Für Mütter (Die Gartenlaube 1876/42)
[713] Für Mütter. Auf dem kürzlich in Dresden von Leitern der Blindenanstalten abgehaltenen zweiten Congreß ergab sich bei Besprechung der Augenentzündung der Neugeborenen das traurige Resultat, daß nach Erfahrungen der letzten zehn Jahre von je hundert den Anstalten Deutschlands und Oesterreichs zugeführten Kranken dreißig bis dreiunddreißig durch diese Entzündung ihr Augenlicht verloren hatten. Ein um so bedauernswertheres Ergebniß, als gerade bei dieser Erkrankung der Wissenschaft sichere Mittel zur Heilung und Milderung des sonst beinahe immer ungünstigen Verlaufes zu Gebote stehen, sobald zeitig genug der verderbliche Feind bekämpft wird. Solches kann auf die leichteste Art geschehen, denn der ganze Entzündungsvorgang spielt sich so unbemittelbar vor den Augen der Eltern ab, daß ihnen schon in den ersten Tagen der veränderte Zustand ihres Neugeborenen auffallen muß. Besteht die Entstehungsursache wie gewöhnlich in dem Eindringen von eitrigen Stoffen in das Auge während der Geburt, so kommt die Entzündung am dritten bis siebenten Tage zum Ausbruch; doch können noch in den nächsten drei Wochen, weil gerade in dieser Zeit das Auge durch seine sich vollendende Ausbildung einen großen Blutgehalt besitzt, mannigfache andere Reize, vor Allem nicht gehörige Sauberkeit von Seiten der Mutter die Gefahr heraufbeschwören. Der erste Beginn entgeht in der Mehrzahl der Fälle leider der Beachtung. Das Kind wird lichtscheuer als in den ersten Tagen. Es öffnet nur ungern die Augen, schließt dieselben sofort wieder, blinzelt rascher als vorher. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß die Augenlider, vorzüglich des rechten Auges, gerötheter sind und sich an dem oberen Lide bereits eine geringe Anschwellung bemerkbar macht; fast immer tritt jetzt eine vermehrte Thränenabsonderung hinzu. Die Structur des äußeren Auges ist wohl keinem unserer Leser unbekannt. Der schwarze Kreis im Inneren ist die Pupille, durch welche die Lichtstrahlen auf die dahinter liegende Linse fallen; um die Pupille zieht sich die bei den verschiedenen Menschen auf das Mannigfachste gefärbte Regenbogenhaut. Hierauf folgt unmittelbar der bläulich-weiße Augapfel. Die Regenbogenhaut und Pupille werden wie von einer Glasglocke durch die glashelle Hornhaut überwölbt. Ueber die Hornhaut, den sichtbaren Theil des Augapfels und die innere Fläche der Augenlider zieht sich ein dünnes, durchsichtiges Häutchen, die Bindehaut, in welcher hauptsächlich unsere Entzündung zu Tage tritt. Zieht man die Augenlider auseinander und das untere Lid z. B. so weit nach unten, daß die innere Schleimhaut und das Weiße des Auges zum Vorschein kommt, so ist anfänglich nur die intensivere Röthung und geringe Schwellung auffallend; höchstens verlaufen sich einige ausgedehnte Blutgefäße als rothe Streifen über den weißen Augapfel nach der Hornhaut. Diese geringen Anzeichen sollten im Anschluß an die schon genannten Symptome keiner Wärterin und Hebamme entgehen, denn schnell folgt die Weiterentwickelung des Processes.
An die vermehrte Thränenabsonderung schließt sich nunmehr eine gesteigerte Schleimausscheidung an; nicht nur zwischen den Augenlidern, sondern auch auf der Hornhaut sammeln sich überall schleimige Flocken und verleihen dem Auge ein verschleiertes, fast gebrochenes Ansehen. Die sonst so dünne Bindehaut über dem Augapfel beginnt immer mehr zu schwellen; erst umgiebt sie als gerötheter Wall die Regenbogen- und Hornhaut; zuletzt kann sie sogar als rother Wulst aus der Lidspalte hervorragen. Parallel mit dieser Anschwellung geht eine überaus reichliche eitrige oder eitrig blutige Absonderung, so daß fast fortdauernd röthliche oder gelbweiße Flüssigkeit dem armen Kleinen über die Backen herabrinnt. Jetzt erst beginnt durch Betheiligung der glashellen Hornhaut die Gefahr für später. Die Hornhaut trübt sich, neugebildete kleinste Blutgefäße tauchen in ihr auf, die ganzen Zellen werden durchfeuchtet und lösen sich sogar lamellenweise ab. Es entstehen so entweder Geschwüre, welche zuletzt zur Durchlöcherung des Häutchens führen und die dahinterliegenden Gebilde durchtreten lassen, oder die Hornhaut bleibt erhalten, verliert aber nach Ablauf der Entzündung ihre Durchsichtigkeit; eine weiße glänzende Narbe kommt zum Vorschein, durch welche kein Licht hindurchzudringen vermag. Aber auch auf das Allgemeinbefinden muß dieser Zustand bald schädlich einwirken. Die starke eiterige Absonderung, der Schmerz etc. rufen Fieber, allgemeine Unruhe, Appetitlosigkeit hervor, so daß gerade in den Tagen, in welchen der wachsende Körper der Nahrungszufuhr mit am meisten bedarf, er dieselbe nicht nur in ungenügender Menge erhält, sondern sogar noch durch das Fieber und die Entzündung zu einem erhöhten Stoffumsatz veranlaßt wird – Folgeerscheinungen, welche auf die spätere Entwickelung sicherlich ihren nachtheiligen Einfluß ausüben müssen. Glücklicherweise ist es in die Hand der Eltern gelegt, diesen traurigen Ausgang zu vermeiden, wenn sie selbst energisch eingreifen und zeitig genug ärztliche Hülfe in Anspruch nehmen. Die Verhütung der ganzen Entzündung ist Grundbedingung.
Sobald der kleine Weltbürger genügend zur Besinnung gekommen ist, betrachte man mit Aufmerksamkeit seine Augen, reinige dieselben erst geschlossen und streiche darauf über die Lidränder weg. Dieses geschehe nie, auch später nicht, durch das gewöhnliche Badewasser, sondern man benutze stets ein weißes leinenes Läppchen, eingetaucht in reines abgesondertes laues Wasser. Der Kopf des Kindes blicke im Bettchen nicht gegen das Fenster; den Korb überspanne man in dem oberen Drittel durch ein auf Reifen oder Rohr gelegtes Stück dunkles Zeug. Dabei herrsche die gewissenhafteste Reinlichkeit, und ohne Nachtheil kann das Zimmer, wenn kein Gegenzug vorhanden, täglich gelüftet werden. Auf das Genaueste aber beachte man in den ersten drei Wochen die Augen, um sofort, wenn außergewöhnliche Symptome sich zeigen, einzugreifen. Gegen den Anfang der Entzündung, welcher, wie schon gesagt, in Lichtscheu, vermehrter Thränenabsonderung, stärkerer Röthung und geringer Schwellung der Augenlider besteht, kann nur ein Mittel mit Erfolg angewendet werden, die Kälte. Man lege Leinwandstückchen mehrfach zusammen, sodaß sie ungefähr vier Centimeter im Quadrat bilden, kühle sie durch und durch auf Eis und bedecke damit die erkrankten Augen! Andere Läppchen schiebe man unterdessen zwischen die Eisstückchen, denn schon nach einigen Minuten muß der Wechsel vorgenommen werden, da ein längeres Liegenlassen die Zeugstückchen erwärmt und die Wärme hier das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung hervorbringt. Ein warmer Umschlag befördert die Eiterung und wirkt daher als Gift bei dieser Entzündung. Es ist auch besser, von Zeit zu Zeit zu pausiren, um dann desto energischer die Eisumschläge zu erneuern.
Die Augen wasche man fleißig nach der obigen Methode aus und entferne den Schleim durch Auspinseln mittelst eines feinen in laues Wasser getauchten neuen Haarpinsels. Diese Schleim- und später Eiterabsonderung vermag eben äußerst leicht die Entzündung weiter zu übertragen, entweder, wenn nur ein Auge anfänglich erkrankt, auf das zweite, oder sogar auf andere unvorsichtig mit dem kleinen Patienten in Berührung kommende Kinder. Man verbanne daher Letztere gänzlich aus dem Krankenzimmer und reinige fortdauernd genau die zum Auswaschen gebrauchten Utensilien. Die im Anschluß an die Krankheit oft eintretende Verstopfung beseitige man durch Seifenzäpfchen oder Lauwasserklystiere. Kommt die Entzündung hierdurch nicht zum Stillstande, so ist sofortige ärztliche Hülfe in Anspruch zu nehmen, bis dahin aber befolge man das beschriebene Verfahren. Die im Eingange citirte ungünstige Statistik macht es aber vor Allem mehr als wünschenswerth, daß die Hebammen, welche sich in ihrem Selbstbewußtsein nie dazu entschließen können, einen Arzt rechtzeitig herbeizurufen, obwohl sie sofort von der Größe der Gefahr unterrichtet sind, gesetzlich zur Anzeige verpflichtet werden, wie es bei vielen ihrer Verrichtungen der Fall ist. Die segensreiche Wirkung dieser Verordnung würde binnen Kurzem zu Tage treten und mancher Unglückliche, welcher sonst erblindet sein freudenloses Dasein dahinschleppt, könnte der menschlichen Gesellschaft als thätiges Mitglied erhalten bleiben.