die Inschrift des Denkmals: „Ludwig Uhland, dem Dichter, dem Forscher, dem deutschen Manne das dankbare Vaterland 1873“. – Gottlob! Das dankbare Vaterland ist nicht bloß Württemberg, sondern das Land, „soweit die deutsche Zunge klingt“, von dem Strande der Ostsee bis zum Fuße der Vogesen. Die vielen Helden des Geistes, die das edle Schwabenland hervorgebracht, gehören uns Allen an. Das Gesammtvaterland hat das Recht und die Pflicht, auch dem Meister Uhland ein Denkmal zu weihen. Wir Alle sind ja schon gehoben worden durch seine herrlichen Lieder voll Innigkeit und Tiefe der Empfindung, voll Wahrheit und Lebendigkeit. Wie ergreifend klingt des „Schäfers Sonntagslied“:

Das ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur;
Nur Eine Morgenglocke nur,
Nun Stille nah und fern.

Anbetend knie ich hier.
O süßes Graun! geheimes Wehn!
Als knieten Viele ungesehn
Und beteten mit mir.

Der Himmel nah und fern,
Er ist so klar und feierlich,
So ganz, als wollt’ er öffnen sich.
Das ist der Tag des Herrn.

[54] Einst sind wir von Tübingen zur Wurmlinger „Kapelle“ gewandelt. Aeußerlich war dort Alles still. Aber im Geiste hörten wir den frohen Sang des Hirtenknaben im Thale und dann den traurigen Ton des Glöckleins und des Leichenchors auf dem Berge. Wir schauten dem jetzt still emporlauschenden Knaben zu, und wehmüthig tönte das Dichterwort:

„Hirtenknabe, Hirtenknabe!
Dir auch singt man dort einmal.“

Als Kinder ließen wir das Uhlandslied erschallen, „Ich hatt’ einen Kameraden,“ und als Jünglinge betrachteten wir in schönen Feierstunden „der Wirthin Töchlerlein“ im Sarge und sangen mit begeisterter Rührung:

„Dich liebt’ ich immer, dich lieb’ ich noch heut
Und werde dich lieben in Ewigkeit.“

Uhlands Dichterharfe klingt aber auch heiter. Die Natur und das Volksleben, der Wein und die Liebe werden in launiger Weise von ihm besungen. In seinen erzählenden Gedichten, in seinen Balladen und Romanzen steht er unübertroffen da durch die scharfe Zeichnung licht- und lebensvoller Gestalten. Die alten Burgen und Schlösser öffnen sich. Die Edelfräulein und die Königstöchter, die Ritter und Knappen, die Fürsten und Sänger vergangener Zeiten treten in ihrem Fühlen und Handeln vor unsern Geist. Aber auch die Gegenwart kommt zu ihrer vollen Geltung. Der Dichter hat ein warmes Herz für das gute Recht seines Volkes. Er legt nicht umsonst dem Grafen Eberhard dem Greiner, dem alten Rauschebart, das herrliche Wort bei:

„In Fährden und in Nöthen zeigt erst das Volk sich echt,
Drum soll man nie zertreten sein altes, gutes Recht.“

Uhland liebt das Vaterland, er kämpft für die Freiheit; doch wie diese zu verstehen ist, sagt seine kurze Rede des Jahres 1848: „Die Freiheit will ich, die zur Einheit führt.“ Wahrlich, ein echt deutscher Geist leuchtet aus seinen Worten und Thaten.

Es sind erhebende Gedanken und Erinnerungen, die das Uhlandsdenkmal in uns hervorriefen, innere, geistige Erlebnisse, die nur durch neue Bilder zeitweise in den Hintergrund gedrängt wurden.

Ueber dem Neckar auf der Stadtseite erhebt sich in seiner einfachen Form und Gestalt das alte, ehrwürdige „Stift“, die Bildungsstätte vieler bedeutenden Männer, die eine Zierde des engeren und weiteren Vaterlandes geworden. In jenen Räumen hörten wir einst die Vorlesungen beliebter Lehrer und saßen aufmerksam zu ihren Füßen. Es hat sich seither Manches geändert. Mehrere Professoren sind von der Erde geschieden, andere wirken an ihrem Platze. Es bewahrheitet sich auch hier das in dem steinernen Geländer einer Brücke meiner Heimath eingegrabene Wort: „Alles ist Uebergang zur Heimath hin.“

Auch meine frühere Wohnung in der Neckarhalde schaute zu mir herüber. Heitere Erlebnisse waren zunächst damit verbunden. An jenen Fenstern standen wir oft in erregter Erwartung; denn es galt, den auf ihren Holzstößen vorbeifahrenden Neckarschiffern ein freundliches Mahnwort entgegen zu rufen. Langsam fahren sie dahin – sie sind da. Plötzlich öffnen sich alle Fenster, und die ganze Neckarhalde ertönt lange Zeit von dem gellenden Rufe der übermüthigen Musensöhne: Jockele sperr! Jockele speee–rr! Die Titel und Benennungen, die uns jetzt aus dem Munde der erbosten schwäbischen Schiffer als Antwort in die Ohren drangen, werden in den Büchern des feinen Tones und der Komplimente nimmermehr zu finden sein. Allein wir dachten eben: „Wer ausgibt, muß auch einnehmen.“

Doch nicht nur mit den Neckarschiffern wurde die Unterhaltung gepflogen, sondern auch unter uns Studenten selbst. Allerdings ging es theilweise ernst her, zumal da über wichtige Fragen gestritten wurde. Es war die Zeit unserer inneren Gährung und Entwickelung, des Strebens nach Wahrheit, des Ringens nach einer festen Ansicht, nach einem sichern Standpunkte. Oft sind die Geister auf einander geplatzt, aber wir haben das schöne lateinische Wort zu erfüllen gesucht, das – in deutscher Uebersetzung – das „Volksblatt“ als Wahlspruch verzeichnet hat: „In Allem – in allen Dingen – die Liebe.“

Noch eine andere Erinnerung tauchte in mir auf. Von dem Studirzimmer, „der Werkstatt geistlicher Gedanken“, habe ich mich zuweilen in eine andere Werkstätte begeben, in diejenige meines Hausherrn, meines „Hausphilisters.“ Hat doch schon der große Weise des alten Griechenlands, Sokrates, empfohlen, das Volk auf dem Markte und in den Werkstätten aufzusuchen, seine Anschauungen kennen zu lernen, es zu beobachten und anzuregen. Gerade bei den Schwaben – dem Volke des festen und zähen Charakters, der ausgeprägten Welt- und Lebensanschauung – ist sehr viel zu lernen. Mein Hausherr – der ehrsame Buchbindermeister in der Neckarhalde – war ein gemüthlicher und freundlicher Mann, der, wie es ja recht und billig ist, auch seine Hausgenossen zur Geltung gelangen ließ. Er war tüchtig in seinem schönen Handwerke, seinem täglichen Berufe. Oft habe ich mich über seine hübsche und gute Arbeit, über den feinen Sinn und Geschmack, den er darin zu erkennen gab, herzlich gefreut und ihm meine Anerkennung dafür ausgesprochen. Nur in einer Hinsicht wollte er gar nicht mit mir übereinstimmen, nämlich in den politischen, staatlichen, vaterländischen Fragen. Die Zeit in welcher wir damals in Deutschland lebten, war in staatlicher Beziehung eine sehr erregte, es war die Zeit der Wahlen zum deutschen Zollparlamente, jenem Uebergange zum jetzigen Reichstage. Wir Badener [55] schwärmten schon längst für ein großes einheitliches Reich mit preußischer Spitze, wir waren begeistert für das Kaiserthum der Hohenzollern, dessen Morgenstern sich schon glänzend am Himmel erhob. Fürst und Volk waren einig und bereit, die Krone ihrer Rechte auf den Altar des geeinigten Vaterlandes niederzulegen. Das schwäbische Volk wußte sich in die neue Zeit nicht so leicht zu finden. Sonderbundsgelüste zeigten sich bisweilen bei dem Gelehrten wie bei dem Handwerker. Doch wie hat sich auch in Württemberg Alles bald geändert! „Es ist – um mit dem begeisterten Dr. Völk aus Baiern zu sprechen – Frühling geworden in Deutschland.“ Noch eine kleine Zeit dauerte die winterliche Luft, aber dann keimte und sproßte es an vielen Orten. In den heißen Sommertagen des Jahres 1870 und in den heißen und ernsten Wintertagen von Brie und Champigny sind die Früchte der Einheit zwischen Württemberg und Preußen zur Reife gelangt. Der Geist der Eintracht ist seither immer stärker, das Band des Zusammenwirkens immer fester geworden. Als voriges Jahr unser Heldenkaiser Wilhelm Schwabens Königshaus und Hauptstadt besuchte, ward ihm ein Empfang bereitet, wie kaum in einem andern deutschen Lande. Sollte – was Gott verhüten möge – Deutschlands Ehre verletzt und seine Grenze bedroht werden, dann wird der Süden mit dem Norden an Begeisterung wetteifern, und man kann wieder von den berühmten „Schwabenstreichen“ zu hören bekommen. Im weiteren und höheren Sinne wird der Ausspruch jenes altdeutschen Rechtsbuches, des „Schwabenspiegels“, zur Geltung gelangen: „swa (wenn) man umbe des riches not striten solte, da suln die swabe vor allen sprachen striten.“

Nach äußeren und inneren Erlebnissen habe ich Württembergs liebliche Musenstadt verlassen. Das Dampfroß führte mich abermals durch das von der Abendsonne wundervoll beleuchtete Neckar- und Nagoldthal. In der schönen Sommernacht, da „lau die Lüfte wehn,“ unternahm ich noch einen kleinen „Ueberfall im Wildbad,“

„wo heiß ein Quell entspringt,
Der Sieche heilt und kräftigt, der Greise wieder jüngt.“

Nachdem ich den andern Morgen den Klängen der Kurkapelle gelauscht, die herrlichen Bäder, hauptsächlich das „Fürstenbad“ besichtigt, am warmen Trinkquell mich gelabt, im Gasthofe meine Börse erleichtert, gelangte ich über Neuenbürg wohlbehalten zurück nach Herrenalb. [84]

5. Von Luzern auf den Rigi.

Die Scheidestunde in Herrenalb hatte geschlagen; die Wasserkur war zu Ende. Jetzt galt es, die Berge der „freien“ Schweiz zu erreichen. Nach einer interessanten Fahrt auf der weitberühmten Schwarzwaldbahn, an Konstanz und dem „schwäbischen Meere,“ an Zürich und seinem lieblichen See vorbei, gelangte ich in das Herz der Schweiz, nach Luzern.

Unvergleichlich schön ist die Lage der Stadt Luzern am herrlichen Vierwaldstätter-See, dem die Reuß hier entströmt. Rechts erhebt sich jäh und finster der 6500 Fuß hohe Pilatus, links der etwas kleinere, aber berühmtere Rigi; zwischen beiden erblickt das Auge den Spiegel eines der reizendsten Seen der Schweiz. Die eigentliche Stadt ist alt, aber großartigere Gasthöfe, als hier am Ufer sich erheben, habe ich auf meiner weiten Reise nirgends gefunden.

Und erst die Fahrt auf dem See! Ich werde sie nimmer vergessen. Unter fröhlichen Klängen der Musik entfernen wir uns vom Ufer. Sicher und sachte durchrauscht das Dampfschiff die Wellen. Rückwärts schauen wir die terrassenförmig sich erhebende Stadt mit ihren alten Thürmen und reizenden Landhäusern, rings um uns her den grünblauen See, in dem die Sonne sich badet, dunkle Berge, die zum Himmel streben, und in weiter Ferne die schneebedeckten Gipfel der Alpen des Berner Oberlandes.

Auf dem Decke des schönen und großen Salonschiffes „Germania“ herrscht ein munteres Treiben. Reisende verschiedener Völker haben sich hier zusammengefunden. Natürlich bilden die wanderlustigen Briten, die blonden Söhne Albions, die Mehrzahl. Dort erblicke ich einen derselben im hellen Gewande. Unablässig beobachtet er mit seinem großen Fernrohre die Berge und Thäler und läßt sich in seiner Gemüthsruhe durch gar Nichts stören und erschüttern. – Einen ganz andern Eindruck macht in seiner Nähe ein Herr, von einer Gruppe aufmerksamer Frauen umgeben. Es ist offenbar ein deutscher Gymnasialprofessor, der vor Kurzem dem Schulstaube entronnen, seine Lunge und sein Auge stärken will in dieser herrlichen Natur, in dieser erfrischenden Luft. Aber das Unterrichten kann er auch hier nicht lassen. Er knüpft an die Gegend geschichtliche und naturwissenschaftliche Betrachtungen. Im Lehren lernt er und sammelt sich Erfahrungen, um im nächsten Winter seine geliebten Schüler damit beglücken zu können.

Dort am Geländer steht still und ernst ein französischer Abbé (Geistlicher) im langen Gewande. Wahrscheinlich beabsichtigt er einen Besuch in dem nicht sehr weit entfernten Kloster zu Einsiedeln. Eigenthümliche Gedanken und Gefühle müssen in seinem Innern aufsteigen, wenn er die erhabene Natur betrachtet, die die Herzen mächtig ergreift und zur Demuth und Versöhnung stimmt, wenn er sieht, daß unter dem schönen blauen Gotteshimmel Alle sich als Kinder Eines Vaters freuen dürfen, mögen sie verschiedenen Bekenntnissen, Stämmen und Völkern angehören. – Nicht weit entfernt sitzt ein junges Paar, das ich schon auf meiner Fahrt nach Zürich kennen gelernt. Es ist ganz vertieft in den Genuß der erhabenen Landschaft. Ein eigenthümlicher Zauber ruht auf dem Antlitz der Beiden. Es gibt aber auch – wenn denn einmal eine Hochzeitsreise gemacht werden muß – für solche glücklichen [85] Kinder kein schöneres Unternehmen, als eine Fahrt auf einem herrlichen Bergsee, wo die äußere Natur harmonisch zusammenklingt mit den himmlischen Akkorden der Herzen.

Aus meinen Betrachtungen wurde ich plötzlich geweckt durch den schrillen Ton der Dampfpfeife an der Maschine. Wir hatten schon das freundliche Wäggis hinter uns. Jetzt landeten wir in Vitznau am Fuße des Rigi.

Sollen wir nun den Alpenstock ergreifen und die steilen Höhen erklimmen? Nein, es ist seit einigen Jahren dem mühevollen, aber poesiereichen Bergsteigen ein Ende gemacht worden durch die Dampfkraft, die der menschliche Geist sogar für die Fahrt auf die Höhen verwerthet hat. Es gibt eine Eisenbahn auf den 6000 Fuß hohen Rigi.

Daß man in der Ebene mit der Dampfmaschine fahren kann, läßt sich noch begreifen, obgleich vor dreißig Jahren Manche die feuersprühende und dampfqualmende Lokomotive mit unheimlichen Augen betrachtet haben. Daß aber auf hohe, steile Berge das Dampfroß klettert, ist noch nicht Allen sehr einleuchtend. Und doch ist auch hier keine Zauberei im Spiele. Die Bahn und die Lokomotive sind von ihren Schwestern im Thale nur wenig verschieden. Zwischen gewöhnlichen Schienen sind in der Mitte noch zwei andere, nah bei einander liegende Schienen angebracht, welche durch regelmäßig von einander entfernte, starke eiserne Zapfen verbunden sind. In diese Zapfen oder Zahnstange greift ein unter der Lokomotive befindliches Zahnrad ein, welches durch Dampf in Bewegung gesetzt wird, durch dessen Umtrieb also die ganze Last befördert werden muß. Während die Aufwärtsbewegung durch Dampfkraft geschieht, muß beim Herabfahren die Maschine gehemmt werden, was durch eine in das Zahnrad eingreifende Luftbremse bewerkstelligt wird. Beide Male befindet sich die Lokomotive unterhalb des Wagens, der nicht an ihr befestigt ist. Sollte also einmal – was hier bis jetzt, Gottlob, noch nicht vorgekommen – ein Unglück auf der Fahrt geschehen, so kann der Wagen für sich gestellt werden; denn an der vorderen Achse desselben ist eine Backenbremse befindlich, welche ihn sofort zum Stehen bringt.

Zwei solcher Bergbahnen führen auf den Rigi, die eine von Vitznau, die andere von Arth aus. Erstere ist 1869–71, die letztere 1873–75 erbaut worden, beide nach dem Plane des schweizerischen Ingenieurs Riggenbach. Ganz bedeutend ist der Verkehr auf denselben. So hat im Jahre 1873 die Vitznauer Bahn über 54.000 Personen befördert.

Nach der Landung des Dampfschiffes herrschte ein förmliches Drängen zum Zuge, der schon zur Abfahrt bereit stand. Langsam fuhr er durch das Dorf, allmählich hinansteigend. Aber steiler und steiler wird die Höhe. Beinahe dachartig geht es empor. Das Eisenroß schnaubt und keucht gewaltig; der Athem scheint ihm fast auszugehen; doch für uns Reisende ist die Fahrt ganz gemüthlich. Der See liegt wundervoll unter uns; je höher wir steigen, desto reizender wird der Blick auf die schneeigen Alpen. Jetzt fahren wir über eine schiefe, von zwei starken Eisenpfeilern getragene Brücke, über das sogenante Schnurtobel, eine schauerliche Schlucht, vom schäumenden Bergbache durchtost. Unwillkürlich kommt der Gedanke an die Möglichkeit, daß trotz aller Vorsicht ein Zahnrad oder eine Hemmkette brechen könnte. Aber es geht Alles gut von Statten. Nach einigen Minuten macht das Dampfroß Halt; es muß auf der Station Freiberg mit Wasser getränkt werden, damit es wieder neue Kraft zu seinem schweren Dienst gewinnt, und frisch und muthig setzt es seine Reise fort.

Die Rigibahn.

Plötzlich umzieht sich der Himmel mit dunklem Gewölke; dichter Nebel verhüllt unsern Blick. Der Donner rollt; der Sturmwind heult; der Regen strömt an den Wagen, dem die Seitenfenster mangeln. Drunten hatten wir eine drückende Hitze, hier oben wird es kühl und naß. Statt der Luftkur schien wieder eine Wasserkur zu beginnen. In Rigi-Kaltbad mußte ich auf die Seitenbahn nach Rigi-First umsteigen – bei solchem Wetter das Werk eines Augenblickes. Dort angekommen, wanderte ich zehn Minuten lang abwärts und war endlich in Rigi-Klösterli, dem Orte meiner Bestimmung angelangt. [86]

Klösterli liegt in einem Thalkessel, fast ganz von den Rigihöhen umschlossen. Gegen Winde geschützt, ist es zur Luftkur vorzüglich geeignet. Wohl mangelt die schöne Aussicht, allein in einer Stunde ist man in Rigi-Kulm, dessen prachtvolle Gasthöfe im Sonnenglanze blinken. Mit dem Zuge, der von Arth kommend, hier hält, ist es leicht auf den Gipfel zu gelangen und dort die weltbekannte Rundsicht und den wundervollsten Sonnenaufgang zu genießen. Der Name Klösterli rührt von dem kleinen Kapuzinerkloster her, das neben einer Kapelle, für die Alpensennen bestimmt, im Jahre 1689 gegründet wurde. In der Kapelle stellte man ein wunderthätiges Bild der heiligen Jungfrau auf, die hier als „Maria zum Schnee“ verehrt wird. Wallfahrten entstanden; der Rigi wurde bekannt; die herrliche Alpenluft zog Kurgäste an. Jetzt sind mehrere Gasthäuser zu ihrer Aufnahme bereit. Klösterli „Maria zum Schnee“ ist nicht bloß ein Wallfahrts-, sondern auch ein berühmter Kurort geworden.

Im Gasthofe „zum Schwert“ habe auch ich meine Unterkunft gefunden. Wohl sind seine Zimmer ein wenig klein und niedrig, sonst ist aber Alles zur Kur geeignet. Milch, Sahne und Butter in Hülle und Fülle lassen die Kraft der Alpenkräuter deutlich erkennen. Wenn auch der Tafelhonig nicht von den fleißigen Bienen stammt, was in den Schweizer Gasthöfen meistens der Fall ist, er mundet dennoch und wird gar nicht verachtet. Der rothe Veltliner trinkt sich ebenfalls vortrefflich. Aber der Hauptgenuß ist doch die Bewegung in der frischen Luft. Ein Spaziergang auf diesen Höhen, ein Wandeln in diesen Thälern, wo die Alpenrose blüht, die Bergtanne duftet und die Hirtenglocke tönt, ein Blick über die fernen, sonnenvoll glitzernden Felsenwände – alles das erhebt und belebt den Menschen, gibt ihm neuen Muth und neue Kraft. Neues Blut strömt in seinen Adern; er fühlt sich gehoben und verjüngt.

Schade war nur, daß diese Herrlichkeit sobald ein Ende hatte. Der blaue Himmel war bisweilen im weißgrauen Nebelgewande verhüllt. Die Temperatur und der Thermometer sank mit jedem Tage. Man wußte oft nicht recht, ob es regnete oder schneite. In solchen Zeiten war man im großen Saale des Gasthofes bestrebt, sich durch Gespräche, Musik, Gesang und Spiel zu ermuntern und zu erfreuen. Die gemüthlichen Schweizerinnen, der Berliner Kaufherr, der Wiener Student, der amerikanische Professor und der badische Geistliche wetteiferten, die Wolken zu verscheuchen, die die herbstliche Zeit auf die Stirnen der Einzelnen gelagert. Aber die Hoffnung auf dauernd gute Witterung sollte sich nicht erfüllen. Endlich lehrte die Vernunft, daß für dieses Jahr von einer Höhenkur nichts mehr zu erwarten, sondern daß es hohe Zeit sei, die Berge zu verlassen und sich zu sonnen an den warmen Ufern des Vierwaldstätter-Sees.

Die Abreise war festgesetzt. Wiederum erhob sich ein Sturm, wie man ihn nur auf den Alpen erleben kann. Doch es gab kein Bleiben mehr, es mußte geschieden sein. Zuerst ging’s hinauf nach Rigi-Staffel. Von Kulm her dampfte das Bergroß, dessen Wagen die Vielen barg, deren Hoffnung auf den Sonnenaufgang getäuscht worden. Man hatte Mühe von einem Zuge zum andern zu gelangen; man sah fast Nichts, so dicht war der Nebel; man hörte Nichts, als das Tosen des Windes und das Plätschern des Regens.

Langsam und sicher ging es abwärts. Je tiefer wir stiegen, desto heiterer wurde der Himmel, desto wärmer die Luft. In Vitznau lächelte freundlich die Sonne. Das Dampfschiff führte mich in kurzer Zeit nach Gersau, am nördlichen Ufer des Sees.

Ich war froh, ein ruhiges und warmes Plätzchen gefunden zu haben; aber trotz aller Lieblichkeit mußte ich doch in stillen Dämmerstunden der Erlebnisse auf den Alpen gedenken und wehmüthig mit dem Dichter sprechen:

Was mein Herz so tief empfunden
Und von dem es überwallt,
Alle Bilder sind verschwunden,
Alle Stimmen sind verhallt!

Ach! verjagt von Sturm und Flocken,
Stieg mein Fuß hinab in’s Thal:
Bergschalmeien, Hirtenglocken,
Seid gegrüßet tausendmal!


Wilhelm Ziebold.