Erweiterung
[35] Erweiterung
Herr Franz Servaes widmete meiner Ausstellung von Merz-Bildern im Sturm April 1920 folgende Besprechung:
„Will man sehen, was in Wahrheit expressionistische Massenerzeugung zu Wege bringt, so fasse man Mut und besuche jenen Salon in der Potsdamer Strasse, in dem sich wie in einem Konzentrationslager die Schar der Gläubigen zusammendrängt. Hier wird nicht mehr nach Persönlichkeit und Begabung, sondern nur nach der Religion gefragt. Wer den expressionistisch-futuristischen Katechismus brav auswendig gelernt hat und gläubig nachplappert, wird willkommen geheissen, gleichviel ob er Genie oder Schuster ist. Zur Zeit reisst einer der ärgsten Schuster dort sein Maul auf (den Namen erfrage man an Ort und Stelle). Aus irgend einem Grunde bezeichnet er seine Exkremente als Merzbilder. Er scheint Lumpensammler zu sein und hat, was er auf der Strasse aufgelesen hat, wie alte Drahtstücke, Kleiderfetzen, Watte oder Wergreste, weggeworfene Knöpfe oder Eisenteller, ja selbst Strassenbahnfahrscheine und Postvermerke sinnig zusammengetragen und auf Bretter oder Pappe geklebt, die er dann irgendwie mit Farbe angestrichen hat. „Franz Müllers Drahtfrühling“, „Porträt einer alten Dame“, „Tastende Dreiecke“, „Rot-Herz-Kirche“, und ähnlich werden dann diese Stumpfsimpeleien etikettiert und als allerneuste Kunst zu Markte gebracht. „Verrücktheiten“? O nein. Klarbewusster Unfug, der leider sowohl „Liebeserklärungen“ wie -Käufer findet!“
Ich lernte Herrn Servaes zufällig kennen und habe ihm jetzt folgende Antwort geschrieben:
Ein Interwju (sprich Ausfragung.) mit Professor Franz Servaes
In einer Ausstellung von Kunstwerken zeigte [36] mir jemand Herrn Servaes. (Zelluloidkapsel mit Messer entfernen!) „Das ist also der Herr“, fragte ich, „der mich einen der ärgsten Schuster und meine Merzbilder Exkremente nennt?“ (Die geniale Erfindung, langersehnter Wunsch der Damen. Franz Müllers Korsetterweiterer „Einfalt“. Weltneuheit!) „Jawohl, der Lokalschuster, der im Berliner Lokalanzeiger vom 27. 4. sein Lokalmaul aufreisst (die falschen Zähne erfrage man an Ort und Stelle. Sperrsitz) und seine Stumpfsimpeleien mit der Bezeichnung Expressionistenparade etikettiert.“
„Hier wird nicht mehr nach Persönlichkeit und Begabung, sondern nur nach Religion gefragt“. (Im lokalen Maul nämlich.) Die lokalen Zähne (Lokalzähne, Sperrsitz) bilden einen gewissen Lokalsperrsitz, nämlich, und zwar falsche Zähne, Sperrzähne natürlich, (Damen- und Herrenfriseur.) Hier werden Künstler frisiert, hier werden Künstler mit Lokalzahnersatz durchgekaut. (Franz Müllers Erweiterer „Einfalt“ wiegt nicht mehr als die durch sein Anbringen entbehrlich gewordenen Fischbeinstangen und ist genau so biegsam und schmiegsam.) Ich bitte Sie, Herr Servaes, kauen Sie meinen Müll (Mülle) recht gründlich durch, und ich wünsche Ihnen guten Appetit dabei. (Vorwärts den Blick, aufwärts durch Arbeit, einig, was deutsch fühlt.) Ich fasste Mut, zeigte Herrn Servaes meine Schuhsohlen und stellte mich vor mit den Worten: „Ich bin der ärgste Schuster, dem Sie jetzt das Maul aufreissen.“ Der Herr Professor war gefasst, fasste meine Schuhsohlen ins Auge und fasste seine Gefühle zusammen in den Satz: „Mein Herr, Sie machen übrigens einen viel sympatischeren Eindruck als Ihre Bilder.“ (Hautana Lendenschutz, direkt unter der Haut zu tragen.) „Herr Servaes“, sagte ich höflich, auch Sie machen einen viel sympatischeren Eindruck als Ihre Kritiken.“ (Zelluloidkapseln mit Messer entfernen!) „Mich interessiert aber im Augenblick mehr: wie kommen Sie zu der hellseherischen Fähigkeit, meinen Bildern anzusehen, dass ich schustern kann? Sie sehen nämlich garnicht so aus.“ Tatsächlich hätte ich nicht gewusst, dass dieser Herr Herr Professor Franz Servaes ist. Ich hätte diesem Manne nicht zugetraut, dass er hinter die Oberfläche der Dinge zu schauen vermöchte. (Jetzt weiss ich, welches Buch ich meiner heranwachsenden Tochter schenken soll.) (Holz bleibt Holz, und nichts ist gemütlicher als das deutsche Gemüt.) Ich bin nämlich tatsächlich Schuster im eigenen Betriebe. An dieser Stelle wurde Herr Servaes weich und sagte, er wollte gern lernen und er benutzte die Gelegenheit, mich um einige Aufklärung zu bitten. (Holz bleibt Holz und nichts ist gemütlicher, als das deutsche Gemüt.) Ich bin ein Freund der beweglichen Front, (endlich ist es gelungen, den Wunsch der Damen zu erfüllen und dieselben von den bisher durch das eingeschnürte Korsett entstandenen Beschwerden und Qualen zu erlösen), aber ich bin mir dessen wohl bewusst, wie komisch die Figur eines Kritikers ist, der seinen Schuster um Auskunft fragt, weil er gern lernen möchte. (Zelluloidkapseln mit Messer entfernen!) Ich führte dann mit einigen treffenden Worten Herrn Servaes in die Kunst ein und empfahl ihm zum Schustern Franz Müllers echten Guanokleister, („Bitte belehren Sie mich, wieviel mm Materialauftrag das preussische Gesetzbuch erlaubt?“) empfahl ihm Hosenstoff (auf Veranlassung von Otto Nebel) zum Kleben, damit die Löcher nach innen kommen, und endete meinen Vortrag mit dem herrlichen Dichterwort: „Der Gott, der schiefe Schafe schuf, der kannte keine Künste.“ An dieser Stelle bäumte sich der Gaul, die Gaul, das Gaul. Da liegt nun der Baum, die Baum, das Baum. Der Baum ist wurzelkrank, ästekrank, blätterkrank. Der Sturm hat ihn angeweht, schiefgeweht, umgeweht. (Es ist bekannt, dass Damen, um die Figur zu verschönen, ein Korsett tragen.) Wie trostlos ist der Anblick eines umgeworfenen Baumes, dem der Schlachter die Zweige abgebissen hat. (Heut noch trag ich Mädchenschuhe, morgen ruhn sie in der Truhe.) Herr Professor Servaes, ich wollte, Sie hiessen Bogumil, dann würde ich Mülle weinen. (Bei Mahlzeiten, Spaziergängen, Tanzen, sowie durch Wärme wird das Korsett lästig und verursacht den Damen unerträgliche Beschwerden.) Jedoch gestatten Sie mir, dafür zu sorgen, dass die Früchte meiner Anregungen niemals auf Ihren guten Boden fallen. (Confer Nebel, damit die Löcher nach innen kommen.) Holz bleibt Holz, und die Zelluloidkapsel ist vor dem Gebrauch zu entfernen. (Die Trägerin des Korsetts würde sich in diesem Falle glücklich schätzen, wenn sie unauffällig [37] das Korsett 3–4 cm im Umfange, auch mehr, erweitern könnte.) Verzeihen Sie mir, dass ich ein wenig einfallend geworden bin. Ich habe nämlich die Augeneinfältigkeit, die Splitter im Auge des anderen aus Prinzip stets gern zu sehen, meine eigenen Balken aber sehe ich niemals. Dadurch unterscheide ich mir von Sie und mich von Ihnen. Ausserdem wünsche ich Ihnen weiter angenehme Bettruhe. (Diesem Uebelstande ist mit einem Schlage durch Franz Müller Korsetterweiterer „Einfalt“ abgeholfen. D. R. G. Müller.)